Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 412/2017
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

[displayimage]       
9C_412/2017            

 
 
 
Urteil vom 5. Oktober 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle Bern, 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
 A.________, 
Chanderbrügg 3, 3645 Gwatt (Thun), 
vertreten durch Fürsprecher Franz Müller, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 3. Mai 2017 (200 16 1011 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Der 1959 geborene A.________ meldete sich im August 2010 unter Hinweis auf
Knieprobleme bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach einer
arbeitsmarktlich-medizinischen Abklärung vom 24. September bis 19. Oktober 2012
ersuchte er am 7. Januar 2013 um Zusprechung von Arbeitsvermittlung, welche ihm
in Form von Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche gewährt wurde.  
 
Mit Verfügung vom 23. Januar 2013 verneinte die IV-Stelle Bern einen
Rentenanspruch. 
 
A.b. Am 16. Mai 2013 verletzte sich A.________ am rechten Handgelenk. Wegen
Pangonarthrose liess er sich am 17. April 2014 am Knie links operieren und
endoprothetisch versorgen. Vom 17. Mai bis 18. Juni 2015 musste er wegen einer
septischen Arthritis am linken Knie stationär behandelt werden.  
 
Mit Verfügung vom 22. September 2016 sprach ihm die IV-Stelle Bern für Juli
2013 eine Viertelsrente, vom 1. August 2013 bis 31. März 2015 eine ganze Rente,
vom 1. April bis 31. Juli 2015 eine Viertelsrente, vom 1. August 2015 bis 31.
März 2016 eine ganze Rente sowie ab    1. April 2016 eine unbefristete
Viertelsrente zu. 
 
B.   
Am 21. Oktober 2016 reichte A.________ beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern
Beschwerde ein und beantragte zur Hauptsache, die Verfügung vom 22. September
2016 sei aufzuheben und es sei ihm ab 1. Juli 2013 durchwegs eine volle
(richtig: ganze) Invalidenrente zuzusprechen. 
 
In ihrer Vernehmlassung (Eingaben vom 23. November 2016 und 13. Januar 2017)
ersuchte die IV-Stelle darum, es sei dem Beschwerdeführer unter Androhung einer
Reformatio in peius die Gelegenheit zu geben, seine Beschwerde zurückzuziehen.
Bei Festhalten sei die Beschwerde abzuweisen und die Verfügung vom 22.
September 2016 aufzuheben, soweit darin ein Rentenanspruch vor Mai 2014 bejaht
werde. 
Im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels hielten die Parteien an ihren Begehren
fest. 
 
Mit Entscheid vom 3. Mai 2017 wies die Sozialversicherungsrechtliche Abteilung
des bernischen Verwaltungsgerichts die Beschwerde ab. 
 
C.   
Die IV-Stelle Bern führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit dem hauptsächlichen Rechtsbegehren, der Entscheid des kantonalen
Verwaltungsgerichts vom 3. Mai 2017 sei aufzuheben und die Sache an dieses
zurückzuweisen, damit es dem Versicherten die Gelegenheit gebe, die Beschwerde
gegen die Verfügung vom 22. September 2016 zurückzuziehen. 
 
A.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten
sei. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
 
1.1. Die Beschwerde führende IV-Stelle beantragt die Rückweisung der Sache zur
Durchführung des Verfahrens nach Art. 61 lit. d ATSG. Aus der Begründung ergibt
sich, dass sie, anders als verfügt, einen Rentenanspruch für die Zeit vom 1.
Juli 2013 bis 30. April 2014 verneint, da die Anspruchsvoraussetzung nach Art.
28 Abs. 1 lit. b IVG erst im Mai 2014 erfüllt gewesen sei, in welchem Sinne sie
sich schon in der vorinstanzlichen Vernehmlassung geäussert hatte. Somit liegt
ein zulässiges Rechtsbegehren vor (vgl. BGE 138 V 339 E. 2 S. 340; 136 V 131 E.
1.2 S. 135 [Interpretation eines Rückweisungsantrags als reformatorisches
Begehren]).  
 
