Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 406/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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9C_406/2017, 9C_407/2017          

 
 
 
Urteil vom 9. Oktober 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
9C_406/2017 
Kanton Basel-Landschaft, Finanz- und Kirchendirektion, 
Rheinstrasse 33b, 4410 Liestal, 
vertreten durch Advokat Dr. Dieter Völlmin 
und Advokat Dr. Nicola Moser, 
Beschwerdeführer, 
 
und 
 
9C_407/2017 
Ausgleichskasse Basel-Landschaft, 
Hauptstrasse 109, 4102 Binningen, 
vertreten durch Advokat Dr. Dieter Völlmin 
und Advokat Dr. Nicola Moser, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Stadt Laufen, 
Stadtverwaltung, 
Vorstadtplatz 2, 4242 Laufen, 
Beschwerdegegnerin. 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerden gegen den Entscheid 
des Kantonsgerichts Basel-Landschaft 
vom 19. Januar 2017 (710 16 364 / 25). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Mit Verfügung vom 7. September 2016 stellte die Ausgleichskasse
Basel-Landschaft der Stadt Laufen AHV/IV/EO-Mindestbeiträge in der Höhe von
insgesamt Fr. 1'440.-, die sie drei versicherten Personen erlassen hatte, in
Rechnung. Auf Einsprache der Stadt Laufen hin hielt die Ausgleichskasse mit
Entscheid vom 27. September 2016 an ihrem Standpunkt fest. Aufgrund des
kantonalen Rechts sei die Gemeinde zur Zahlung der erlassenen Mindestbeiträge
verpflichtet. 
 
B.   
Die Stadt Laufen führte Beschwerde mit den Rechtsbegehren, der
Einspracheentscheid und die Verfügung vom 7. September 2016 seien aufzuheben;
eventuell sei der Kostenbeitrag der Gemeinde auf 50 %, entsprechend Fr. 720.-,
festzulegen. Das Kantonsgericht Basel-Landschaft hob den Einspracheentscheid
vom 27. September 2016 sowie die Verfügung vom 7. September 2016 in Gutheissung
der Beschwerde auf (Entscheid vom 19. Januar 2017). Es gelangte zum Schluss,
das Bundesrecht ermächtige die Kantone, für die von ihnen zu bezahlenden
erlassenen Mindestbeiträge teilweise Rückgriff auf die Wohnsitzgemeinden den
betroffenen Versicherten zu nehmen; hingegen bestehe kein Raum für eine
vollständige Überwälzung der erlassenen Mindestbeiträge. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt der Kanton
Basel-Landschaft, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und der
Einspracheentscheid vom 27. September 2016 sei zu bestätigen. 
Die Stadt Laufen schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt
für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
D.   
Die Ausgleichskasse Basel-Landschaft lässt ebenfalls Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit den Rechtsbegehren um
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und Bestätigung des
Einspracheentscheides vom 27. September 2016. 
Die Stadt Laufen schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Da den Beschwerden des Kantons Basel-Landschaft und der Ausgleichskasse
Basel-Landschaft der gleiche Sachverhalt zugrunde liegt und sie sich gegen den
nämlichen vorinstanzlichen Entscheid richten, rechtfertigt es sich, die beiden
Verfahren (9C_406/2017 und 9C_407/2017) zu vereinigen und in einem Urteil zu
erledigen (vgl. BGE 131 V 59 E. 1 S. 60 f.). 
 
2.   
Nach Art. 11 Abs. 1 AHVG können Beiträge nach Art. 6, 8 Abs. 1 oder 10 Abs. 1,
deren Bezahlung einem obligatorisch Versicherten nicht zumutbar ist, auf
begründetes Gesuch hin für bestimmte oder unbestimmte Zeit angemessen
herabgesetzt werden; sie dürfen jedoch nicht geringer sein als der
Mindestbeitrag. Gemäss Art. 11 Abs. 2 AHVG kann der Mindestbeitrag, dessen
Bezahlung für einen obligatorisch Versicherten eine grosse Härte bedeutet,
erlassen werden, wenn ein begründetes Gesuch vorliegt und eine vom
Wohnsitzkanton bezeichnete Behörde angehört worden ist. Für diese Versicherten
bezahlt der Wohnsitzkanton den Mindestbeitrag. Die Kantone können die
Wohnsitzgemeinden zur Mittragung heranziehen. 
Laut § 12 Abs. 3 des Einführungsgesetzes des Kantons Basel-Landschaft zu den
Bundesgesetzen über die Alters- und Hinterlassenenversicherung und die
Invalidenversicherung (EG AHVG/IVG) vom 22. September 1994 wird der erlassene
Minimalbetrag von der Wohnsitzgemeinde getragen. 
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz hat geprüft, ob § 12 Abs. 3 EG AHVG/IVG mit dem
übergeordneten Bundesrecht in Einklang stehe. Sie ist zur Auffassung gelangt,
dass Art. 11 Abs. 2 Satz 3 AHVG eine gemeinsame Kostentragung durch Kanton und
Gemeinde vorsehe. Die alleinige Kostenübernahme durch die betroffene
Wohnsitzgemeinde des Versicherten laut kantonalem Recht widerspreche dem
übergeordneten Bundesrecht, wie eine Auslegung von Art. 11 Abs. 2 Satz 3 AHVG
anhand des Wortlauts sowie der Gesetzesmaterialien ergebe.  
 
