Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 411/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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9C_411/2017            

 
 
 
Urteil vom 4. Oktober 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Sebastian Koziol, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 4. Mai 2017 (200 16 496 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1961 geborene A.________ ersuchte im Juli 2008 wegen Krankheit um
Leistungen der Invalidenversicherung. Die IV-Stelle Bern ermittelte einen
Invaliditätsgrad von 23 % und verneinte mit Verfügung vom 17. Februar 2010
einen Anspruch auf eine Invalidenrente. Im Mai 2015 meldete sich A.________
unter Hinweis auf unter anderem Augenbeschwerden erneut zum Leistungsbezug an.
Nach Abklärungen - insbesondere Einholung der Gutachten (mit interdisziplinärer
Einschätzung) der Dres. med. B.________ und C.________ vom 2. Februar 2016 -
und Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit
Verfügung vom 25. April 2016 wiederum einen Rentenanspruch (Invaliditätsgrad 15
%). 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 4. Mai 2017 ab, soweit es darauf eintrat. 
 
C.   
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 4. Mai 2017 und der Verfügung
vom 25. April 2016 sei ihr mindestens eine Viertelsrente zuzusprechen;
eventualiter sei die Sache zu weiterer Abklärung und neuer Verfügung an die
IV-Stelle zurückzuweisen. 
Die IV-Stelle schliesst unter Verweis auf den angefochtenen Entscheid auf
Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf
eine Vernehmlassung. A.________ lässt eine weitere Eingabe samt medizinischen
Berichten einreichen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Nachdem keine materielle Stellungnahme zur Beschwerde erfolgt ist, ist auf
die nachträglichen Vorbringen der Versicherten nicht einzugehen (vgl. Art. 100
Abs. 1 BGG). Die neu eingereichten medizinischen Unterlagen sind als echte
Noven von vornherein unzulässig (BGE 143 V 19 E. 1.2 S. 23 f.; 140 V 543 E.
3.2.2.2 S. 548; 139 III 120 E. 3.1.2 S. 123).  
 
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und
wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein
kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.   
Die Vorinstanz hat den Gutachten der Dres. med. B.________ und C.________
(Fachärzte für allgemeine Innere Medizin und Rheumatologie resp. für
Psychiatrie und Psychotherapie) vom 2. Februar 2016 Beweiskraft beigemessen und
darauf gestützt eine um 15 % eingeschränkte Arbeitsfähigkeit festgestellt. Weil
sie bei der Invaliditätsbemessung (Art. 28a Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 16 ATSG) den
beiden Vergleichseinkommen den gleichen Tabellenlohn zugrunde legte, ermittelte
sie einen Invaliditätsgrad von 15 %. Folglich (Art. 28 Abs. 2 IVG) verneinte
sie einen Rentenanspruch. 
 
3.   
 
3.1. Bei der Beurteilung der Arbeits (un) fähigkeit stützt sich die Verwaltung
und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen, die von ärztlichen und
gegebenenfalls auch anderen Fachleuten zur Verfügung zu stellen sind. Ärztliche
Aufgabe ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu
nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte
Person arbeitsunfähig ist. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes
ist entscheidend, ob dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf
allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden
berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in
der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen
Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind
(BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis). Eine
begutachtende medizinische Fachperson muss über die notwendigen fachlichen
Qualifikationen verfügen (SVR 2013 BVG Nr. 40 S. 174, 9C_592/2012 E. 1.2.2;
Urteile 8C_309/2016 vom 14. Dezember 2016 E. 4.4; 8C_451/2016 vom 17. Oktober
2016 E. 4.3).  
 
3.2. Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um
Entscheidungen über eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.), welche das
Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat (E. 1.2). Die
konkrete Beweiswürdigung stellt ebenfalls eine Tatfrage dar. Dagegen ist die
Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln
Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil I 865/06 vom 12.
Oktober 2007 E. 4 mit Hinweisen), die das Bundesgericht im Rahmen der den
Parteien obliegenden Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG und Art.
106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei überprüfen kann
(Art. 106 Abs. 1 BGG).  
 
