Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 390/2017
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_390/2017        

Urteil vom 17. August 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiberin Oswald.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Barbara Wyler,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst,
St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Massnahmen beruflicher Art; Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
12. April 2017.

Sachverhalt:

A.

A.a. Die 1959 geborene A.________ meldete sich am 3. Juli 2008 aufgrund von
Ekzemen an den Händen (Berufskrankheit) bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 25. Mai 2009 verneinte die IV-Stelle des
Kantons Thurgau (fortan: IV-Stelle) einen Anspruch auf Arbeitsvermittlung; mit
solcher vom 6. Juli 2009 lehnte sie die Zusprache einer Invalidenrente ab. Auf
eine Neuanmeldung vom 30. September 2011 trat sie am 14. Februar 2012 nicht
ein.

A.b. Am 6. Juni 2013 meldete sich A.________ unter Hinweis auf eine Alle rgie
erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle
führte medizinische und erwerbliche Abklärungen durch und zog die Akten der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (fortan: Suva) bei. Nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte sie mit Verfügungen vom 12.
März 2015 den Anspruch auf berufliche Massnahmen und eine Invalidenrente.

B. 
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Thurgau als Versicherungsgericht mit Entscheid vom 12. April 2017 ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 12. April
2017 sei aufzuheben. Die Sache sei an die IV-Stelle zurückzuweisen, und es sei
diese zu verpflichten, sie interdisziplinär begutachten zu lassen. Ausserdem
sei ein zweiter Schriftenwechsel durchzuführen, und es sei ihr die
unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung zu gewähren.

D. 
Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde, desgleichen das
Verwaltungsgericht. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf
eine Vernehmlassung.
Erwägungen:

1. 
Die Beschwerdeführerin verlangt die Durchführung eines zweiten
Schriftenwechsels. Ein solcher ist nicht erforderlich (Art. 102 Abs. 3 BGG).

2. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

3. 
Streitgegenstand ist der von der Vorinstanz in Bestätigung der Verfügungen vom
12. März 2015 verneinte Anspruch auf berufliche Massnahmen und eine Rente der
Invalidenversicherung.
Im angefochtenen Entscheid werden die Bestimmungen zum Invaliditätsbegriff
(Art. 8 Abs. 1 ATSG), zum Anspruch auf eine nach dem Grad der Invalidität
abgestuften Invalidenrente (Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie auf
Eingliederungsmassnahmen (Art. 8 IVG), zum Untersuchungsgrundsatz und zur
Beweiswürdigung zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.

4. 
Das kantonale Gericht erwog, die angefochtenen Verfügungen beruhten im
Wesentlichen auf einer Würdigung der in den Akten dokumentierten medizinischen
Berichte durch den Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD). Dessen Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit stimme sowohl mit derjenigen des Suva-Arztes Dr. med.
B.________, Facharzt für Arbeitsmedizin und Allgemeine Innere Medizin, als auch
mit derjenigen der Dermatologischen Klinik des Spitals C.________ überein. Sie
alle gingen davon aus, dass die Beschwerdeführerin in einer adaptierten
Tätigkeit zu 100 % arbeitsfähig sei. Als adaptiert zu betrachten seien
Arbeiten, die mehrheitlich trocken und sauber sowie ohne Kontakt zu
hautreizenden Stoffen seien, die nicht in der Kälte durchgeführt werden müssten
und bei denen sie nicht stundenlang geschlossene Handschuhe tragen müsse.
Ferner sei darauf zu achten, dass sie nicht in Kontakt komme mit nachgewiesen
hautsensibilisierenden Stoffen. Es befand, die Beurteilung des RAD sei
nachvollziehbar und überzeugend; ihr stehe auch keine abweichende fachärztliche
Beurteilung gegenüber. Insofern sei nicht zu beanstanden, dass die IV-Stelle
keine weiteren Abklärungen durchgeführt habe. Zum selben Schluss sei es auch in
den parallel geführten unfallversicherungsrechtlichen Verfahren VV.2016.114 und
VV.2016.271 gekommen. Dass in diesen festgestellt wurde, der psychische
Gesundheitszustand sei unzureichend abgeklärt, sei für das vorliegende
Verfahren nicht von Relevanz. Die Beschwerdeführerin habe sich erst nach Erlass
der angefochtenen Verfügungen in psychiatrische Behandlung begeben, weshalb bis
zu deren Erlass keine psychische Beeinträchtigung angenommen werden könne. Die
IV-Stelle sei demnach zu Recht von einer Arbeitsfähigkeit von 100 % in einer
angepassten Tätigkeit ausgegangen und habe das diesbezügliche
Anforderungsprofil hinreichend konkretisiert. Bei dem von ihr durch
Einkommensvergleich ermittelten Invaliditätsgrad von 0 %, der nicht beanstandet
werde, bestehe kein Anspruch auf berufliche Massnahmen, Invalidenrente oder
Integrationsmassnahmen.

5. 
Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe den Untersuchungsgrundsatz
verletzt, indem sie keine eigenen medizinischen und erwerblichen Abklärungen
getroffen, sondern für die Bestimmung ihrer Arbeitsfähigkeit auf das - noch
nicht abgeschlossene - Suva-Verfahren abgestellt habe.

5.1. Das kantonale Gericht habe, dem RAD folgend, insbesondere auf den Bericht
der Dermatologischen Klinik des Spitals C.________ vom 18. September 2014
abgestellt. Mit ihrer Kritik, wonach dieser aufgrund nochmaligen Scheiterns
einer darin vorgeschlagenen Toctino-Therapie überholt sei, habe es sich nicht
auseinandergesetzt. Dem kann nicht gefolgt werden: Die Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit durch die Ärzte des Spitals C.________ wird nicht vom Erfolg
der Toctino-Therapie (oder einer anderen Behandlung) abhängig gemacht, und aus
ihrem Scheitern lässt sich nicht ableiten, dass die Ekzeme nicht therapierbar
wären. So hält auch der Bericht der Dermatologischen Klinik des Spitals
C.________ vom 20. Februar 2015 fest, dass sich die Einschränkungen durch
konsequente Rückfettung, intermittierend topische Kortikosteroide sowie
Systemtherapie mit Alitretinoin vermindern liessen, wobei sich diese Massnahmen
sehr gut auf die Arbeitsfähigkeit auswirken würden. Dringend empfohlen wird
ausserdem die Behandlung mit PUVA (Psoralene plus UV-A). Mit der Vorinstanz
erübrigten sich deshalb weitere Abklärungen bezüglich des Ekzems an den Händen,
war dieses doch samt seinen Auswirkungen bereits hinreichend abgeklärt und
lediglich die Behandlungsoptionen noch nicht ausgeschöpft.

5.2. Weiter bringt die Beschwerdeführerin vor, bereits vor Verfügungserlass sei
sie psychisch stark eingeschränkt gewesen, was sowohl die Vorinstanz als auch
die IV-Stelle leicht hätten erkennen können und müssen. So sei bereits im
Bericht der Dermatologischen Klinik des Spitals C.________ vom 18. September
2014 eine chronische Depression als Diagnose aufgeführt. Auch im Zeugnis des
Hausarztes Dr. med. D.________ vom 25. Februar 2015 werde ausdrücklich betont,
dass es ihr psychisch schlecht gehe; sie habe ein rezidivierendes
cervicocephales Schmerzsyndrom entwickelt und sei zunehmend depressiv. Es habe
eine Anmeldung bei einer Psychiaterin veranlasst werden müssen, und es seien
Psychopharmaka eingesetzt worden. Mit Entscheid VV.2016.114/VV.2016.271 vom 12.
April 2017 habe die Vorinstanz die unfallversicherungsrechtliche Streitigkeit
denn auch an die Suva zurückgewiesen, da der psychische Gesundheitszustand
unzureichend abgeklärt worden sei. Auch diese Vorbringen sind nicht
stichhaltig: Wie bereits das kantonale Gericht sinngemäss ausführte, ist aus
rechtlicher Sicht grundsätzlich der Sachverhalt bis zum Erlass der Verfügung
(hier: 12. März 2015) massgebend (zum Beizug späterer ärztlicher Berichte vgl.
Urteil 9C_48/2015 vom 1. Juli 2015 E. 3.2.1 mit weiteren Hinweisen).
Praxisgemäss fallen leichte bis mittelgradige depressive Störungen
rezidivierender oder episodischer Natur einzig dann als invalidisierende
Krankheiten in Betracht, wenn sie erwiesenermassen therapieresistent sind (BGE
141 V 281 E. 4.3.1.2 S. 299 f. mit Hinweisen; 140 V 193 E. 3.3 S. 196 f.;
Urteil 8C_5/2017 vom 11. April 2017 E. 4.2 und 5.2). Dies war jedenfalls im
Verfügungszeitpunkt nicht der Fall. Aus den Akten ergibt sich, dass
rezidivierende depressive Episoden bereits mindestens seit 2012 (damals durch
die behandelnden Dermatologen am Spital E.________) diagnostiziert wurden. Erst
kurz vor Erlass der Verfügungen vom 12. März 2015 scheint aber der Leidensdruck
gross genug geworden zu sein, dass überhaupt eine (medikamentöse) Therapie
begonnen wurde und eine Verweisung an eine Psychiaterin erfolgte. Unter diesen
Umständen kann nicht von einer Therapieresistenz im Verfügungszeitpunkt
ausgegangen werden, hatte die Behandlung doch gerade erst begonnen. An diesem
Ergebnis hätten weitere medizinische Abklärungen nichts geändert, weshalb das
kantonale Gericht in antizipierter Beweiswürdigung darauf verzichten durfte.
Der vorinstanzliche Entscheid VV.2016.114/VV.2016.271 vom 12. April 2017 gibt
nicht zu einer anderen Betrachtungsweise Anlass. Das kantonale Gericht
begründete die Rückweisung damit, dass sich ohne weitere psychiatrische
Abklärungen nicht beurteilen lasse, ob der Endzustand der Erkrankung bereits
erreicht sei. Darüber hinaus sei die Frage nach dem Kausalzusammenhang zwischen
den psychischen Beschwerden und der Berufskrankheit noch nicht hinreichend
abgeklärt (VV.2016.114/VV.2016.271 vom 12. April 2017, E. 3.2.4 und 3.3).
Beides ist für die Beurteilung des Anspruchs auf eine Rente der
Invalidenversicherung unmassgeblich (vgl. zum Zeitpunkt des Einsetzens der
Rente in der Unfallversicherung Art. 19 Abs. 1 UVG; Urteil 8C_43/2017 vom 1.
Juni 2017 E. 2.3.1 mit Hinweisen).

5.3. Nach dem Gesagten erübrigte sich das Einholen des von der
Beschwerdeführerin verlangten polydisziplinären Gutachtens.

6. 
Ausgangsgemäss wird die Beschwerdeführerin grundsätzlich kostenpflichtig (Art.
66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch
entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 BGG), da ihre Bedürftigkeit aufgrund der
Akten ausgewiesen ist und das Verfahren nicht zum Vornherein aussichtslos
erschien. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen,
wonach sie der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu
in der Lage ist.
 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwältin Dr. Barbara Wyler wird als unentgeltliche Anwältin bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 17. August 2017

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Die Gerichtsschreiberin: Oswald

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben