Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 405/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_405/2017        

Urteil vom 3. August 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiberin Huber.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch B.________,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 24.
April 2017.

Sachverhalt:

A.

A.a. Die 1980 geborene A.________ meldete sich am 5. Juli 2005 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 21. August 2008
sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Bern ab 1. Dezember 2005 eine ganze Rente
zu (Invaliditätsgrad: 100 %), welche die Verwaltung am 14. April 2010
bestätigte. Im Rahmen einer von Amtes wegen eingeleiteten Revision reduzierte
die IV-Stelle die bisherige ganze Rente auf eine Viertelsrente bei einem
Invaliditätsgrad von 47 % (Verfügung vom 17. Januar 2012).
Im September 2012 ersuchte A.________ um Anpassung ihrer Rente, worauf die
IV-Stelle mit Verfügung vom 29. November 2012 nicht eintrat. Die von A.________
dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 25. April 2013 gut,
hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache an die IV-Stelle zurück.
Die Versicherte gelangte an das Bundesgericht, welches auf die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil vom 11. Juni 2013 nicht
eintrat (9C_414/2013).
Die IV-Stelle klärte den Sachverhalt weiter ab und erhöhte die bisherige
Viertelsrente rückwirkend ab 1. September 2012 auf eine halbe Rente
(Invaliditätsgrad von 57 %; Verfügung vom 3. Februar 2015). Soweit es darauf
eintrat, hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die von A.________
dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 21. Dezember 2015 gut und wies
die Sache erneut an die IV-Stelle zurück zur weiteren Abklärung.

A.b. Die IV-Stelle teilte der Versicherten mit, sie habe sich einer
psychiatrischen Begutachtung bei Dr. med. C.________, zu unterziehen
(Mitteilung vom 19. April 2016). Daran hielt sie nach Einwänden der
Versicherten am 19. Mai 2016 fest. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern insoweit teilweise gut, als es die
zulässigen Fragen auf die im Fragenkatalog als solche bezeichneten
"Zusatzfragen" beschränkte (Entscheid vom 14. September 2016). Im Übrigen wies
es die Beschwerde ab. Mit Urteil vom 18. November 2016 (9C_696/2016) trat das
Bundesgericht auf die von der Versicherten dagegen erhobene Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nicht ein.
In der Folge teilte die IV-Stelle A.________ mit, sie werde ab Juni 2017 vom
Gutachter Dr. med. C.________ einen Termin für die Untersuchung erhalten.
Dagegen erhob sie Einwände und verlangte eine Feststellungsverfügung. Ein von
der Versicherten mit "Antrag Revision" betiteltes Schreiben vom 15. Januar 2017
leitete die IV-Stelle als Revisionsantrag an das Bundesgericht weiter. Mit
Schreiben vom 3. Februar 2017 retournierte das Bundesgericht die Eingabe an die
IV-Stelle, da keine Gründe im Sinne von Art. 121 ff. BGG vorgebracht würden,
welche zu einer Neuüberprüfung des bundesgerichtlichen
Nichteintretensentscheides berechtigen könnten. Die IV-Stelle teilte der
Versicherten daraufhin mit, sie werde keine Feststellungsverfügung erlassen.

B. 
A.________ erhob Rechtsverweigerungsbeschwerde, welche das Verwaltungsgericht
des Kantons Bern abwies, soweit es darauf eintrat.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
stellt folgende Anträge:

"1. (Eventualiter) Wir beantragen festzustellen, dass die Beschwerdeführerin im
Vorgang zur Rechtsverweigerungsbeschwerde eine Willenserklärung zur
prozessualen Revision der Verfügung vom 17.01.2012 ausgesprochen hat und das
Urteil der Vorinstanz in diesem Punkt aufzuheben.
2. Wir beantragen die Beschwerdegegnerin anzuweisen eine Verfügung zu erlassen
über den Antrag zur prozessualen Revision nach Art. 53 Abs. 1 ATSG der
Verfügung vom 17.01.2012.
3. Wir beantragen die Vorinstanz anzuweisen die Verfügung vom 19.05.2016 bzw.
das sich darauf beziehende Gerichtsurteil vom 14.09.2016 in Revision zu ziehen
bzw. (eventualiter) den diesbezüglichen bundesgerichtlichen
Nichteintretensentscheid vom 18.11.2016 in Revision zu ziehen.
4. Wir verzichten auf eine Behandlung des Antrags auf Feststellungsverfügung
der ursprünglichen Beschwerde zu den Rechtsfolgen falls eine Mitwirkung
verweigert wird und entschuldigen uns für den ursprünglich gestellten Antrag.
Uns war nicht bewusst, dass die Aufforderung zur Mitwirkung und Androhung der
Rechtsfolgen im Rahmen einer rechtsgestaltenden Verfügung ausgeführt sein muss,
wie die Vorinstanz ausführt.
5. Wir beantragen die Abklärungen zu sistieren und insbesondere die
Durchführung der beabsichtigten Begutachtung ruhen zu lassen, bis über deren
Notwendigkeit aufgrund der veränderten Sach- und Rechtslage neu entschieden
wurde."

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Indes prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht
der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend
gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich
sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236).

2. 
Zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin das Rechtsverweigerungsverbot
verletzte (vgl. Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 1 BV).

2.1. Erlässt der Versicherungsträger entgegen dem Begehren der betroffenen
Person keine Verfügung, kann Beschwerde erhoben werden (Art. 56 Abs. 2 ATSG).
Diese Rechtsverweigerungsbeschwerde kann ausschliesslich darauf gerichtet sein,
einen anfechtbaren Entscheid des Versicherungsträgers zu erhalten (vgl. BGE 133
V 188 E. 3.2 S. 190; Urteil 8C_738/2016 vom 28. März 2017 E. 3.1.1). Die
Rechtsverweigerung kann grundsätzlich jederzeit gerügt werden, und ist
jedenfalls dann nicht verspätet, wenn der Versicherungsträger das anbegehrte
Handeln noch nicht vollzogen hat (Urteile 8C_820/2010 vom 22. März 2011 E. 3.4;
U 217/02 vom 29. Oktober 2003 E. 4, in: SVR 2005 UV Nr. 5 S. 13; Kieser,
ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, N. 27 zu Art. 56 ATSG).

2.2. Soweit die Versicherte eine Vielzahl materieller Begehren stellt, kann
darauf nicht eingetreten werden, da im Rahmen der Beurteilung einer
Rechtsverweigerung nur diese Gegenstand des Verfahrens bildet, nicht aber der
zugrunde liegende materielle Streit (Urteil 8C_336/2012 vom 13. August 2012 E.
3, nicht publ. in: BGE 138 V 318, aber in: SVR 2013 UV Nr. 2 S. 3).

2.3.

2.3.1. Die Versicherte machte bei der IV-Stelle diverse Eingaben unter dem
Titel "Revision" der Verfügung vom 17. Januar 2012. Darin wies sie jeweils auf
das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Di Trizio
gegen Schweiz vom 2. Februar 2016 (7186/09) hin und brachte vor, dieses sei
auch in ihrem Fall einschlägig (vgl. zum Beispiel Schreiben vom 22. August
2014, vom 23. Dezember 2016, vom 15. Januar 2017, sowie vom 14. Februar 2017).
Die IV-Stelle habe deshalb auf ihre Verfügung zurückzukommen. In rechtlicher
Hinsicht berief sich die Beschwerdeführerin dabei auf Art. 53 Abs. 1 ATSG sowie
Art. 17 Abs. 1 ATSG.

2.3.2. Ein Konflikt zwischen der aktuellen Rechtslage und einer früher
erlassenen, in formelle Rechtskraft erwachsenen Verfügung über eine
Dauerleistung kann in vier Konstellationen entstehen: Eine fehlerhafte
Sachverhaltsfeststellung (anfängliche tatsächliche Unrichtigkeit) lässt sich
unter bestimmten Voraussetzungen durch eine prozessuale Revision (Art. 53 Abs.
1 ATSG) korrigieren. Tritt nach dem Erlass einer ursprünglich fehlerfreien
Verfügung eine anspruchsrelevante Änderung des Sachverhalts ein (nachträgliche
tatsächliche Unrichtigkeit), hat gegebenenfalls eine Anpassung im Rahmen einer
Rentenrevision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG stattzufinden. Falls die Verfügung auf
einer fehlerhaften Rechtsanwendung beruht (anfängliche rechtliche
Unrichtigkeit), ist ein Rückkommen unter dem Titel der Wiedererwägung (Art. 53
Abs. 2 ATSG) zu prüfen. Nicht allgemein gesetzlich geregelt ist der Tatbestand
der nachträglichen rechtlichen Unrichtigkeit infolge einer nach dem
Verfügungserlass eintretenden Änderung der massgebenden Rechtsgrundlagen (vgl.
BGE 140 V 514 E. 3.2 S. 516; 135 V 201 E. 5.1 S. 204 f. mit weiteren
Hinweisen).

2.3.3. Aus den Eingaben (E. 2.3.1) an die IV-Stelle geht hervor, dass die
Beschwerdeführerin sinngemäss einen Antrag auf Abänderung der formell
rechtskräftigen Verfügung vom 17. Januar 2012 an die neue Gerichtspraxis
stellte. Dass sie hierbei nicht auf die korrekte einschlägige Rechtsgrundlage
verwies, kann ihr als Laie ohne anwaltliche Vertretung nicht entgegengehalten
werden. Der Feststellung der Vorinstanz, die Eingaben der Versicherten würden
keinen Antrag auf nachträgliche Anpassung an eine geänderte Rechtslage
beinhalten und ein entsprechendes Gesuch sei erstmals im Beschwerdeverfahren
eingegangen, kann daher nicht gefolgt werden. Über die Frage, ob eine
Abänderung der rechtskräftigen Verfügung an die neue Gerichtspraxis gemäss
EGMR-Urteil Di Trizio vorzunehmen ist, hat die IV-Stelle bisher nicht verfügt.
Darin erblickt die Versicherte eine Verletzung des Rechtsverweigerungsverbots.

2.4. Seit September 2012 ist ein Revisionsverfahren gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG
hängig. Die Beschwerdeführerin ersuchte damals um Anpassung ihrer Viertelsrente
aufgrund veränderter Verhältnisse. In diesem Verfahren ordnete die IV-Stelle
unter anderem eine psychiatrische Begutachtung an, welche immer noch aussteht.
Die Ergebnisse dieser Sachverhaltsabklärung können auch für die Frage, ob die
Verfügung vom 17. Januar 2012 wegen einer neuen Gerichtspraxis oder aus anderen
Gründen abzuändern ist, erheblich sein. Ob ein Zurückkommen auf diese Verfügung
ex nunc oder ex tunc in Frage kommt, ist im Rahmen der
Rechtsverweigerungsbeschwerde nicht zu beantworten. Da eine Überprüfung des
Rentenanspruchs nach Art. 17 Abs. 1 ATSG auch in rechtlicher Hinsicht umfassend
("allseitig") erfolgt (BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 11), hat die IV-Stelle über das
Abänderungsgesuch nach erfolgter Sachverhaltsabklärung noch zu verfügen. Wie
das kantonale Gericht im Ergebnis zu Recht erkannte, verstiess die IV-Stelle
folglich nicht gegen das Rechtsverweigerungsverbot (E. 2.1).

3. 
Die Versicherte macht ausserdem geltend, die Vorinstanz verweigere ihr im Sinne
von Art. 94 BGG unrechtmässig einen Entscheid.

3.1. Soweit die Beschwerdeführerin beantragt, das kantonale Gericht sei
anzuweisen, seinen Entscheid vom 14. September 2016 bzw. die Verfügung vom 19.
Mai 2016 in Revision zu ziehen, ist darauf nicht einzutreten. Eine Beschwerde
in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist zulässig gegen Entscheide letzter
kantonaler Instanzen (Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG). Ein entsprechendes
Anfechtungsobjekt fehlt, da das kantonale Gericht nicht über die Revision der
Verfügung vom 19. Mai 2016 bzw. des Entscheids vom 14. September 2016 befand.
Es ist zu klären, ob dies eine Rechtsverweigerung darstellt.

3.2. Die Versicherte erhob Beschwerde gegen die Verfügung vom 19. Mai 2016,
welche das kantonale Gericht teilweise guthiess. Dessen Entscheid trat folglich
an die Stelle der Verfügung. Da das Bundesgericht im Anschluss auf die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten der Versicherten nicht
eintrat (Urteil 9C_696/2016 vom 18. November 2016), könnte ein Revisionsgesuch
lediglich bei der Vorinstanz in Bezug auf den Entscheid vom 14. September 2016
gestellt werden (vgl. Urteil 8C_602/2011 vom 30. September 2011 E. 1.3 mit
Hinweisen), was die Versicherte unterliess. Eine unrechtmässige Verweigerung
eines Entscheids kann dem kantonalen Gericht folglich mangels Gesuch nicht
vorgeworfen werden. Denn sie hatte im Rahmen der Rechtsverweigerungsbeschwerde
nur zu überprüfen, ob die IV-Stelle ihrerseits gegen das
Rechtsverweigerungsverbot verstiess.

4. 
Über das Begehren, der bundesgerichtliche Nichteintretensentscheid vom 18.
November (9C_696/2016) sei zu revidieren, wird in einem separaten Verfahren
befunden (9F_7/2017).

5. 
Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um Sistierung des
Abklärungsverfahrens im Sinne einer vorsorglichen Massnahme nach Art. 104 BGG
gegenstandslos.

6. 
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG).
 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. August 2017

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Die Gerichtsschreiberin: Huber

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