3.2. Die beiden Beschwerdeführer weisen zunächst darauf hin, dass das
Bundesgericht bei einer praktisch identischen Ausgangslage in BGE 123 V 113 ff.
anders als die Vorinstanz entschieden habe. Es habe erklärt, bei der Last der
Gemeinde, die Minimalbeiträge für die von der Zahlung befreiten Versicherten
vollständig zu übernehmen, handle es sich um eine Verpflichtung, welche das
Bundesrecht den Kantonen ausdrücklich auf ihre Gemeinden zu übertragen erlaube.
Weiter sei in Betracht zu ziehen, dass der Bund den Kantonen nach Art. 46 Abs.
3 BV einen möglichst grossen Spielraum belässt. Dies werde durch Art. 47 BV in
grundsätzlicher Hinsicht zum Ausdruck gebracht, indem sich der Bund klar zur
kantonalen Aufgaben-, Finanz- und Organisationsautonomie bekennt. In diesem
Sinn obliege es einzig den Kantonen, den Gemeinden Rechte einzuräumen und
Pflichten aufzuerlegen. Die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Kanton und
Gemeinden obliege allein dem kantonalen Recht. Soweit das Bundesrecht von
Kantonen spricht, meine es die Kantone in ihrer Gesamtheit, bestehend aus
kantonalen und kommunalen Strukturen. Überträgt der Bund den Kantonen bestimmte
Aufgaben, überlasse er es dem kantonalen Recht, in welchem Umfang diese von den
Gemeinden wahrzunehmen sind. Art. 11 Abs. 2 Satz 3 AHVG greife in diesem Sinn
nicht in die kantonale Umsetzungsautonomie ein.  
 
4.  
 
4.1. Der Aussage, dass aufgrund des für die Gesetzesauslegung in erster Linie
massgebenden Wortlauts (BGE 142 V 402 E. 4.1 S. 404 mit Hinweis) von Art. 11
Abs. 2 Satz 3 AHVG die Kantone den Gemeinden nur einen (unbestimmten) Teil der
erlassenen Mindestbeiträge zur Bezahlung überbinden können, wie die Vorinstanz
annimmt, kann nicht beigepflichtet werden. Denn Art. 11 Abs. 2 Satz 3 AHVG
liesse sich in einem weiteren Sinn auch dahin verstehen, dass unter Mittragung
durch die Wohnsitzgemeinden die Bezahlung der gesamten erlassenen
Mindestbeiträge durch die Gemeinde fällt. So hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht in dem in den Beschwerden zitierten BGE 123 V 113 E. 5b S.
116 im Zusammenhang mit der Beschwerdelegitimation der Gemeinde festgehalten,
dass das Bundesrecht es den Kantonen ausdrücklich erlaubt, die Verpflichtung
zur Bezahlung der den Versicherten gemäss Art. 11 Abs. 2 Satz 1 AHVG erlassenen
Mindestbeiträge vollumfänglich an die Gemeinden zu übertragen. Damit hat das
Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 123 V 113 E. 5b S. 116 Art. 11 Abs.
2 Satz 3 AHVG ("die Kantone können die Wohnsitzgemeinden zur Mittragung
heranziehen") im Sinne der Beschwerdeführer ausgelegt.  
 
4.2. Von diesem Urteil abzuweichen, besteht keine Veranlassung. Wie in den
Beschwerden zu Recht ausgeführt wird, obliegt die rechtliche Ordnung des
Verhältnisses zwischen Kantonen und Gemeinden auch hinsichtlich der
Finanzierung bestimmter Aufgaben einzig dem kantonalen Recht. Wenn das
Bundesrecht die Kantone zur Zahlung bestimmter Beiträge oder von Anteilen davon
verpflichtet, bedeutet dies nicht, dass die Kantone diesen Betrag aus eigenen
Mitteln zu begleichen haben. Es ist ihnen vielmehr freigestellt, die ihnen vom
Bundesrecht aufgebürdeten Lasten gestützt auf das kantonale Recht ganz oder
teilweise den Gemeinden zu überbinden, ohne dass es dafür einer Ermächtigung
des Bundesgesetzgebers bedürfte. In der Tat kennt das
Bundessozialversicherungsrecht verschiedene Bestimmungen über die Finanzierung
von Leistungen mit Aufschlüsselung der Zahlungen zwischen Bund und Kantonen. So
bestimmt beispielsweise Art. 13 Abs. 1 ELG unter der Marginalie Finanzierung,
dass die jährlichen Ergänzungsleistungen zu fünf Achteln vom Bund und zu drei
Achteln von den Kantonen getragen werden. Gemeinden finden keine Erwähnung als
zahlungspflichtige Körperschaften. In der Praxis verhält es sich jedoch so,
dass die Gemeinden in erheblichem Ausmass zur Finanzierung des Kantonsbeitrages
an die Ergänzungsleistungen herangezogen werden, wie die folgenden Beispiele
zeigen. So tragen im Kanton Luzern vom Aufwand, der nach Abzug des
Bundesbeitrages verbleibt, der Kanton 30 % und die Gesamtheit der Gemeinden 70
% (§ 12 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Luzern über die Ergänzungsleistungen
zur AHV/IV vom 10. September 2007; Syst. Nr. 881). Der Kanton Zürich sodann
bestimmt, dass die Gemeinden die Zusatzleistungen, worunter
Ergänzungsleistungen, gewähren und der Kanton einen Kostenanteil von 44 % der
von ihnen ausbezahlten Zusatzleistungen übernimmt (§ 33 Abs. 1 des
Zusatzleistungsgesetzes vom 7. Februar 1971 und § 34 dieses Gesetzes [in der
Fassung vom 14. Januar 2013, in Kraft seit 1. Januar 2014] Syst. Nr. 831.3).
Der Kanton Solothurn wiederum kennt einen prozentualen Verteilschlüssel für die
Kosten der Ergänzungsleistungen zwischen Kanton und der Gesamtheit der
Einwohnergemeinden, der aufgrund von Ausgleichsrechnungen nach dem Gesetz über
die Aufgabenreform "Soziale Sicherheit" vom 7. Juni 1998 berechnet wird (§ 172
des Sozialgesetzes des Kantons Solothurn vom 31. Januar 2007; Syst. Nr. 831.1).
Diese Beispiele zeigen, dass die Gemeinden sich aufgrund des kantonalen Rechts
an der Finanzierung von Leistungen zu beteiligen haben, auch wenn in der
entsprechenden bundesrechtlichen Norm neben dem Bund allein die Kantone zur
Zahlung verpflichtet werden.  
 
4.3. Es ist nicht ersichtlich, weshalb diese Freiheit des kantonalen
Gesetzgebers, die finanziellen Lasten zwischen Kanton und Gemeinden
aufzuteilen, dort bestehen soll, wo das Bundesrecht einen Verteilschlüssel
zwischen Bund und Kantonen bestimmt, ohne die Gemeinden ausdrücklich zu
erwähnen, nicht aber in Fällen, in welchen kraft Bundesrecht die Kantone zur
Bezahlung von Leistungen oder Beiträgen verpflichtet sind und eine Bestimmung -
wie Art. 11 Abs. 2 Satz 3 AHVG - ausdrücklich, wenn auch unverbindlich und eher
pro memoria darauf hinweist, dass die Kantone die Wohnsitzgemeinden zur
Mittragung der Kosten heranziehen können. Damit kann Art. 11 Abs. 2 Satz 3 AHVG
bloss deklaratorische Bedeutung beigemessen werden, indem er wiederholt, was
ohnehin selbstverständlich ist. Die unverbindliche Kann-Vorschrift des Art. 11
Abs. 2 Satz 3 AHVG ("Die Kantone können die Wohnsitzgemeinden zur Mittragung
heranziehen") lässt nicht den Schluss zu, dass das kantonale Recht nur einen
Bruchteil der anfallenden Kosten für die erlassenen Mindestbeiträge, nicht
jedoch die gesamten Aufwendungen, auf die Gemeinden überwälzen darf.
Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass auch der vom Bundesgesetzgeber
verwendete, nach seinem Wortlaut ausgelegte Begriff "Mittragung der Kosten" die
Überwälzung praktisch des gesamten Aufwands, z.B. von 90 % desselben, vom
Kanton auf die Gemeinden erlauben würde.  
 
4.4. Die Ausgleichskasse hat nach dem Gesagten zu Recht die gesamten Beiträge
gestützt auf § 12 Abs. 3 des EG AHVG/IVG des Kantons Basel-Landschaft der
Beschwerdegegnerin auferlegt. Aus Sicht des Bundesrechts steht diesem Vorgehen
nichts entgegen, was zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führt.  
 
5.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die obsiegenden
Beschwerdeführer haben aufgrund von Art. 68 Abs. 3 BGG keinen Anspruch auf eine
Parteientschädigung. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Verfahren 9C_406/2017 und 9C_407/2017 werden vereinigt. 
 
2.   
Die Beschwerden des Kantons Basel-Landschaft und der Ausgleichskasse
Basel-Landschaft werden gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft vom 19. Januar 2017 wird aufgehoben und der
Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Kantons Basel-Landschaft vom 27.
September 2016 bestätigt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.- werden der Stadt Laufen auferlegt. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 9. Oktober 2017 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer 

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