1.2. Gemessen an ihren Anträgen im kantonalen Verfahren gilt die IV-Stelle als
unterliegende Partei, soweit die Vorinstanz einen Rentenanspruch auch für die
Monate Juli 2013 bis und mit April 2014 bejaht hat. Sie ist daher zur
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten berechtigt (Art. 89 Abs. 2
lit. d BGG; BGE 138 V 339 E. 2.3    S. 341 ff.). Daran ändert nichts, dass der
Beschwerdegegner gegebenenfalls die vorinstanzliche Beschwerde zurückziehen
würde, "um sich nicht doch noch der drohenden reformatio in peius auszusetzen",
sodass sich die von der IV-Stelle angestrebte Schlechterstellung
"realistischerweise nicht mehr durchsetzen" lasse, wie er vernehmlassungsweise
vorbringt. Dabei verkennt er, dass allenfalls eine Änderung der
(rechtskräftigen) Verfügung vom 22. September 2016 im Rahmen einer
Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG in Betracht fällt (BGE 138 V 339 E. 6
in fine S. 344).  
 
1.3. Die (abgestufte unbefristete) Rente ab 1. Mai 2014 steht ausser Diskussion
(Art. 107 Abs. 1 BGG).  
 
2.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von
Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). 
 
3.  
 
3.1. Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die u.a. während eines Jahres
ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig (
Art. 6 ATSG) gewesen sind; und nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 %
invalid (Art. 8 ATSG) sind (Art. 28 Abs. 1 lit. b und c IVG). Der
Rentenanspruch entsteht frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach
Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach Art. 29 Absatz 1 ATSG, jedoch
frühestens im Monat, der auf die Vollendung des 18. Altersjahres folgt (Art. 29
Abs. 1 IVG).  
 
Die Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG ist eine materielle
Anspruchsvoraussetzung für die Rentenberechtigung, diejenige nach Art. 29 Abs.
1 IVG (zum Normzweck BGE 140 V 2 E. 5.3 S. 7) ist eine solche
verfahrensmässiger Natur (formelle Karenzfrist; BGE 142 V 547 E. 3.2 S. 550). 
 
3.2. Wurde die Rente nach Verminderung des Invaliditätsgrades aufgehoben,
erreicht dieser jedoch in den folgenden drei Jahren wegen einer auf dasselbe
Leiden zurückzuführenden Arbeitsunfähigkeit erneut ein rentenbegründendes
Ausmass, so werden bei der Berechnung der Wartezeit nach Artikel 28 Absatz 1
Buchstabe b IVG früher zurückgelegte Zeiten angerechnet (Art. 29bis IVV).  
 
3.2.1. Sinn und Zweck von Art. 29bis IVV ist, den Rentenanspruch eines
Versicherten, der zwischenzeitlich ein rentenausschliessendes Erwerbseinkommen
erzielen konnte, wiederaufleben zu lassen, wenn sich innert dreier Jahre auf
Grund des selben Leidens wieder eine höhere Arbeitsunfähigkeit ergibt (BGE 117
V 23 E. 3b S. 26; Urteil 8C_25/2010 vom 21. Mai 2010 E. 4.1.1; Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts I 11/00 vom 22. August 2001 E. 3c-d, in: SVR 2002 IV Nr.
8 S. 19).  
 
3.2.2. In BGE 142 V 547 E. 3.1 S. 550 hat das Bundesgericht unter Hinweis auf
das Urteil 9C_942/2015 vom 18. Februar 2016 E. 3.3.3 erkannt, dass Art. 29bis
IVV nicht anwendbar ist, wenn nach Ablauf der Wartezeit kein rentenbegründender
Invaliditätsgrad vorlag. Diesfalls ist die nachfolgende gesundheitliche
Verschlechterung als neuer Versicherungsfall zu betrachten mit der Folge, dass
die Wartezeit erneut zu bestehen ist. Im Urteil 9C_942/2015 vom 18. Februar
2016 E. 3.3.3 stand die Wartezeit nach Art. 29 Abs. 1 IVG im Fokus, wie der
Beschwerdegegner in seiner Vernehmlassung festhält.  
 