3.3. Es steht fest, dass die Versicherte seit 2012 an einem systemischen Lupus
erythemathodes und in diesem Zusammenhang an Augenbeschwerden leidet. Die
Beschwerdeführerin stellt die Beweiskraft der Gutachten der Dres. med.
B.________ und C.________ und die darauf beruhende vorinstanzliche Feststellung
betreffend die Arbeitsfähigkeit in Abrede. Sie macht nicht (substanziiert)
geltend, unter rheumatologischen oder psychischen Gesichtspunkten erheblich
(vgl. Art. 28 Abs. 2 IVG) in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt zu sein. Auf
die Vorbringen betreffend ihr persönliches Umfeld, die Einschränkung in der
Fortbewegung und Aggravation ist daher nicht weiter einzugehen. Näher zu
betrachten ist indessen die Rüge, die Experten und das kantonale Gericht hätten
der Augenproblematik ungenügend Rechnung getragen, und eine
psychiatrisch-rheumatologische Begutachtung sei keine genügende Grundlage für
die Einschätzung der ophthalmologischen Aspekte.  
 
3.4.  
 
3.4.1. Dr. med. B.________ berücksichtigte den Bericht der Klinik für
Augenheilkunde des Spitals D.________ (nachfolgend: Augenklinik) vom 27. August
2015 insofern, als er - bei der Diagnose einer chronischen Keratokonjunktivitis
sicca - die Notwendigkeit von Pausen für die regelmässige Applikation von
Augentropfen resp. -salben anerkannte. Die Dres. med. B.________ und C.________
attestierten in ihrer "interdisziplinären Beurteilung" aufgrund der
Augenbeschwerden eine um "10-20 %" eingeschränkte Arbeitsfähigkeit. Sie wiesen
aber selber darauf hin, dass eine in grösserem Ausmass geltend gemachte
Arbeitsunfähigkeit "ophthalmologisch-fachärztlich" begründet werden müsste.
Damit anerkannten sie selber die Grenzen ihrer fachlichen Qualifikation (vgl.
E. 2) und die Möglichkeit, dass die Leistungsfähigkeit über die für die
Behandlung notwendige Zeit hinaus eingeschränkt sein könnte.  
 
Auch wenn die Berichte der Augenklinik vom 11. Mai, 27. August, 1. September
2015 und 10. März 2016 keine Einschätzung der Arbeitsfähigkeit enthalten, wurde
darin jeweils ein erheblicher Leidensdruck ausgewiesen. Im - während des
vorinstanzlichen Verfahrens eingereichten - Bericht der Augenklinik vom 20.
September 2016 wurde festgehalten, dass die Versicherte "im vergangenen Jahr
arbeitsunfähig" gewesen und aus ophthalmologischer Sicht eine Einschränkung von
25 bis maximal 50 % "vertretbar" sei, wobei zur genaueren Beurteilung ein
Arbeitsversuch sinnvoll sei. Die diesbezüglich einzige vorinstanzliche
Feststellung, wonach der Bericht einen nach Erlass der angefochtenen Verfügung
eingetretenen Sachverhalt betreffe, ist aktenwidrig und somit nicht haltbar (E.
1.2). 
 
3.4.2. Unter diesen Umständen durfte in ophthalmologischer Hinsicht nicht auf
die Einschätzungen der Dres. med. B.________ und C.________ abgestellt werden
(vgl. E. 3.1). Daran ändert nichts, dass ein Arzt der Augenklinik die
Versicherte anlässlich einer Konsultation an das Regionale
Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) verwies; daraus lässt sich lediglich ableiten,
dass er eine zumindest teilweise Arbeitsfähigkeit bejahte. Ohne Belang ist
auch, dass Frau med. pract. E.________ als Fachärztin für Physikalische Medizin
und Rehabilitation des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) keine Einwendungen
gegen die Gutachten der Dres. med. B.________ und C.________ vorbrachte.  
 
3.5. Nach dem Gesagten ist die vorinstanzliche Feststellung betreffend die
Arbeitsfähigkeit mangels einer genügenden medizinischen Grundlage nicht
verbindlich (E. 1.2). Die Beschwerde ist insoweit begründet, als die Verwaltung
weitere Abklärungen zu treffen und erneut über den Rentenanspruch zu befinden
haben wird.  
 
4.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Kosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 4. Mai 2017 und die Verfügung der
IV-Stelle Bern vom 25. April 2016 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer
Verfügung an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde
abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 4. Oktober 2017 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann 

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