Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 38/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_38/2017

Urteil vom 21. März 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdeführerin,

gegen

 A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Ineichen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (aufschiebende Wirkung, kantonales Verfahren),

Beschwerde gegen die Verfügung des Kantonsgerichts Luzern, 3. Abteilung, vom
14. Dezember 2016.

Sachverhalt:

A. 
A.________ bezog seit 1. März 2006 eine ganze Rente der Invalidenversicherung.
Als Ergebnis des im Februar 2011 eingeleiteten Revisionsverfahrens hob die
IV-Stelle Luzern gestützt u.a. auf die im Vorbescheidverfahren eingeholte
Expertise des ABI (Ärztliches Begutachtungsinstitut, Basel) vom 3. November
2015 mit Verfügung vom 16. September 2016 die Rente auf den gesetzlich
vorgesehenen Zeitpunkt hin auf, wobei sie einer allfälligen Beschwerde die
aufschiebende Wirkung entzog.

B. 
A.________ reichte beim Kantonsgericht Luzern Beschwerde ein, mit welcher sie
u.a. beantragte, dem Rechtsmittel sei die (in der angefochtenen Verfügung
entzogene) aufschiebende Wirkung zu erteilen. Die zuständige 3. Abteilung hiess
das Begehren mit Verfügung vom 14. Dezember 2016 gut, stellte die aufschiebende
Wirkung der Beschwerde wieder her und verpflichtete die IV-Stelle, der
Versicherten die bisherige ganze Rente weiter auszurichten.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle Luzern, die Verfügung vom 14. Dezember 2016 sei aufzuheben und der
Entzug der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gegen die
Rentenaufhebungsverfügung vom 16. September 2016 sei zu bestätigen; dem
Rechtsmittel sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen.

Das Kantonsgericht und auch A.________ ersuchen um Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 

1.1. Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zulässig gegen Endentscheide (Art.
90 BGG), Teilentscheide (Art. 91 BGG), selbständig eröffnete Vor- und
Zwischenentscheide über die Zuständigkeit und den Ausstand (Art. 92 BGG) sowie
gegen andere selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide, wenn sie einen
nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können oder wenn die Gutheissung
der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen
bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren
ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. a und b BGG).
Mit der Beschwerde gegen Entscheide über vorsorgliche Massnahmen kann nur die
Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden (Art. 98 BGG).
Diesbezüglich gilt eine qualifizierten Rüge- und Begründungspflicht. Das
Bundesgericht prüft die Frage, ob der angefochtene Entscheid verfassungsmässige
Rechte verletzt, nur soweit dies vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106
Abs. 2 BGG; BGE 134 II 192 E. 1.5 S. 196 mit Hinweisen), wobei es sich in Bezug
auf die Anwendung von Bundesgesetzen auf eine Willkürprüfung beschränkt (Art. 9
BV; Urteil 5A_480/2016 vom 21. Februar 2017 E. 1.4 mit Hinweisen).

1.2. Der angefochtene Entscheid stellt die gestützt auf Art. 97 AHVG i.V.m.
Art. 66 IVG entzogene aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen die
rentenaufhebende Verfügung vom 16. September 2016 wieder her und verpflichtet
die IV-Stelle, der Versicherten die bisherige ganze Rente weiter auszurichten.
Dabei handelt es sich um einen selbständig eröffneten Vor- oder
Zwischenentscheid nach Art. 93 BGG, der einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil im Sinne von Abs. 1 lit. a dieser Bestimmung bewirken kann (Urteile
9C_856/2016 vom 9. März 2017 E. 1.2 und 8C_507/2013 vom 2. Dezember 2013 E.
1.2).

Der vorinstanzliche Entscheid ist auch ein Entscheid über vorsorgliche
Massnahmen im Sinne von Art. 98 BGG (BGE 134 II 192 E. 1.5         S. 196). Die
dagegen gerichtete Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, mit
welcher namentlich eine Verletzung des Willkürverbots nach Art. 9 BV gerügt
wird, genügt der qualifizierten Rüge- und Begründungspflicht nach Art. 106 Abs.
2 BGG. Darauf ist somit einzutreten, da auch die übrigen formellen
Gültigkeitserfordernisse gegeben sind. Namentlich wurde die Beschwerde
rechtzeitig am letzten Tag der Frist von 30 Tagen nach der Eröffnung des
angefochtenen Entscheids eingereicht (Art. 100 Abs. 1 BGG i.V.m. Art. 45 Abs. 1
und Art. 46 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 BGG).

2. 

2.1. Die Vorinstanz hat erwogen, die Frage, ob die aufschiebende Wirkung der
Beschwerde (Suspensiveffekt) wiederherzustellen sei, beurteile sich aufgrund
einer Interessenabwägung. Dabei könnten auch die Aussichten auf den
vermutlichen Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache ins Gewicht fallen, wenn
sie eindeutig seien. Unbestritten habe die IV-Stelle die Versicherte weder über
den Eingang des ABI-Gutachtens vom 3. November 2015 informiert noch ihr die
Expertise zugestellt und Gelegenheit gegeben, sich dazu zu äussern und
Ergänzungsfragen zu stellen. Dies stelle eine schwerwiegende Verletzung des
rechtlichen Gehörs und eine grobe Verletzung der Mitwirkungsrechte im
Abklärungsverfahren dar. Die Gutheissung der Beschwerde aus formellen Gründen
sei sehr wahrscheinlich. Damit sei über die Erfolgsaussichten in der Sache
nichts gesagt. Wegen der erwähnten schwerwiegenden formellen Verfahrensmängel
sei das Interesse der IV-Stelle an der sofortigen Vollstreckung der
angefochtenen Verfügung als geringer anzusehen als dasjenige der Versicherten
an einem vorerst weiteren Bezug der Rente. Das Gesuch um Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung der Beschwerde sei daher gutzuheissen.

2.2. Die Argumentation der Vorinstanz verletzt in Begründung und Ergebnis
offensichtlich Bundesrecht, indem sie sich in willkürlicher Weise über die
"gesetzlichen Bestimmungen und Rechtsgrundsätze über die aufschiebende Wirkung"
hinwegsetzt, wie die IV-Stelle vorbringt:

2.2.1. Nach ständiger und gefestigter Rechtsprechung dauert der mit der
revisionsweise verfügten Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente der
Invalidenversicherung verbundene Entzug der aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde bei Rückweisung der Sache an die IV-Stelle zu weiteren Abklärung des
Sachverhalts bis zum Erlass der neuen Verfügung an (BGE 129 V 370; Urteil
8C_451/2010 vom 11. November 2010 E. 2-4, in: SVR 2011 IV Nr. 33 S. 96; Urteil
9C_856/2016 vom 9. März 2017 E. 3.1). Diese Regelung gilt, entgegen den
Ausführungen der Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung, auch dann, wenn die
Revisionsverfügung aus formellen Gründen aufgehoben und deshalb die Sache an
die Verwaltung zurückgewiesen wird (BGE 129 V 370 E. 4.3 S. 376; Urteil des
Eidg. Versicherungsgerichts I 633/98 vom 1. Dezember 1999 E. 2b). Daraus folgt,
dass die Erfolgsaussichten der Beschwerde in formeller Hinsicht bei der
Abwägung der Interessen für oder gegen die Wiederherstellung des
Suspensiveffekts keine Rolle spielen können. Das tun sie indessen im
angefochtenen Entscheid, indem die sehr wahrscheinliche Gutheissung der
Beschwerde wegen schwerwiegender formeller Verfahrensmängel der entscheidende
Gesichtspunkt gegen die sofortige Vollstreckung der Verfügung vom 16. September
2016 (mit Wirkung ab 1. November 2016; Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV) ist.

2.2.2. (Andere) Gründe, welche gegen den ausnahmsweisen Entzug der
aufschiebenden Wirkung (Urteil 9C_856/2016 vom 9. März 2017       E. 3.1)
sprechen bzw. ein Eingreifen der Vorinstanz in den diesbezüglich weiten
Ermessensspielraum der IV-Stelle (BGE 105 V 266 E. 2 S. 269) rechtfertigen
könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist der Ausgang des Verfahrens in
der Hauptsache offen. Sodann sind Verfahrensmängel als solche im Kontext
lediglich insoweit von Bedeutung, als sie zu einer rechtsmissbräuchlichen
Provozierung eines möglichst frühen Revisionszeitpunktes durch die IV-Stelle
geführt haben, sodass der Suspensiveffekt für den Zeitraum wiederherzustellen
ist, den das Verfügungsverfahren in Anspruch genommen hätte, wenn es formell
korrekt durchgeführt worden wäre (BGE 129 V 370 E. 3.4       S. 376; Urteil
8C_236/2014 vom 16. Mai 2014 E. 2.1; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I
633/98 vom 1. Dezember 1999 E. 3b). Ein solcher Sachverhalt liegt hier
unbestritten nicht vor.

2.3. Der angefochtene Entscheid verletzt Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG). Die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten der IV-Stelle ist
begründet.

3. 
Mit dem Entscheid in der Sache ist die Frage der aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde gegenstandslos.

4. 
Ausgangsgemäss wird die Beschwerdegegnerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1
BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts Luzern, 3.
Abteilung, vom 14. Dezember 2016 wird aufgehoben und die Verfügung der
IV-Stelle Luzern vom 16. September 2016, soweit angefochten, bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 21. März 2017
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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