4.   
 
4.1. Die Vorinstanz hat erwogen, der Versicherte sei seit dem 24. April 2011
wegen Knie- und Rückenbeschwerden in der angestammten (zuletzt ausgeübten)
Tätigkeit als Küchen-Office-Mitarbeiter ununterbrochen zu 50 % arbeitsunfähig
gewesen. Die Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG sei somit seit langem
bestanden gewesen, als er sich am 16. Mai 2013 am rechten Handgelenk verletzte
und in der Folge vollständig arbeitsunfähig war, sie habe daher in diesem
Zeitpunkt nicht erneut zu laufen begonnen, wie die IV-Stelle annehme. Aufgrund
der neuen Anmeldung vom 17. (richtig: 7.) Januar 2013 seit somit der
Rentenanspruch im Juli 2013 entstanden (Art. 29 Abs. 1 IVG).  
 
4.2. Nach Auffassung der IV-Stelle verletzt diese Sichtweise Bundesrecht (),
was sie folgt begründet: Mit rechtskräftiger Verfügung vom 23. Januar 2013 sei
ein Rentenanspruch verneint worden. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz komme 
Art. 29bis IVV gestützt auf die Rechtsprechung gemäss BGE 142 V 547 E. 3.1 S.
550 und Urteil 9C_942/2015 vom 18. Februar 2016 E. 3.3.3 gerade nicht zum Zuge.
Die gesundheitliche Verschlechterung im Mai 2013 mit Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit stelle somit einen neuen Versicherungsfall dar mit der Folge,
dass die Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG erneut zu bestehen war und
frühestens im Mai 2014 endete.  
 
4.3. Das Gesetz macht keine Vorgaben betreffend den Beginn oder das Ende der
Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG. Es genügt eine Arbeitsunfähigkeit von
durchschnittlich mindestens 40 % ohne wesentlichen Unterbruch  während eines
Jahres. Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall am 23. April 2012 und
aufgrund der andauernden Arbeitsunfähigkeit von 50 % im zuletzt ausgeübten
Beruf in jedem späteren Zeitpunkt, auch nach der rentenablehnenden Verfügung
vom 23. Januar 2013, gegeben. Die Verneinung eines Rentenanspruchs aufgrund
eines Invaliditätsgrades von (deutlich) weniger als 40 %   (Art. 28 Abs. 2 IVG)
ist lediglich insofern von Bedeutung, als bis dahin die Anspruchsvoraussetzung
nach Art. 28 Abs. 1 lit. c IVG nicht erfüllt war und in Bezug auf eine
Neuanmeldung aus wie hier anderen Gründen als denjenigen, welche zur
Arbeitsunfähigkeit von 50 % im bisherigen Beruf führten, Art. 29 Abs. 1 IVG
galt (vgl. BGE 140 V 2 a fortiori).  
 
Im Zeitpunkt der Verschlechterung des Gesundheitszustandes im Mai 2013 war
somit das Wartezeiterfordernis nach Art. 28 Abs. 1 lit b IVG erfüllt. Aufgrund
nunmehr vollständiger Arbeitsunfähigkeit auch in Tätigkeiten in einem anderen
Beruf (Art. 6 Satz 2 ATSG) bestand ein Invaliditätsgrad von 100 %, sodass auch
die Anspruchsvoraussetzung nach Art. 28 Abs. 1 lit. c IVG gegeben war. Die
Entstehung des Rentenanspruchs im Juli 2013 und der Rentenbeginn am 1. Juli
2013 (Art. 29 Abs. 1 und 3 IVG) sind unbestritten. Die Beschwerde ist somit
unbegründet. 
 
5.   
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art.
68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 5. Oktober 2017 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler 

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben