Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 385/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_385/2017        

Urteil vom 21. August 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Urs Hochstrasser,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

1. Sammelstiftung B.________,

2. Pensionskasse C.________.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
12. April 2017.

Sachverhalt:

A. 
A.________ bezog ab 1. Oktober 1998 eine ganze Rente der Invalidenversicherung
(Verfügung der IV-Stelle des Kantons Solothurn vom 14. September 1999). Die
Rente wurde mehrmals bestätigt, letztmals im März 2011. Anfang 2014 leitete die
infolge Wohnsitzwechsel im November 2006 neu zuständige IV-Stelle des Kantons
Aargau ein weiteres Revisionsverfahren ein, nachdem sie Kenntnis davon erhalten
hatte, dass A.________ in den Jahren 2008 bis 2012 verschiedentlich
erwerbstätig gewesen war. Im Rahmen ihrer Abklärungen nahm sie Einsicht in die
Akten der Sammelstiftung B.________. Diese enthielten u.a. einen Bericht vom 7.
Juli 2015 über die Observation der Versicherten im Zeitraum vom 20. Oktober
2014 bis 25. Juni 2015 sowie ein von Dr. med. D.________, Fachärztin für
Psychiatrie und Psychotherapie, erstelltes Gutachten vom 15. August 2015.
Nachdem der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) am 8. April 2016 dazu Stellung
genommen hatte, hob die IV-Stelle nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit
Verfügung vom 6. Juli 2016 die ganze Rente rückwirkend auf den 20. Oktober 2014
auf.

B. 
Die Beschwerde der A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
nach zweifachem Schriftenwechsel und Beiladung der Sammelstiftung B.________
sowie der Pensionskasse C.________ zum Verfahren mit Entscheid vom 12. April
2017 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 6. Juli 2016 sei aufzuheben
und es sei ihr weiterhin eine ganze Rente zuzusprechen; eventualiter sei die
Sache an das kantonale Versicherungsgericht zwecks Durchführung einer
ergänzenden Sachverhaltsabklärung, allenfalls einer gerichtlichen Begutachtung,
zurückzuweisen, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.

Erwägungen:

1. 
In der Begründung der Beschwerde wird unter "Formelles I.3" zutreffend der
Entscheid des kantonalen Versicherungsgerichts als Anfechtungsgegenstand
bezeichnet (Art. 62 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 86    Abs. 1 lit. d BGG). Die
Rügen, u.a. der Verletzung von Art. 61 lit. c ATSG im Zusammenhang mit der
Frage der Zulässigkeit und Verwertbarkeit des Observationsmaterials, richten
sich gegen dieses Erkenntnis. Es schadet daher der Beschwerdeführerin nicht,
dass sie (lediglich) die Aufhebung der vorinstanzlich angefochtenen Verfügung
beantragt. Diese gilt im Verfahren vor Bundesgericht immerhin inhaltlich als
mitangefochten (BGE 134 II 142 E. 1.4 S. 144 mit Hinweis).

2.

2.1. Die Beschwerdeführerin rügt, die Sachbearbeiterin, welche die
vorinstanzlich angefochtene Verfügung "mit eigener Unterschrift gezeichnet"
(und weitere Verwaltungshandlungen vorgenommen) habe, sei mangels einer
genügenden gesetzlichen Grundlage dazu nicht berechtigt gewesen. Das sei eine
klare Verletzung von Art. 5 VwVG und Art. 5 Abs. 3 BV. Die Vorinstanz "irrt",
wenn sie den formellen Mangel nicht weiter sachlich behandle, sondern unter
Verweis auf das Urteil 8C_514/2016 vom 29. September 2016 E. 3 als im
kantonalen Verfahren geheilt ansehe.
Die Rechtsfolgen, wenn eine Verfügung nach Art. 49 Abs. 1 ATSG nicht oder durch
eine dazu nicht berechtigte Person unterzeichnet ist, ist eine Frage des
kantonalen Rechts (Art. 61 Ingress ATSG). Dessen Anwendung prüft das
Bundesgericht lediglich unter eingeschränktem Blickwinkel (BGE 138 I 143 E. 2
S. 149; 131 I 272 E. 3.1 S. 273 mit Hinweisen). Weder nennt die
Beschwerdeführerin die ihres Erachtens verletzten kantonalrechtlichen
Bestimmungen noch legt sie dar, inwiefern das Urteil 8C_514/2016 vom 29.
September 2016 E. 3 hier nicht sinngemäss anwendbar sein soll. Ebenso macht sie
nicht geltend, es sei ihr aus dem Eröffnungsfehler ein Nachteil entstanden
(Art. 49   Abs. 3 Satz 3 ATSG; vgl. auch Art. 38 VwVG). Damit hat es sein
Bewenden (Art. 42 Abs. 2 BGG; BGE 138 I 171 E. 1.4 S. 176).

2.2. Weiter rügt die Beschwerdeführerin, die Vorinstanz habe sich mit ihren
Einwendungen gegen den RAD-Arzt, welcher die Stellungnahme vom 8. April 2016
verfasste, nicht auseinandergesetzt. Dieser verfüge weder über eine
Berufsausübungsbewilligung noch über die nötigen fachärztlichen und
versicherungsmedizinischen Qualifikationen, sodass die fehlende Eignung als
Gutachter als erstellt angesehen werden müsse. Darauf braucht nicht weiter
eingegangen zu werden. Die Vorinstanz hat nicht entscheidend auf die
Beurteilung des Psychiaters des RAD vom 8. April 2016 abgestellt und noch
weniger dieser die Bedeutung eines (Sachverständigen-) Gutachtens (vgl. dazu
BGE 135 V 254 E. 3.3.1 S. 257) beigemessen. Unter diesen Umständen ist auch der
Vorhalt unbegründet, der RAD-Arzt habe den Widerspruch des Gutachtens vom 15.
August 2015 zu den Diagnosen und Berichten der behandelnden Psychiaterin nicht
auflösen können.

3. 
Die Beschwerdeführerin bestreitet die Verwertbarkeit der Unterlagen über die
Observation im Zeitraum vom 20. Oktober 2014 bis 25. Juni 2015. Für die
Anordnung dieser Abklärungsmassnahme habe keine genügende gesetzliche Grundlage
bestanden, was die Abwägung der Interessen an der Wahrheitsfindung und dem
Schutzinteresse in E. 6 des angefochtenen Entscheids "ignoriert". Das
psychiatrische Gutachten von Dr. med. D.________ vom 15. August 2015 beruhe auf
der Observation und sei daher ebenfalls nicht verwertbar. Abgesehen davon müsse
ein "höchst wahrscheinlich" unzulässiges Beweismittel, wie im vorliegenden Fall
das Observationsmaterial, auf welches sich eine IV-Stelle entscheidend
abstütze, vom kantonalen Versicherungsgericht geprüft werden, was hier in
Verletzung von Art. 61 lit. c ATSG nicht geschehen sei und sinngemäss umso mehr
hätte gemacht werden müssen, als die Massnahme von der involvierten
Vorsorgeeinrichtung angeordnet worden sei.

3.1. Die Vorinstanz hat in E. 6.2 des angefochtenen Entscheids dargelegt, dass
es im kantonalen Recht eine genügende gesetzliche Grundlage gebe, welche die
Verwertung rechtswidrig erlangter Beweismittel erlaube. Sie hat die hierfür
erforderlichen Voraussetzungen als erfüllt erachtet. Die
Observationsergebnisse, "sollten sie denn widerrechtlich beschafft worden
sein", seien daher verwertbar, ebenso wie das darauf beruhende psychiatrische
Gutachten von Dr. med. D.________ vom 15. August 2015. Die Beschwerdeführerin
äussert sich nicht zu den betreffenden Erwägungen. Sie verweist auf das Urteil
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Sachen Vukota-Bojic
gegen die Schweiz (61838/10) vom 18. Oktober 2016. Danach bestehe im Bereich
der schweizerischen Unfallversicherung keine genügende gesetzliche Grundlage
für die Anordnung von Foto- oder Videoobservationen. Das müsse für alle
Sozialversicherungszweige gelten, wo bisher verdeckte Ermittlungen vorgenommen
worden seien.

3.2. Das Bundesgericht hat im Urteil 9C_806/2016 vom 14. Juli 2017 erkannt,
dass es (auch) in der Invalidenversicherung an einer Art. 8 EMRK bzw. Art. 13
BV i.V.m. Art. 36 BV genügenden gesetzlichen Grundlage fehlt, welche die
verdeckte Überwachung, u.a. Dauer, Verfahren der Anordnung oder zulässige
Umstände der Abklärungsmassnahme, umfassend klar und detailliert regelt. Art.
59 Abs. 5 IVG, wonach die IV-Stellen zur Bekämpfung des ungerechtfertigten
Leistungsbezugs Spezialisten beiziehen können, reicht nicht aus (E. 3.1 und E.
4). Mit Bezug auf die andere - allein nach schweizerischem Recht zu
beantwortende - Frage, ob die Ergebnisse einer an sich rechtswidrigen
Observation beweismässig verwertbar sind, hat das Bundesgericht erkannt, dass
bis zur Schaffung einer genügenden gesetzlichen Grundlage im ATSG für verdeckte
Überwachungen hauptsächlich eine Abwägung zwischen privaten und öffentlichen
Interessen massgebend ist. Dabei hat es Art. 152 Abs. 2 ZPO erwähnt. "Dies gilt
umso mehr, als die meisten kantonalen Verfahrensordnungen (vgl. Art. 61 ATSG)
subsidiär auf die ZPO verweisen (...) " (E. 5.1.1; vgl. auch Urteil 8C_735/2016
vom 27. Juli 2017 E. 5.3.1-5). Nach Art. 152 Abs. 2 ZPO werden rechtswidrig
beschaffte Beweismittel nur berücksichtigt, wenn das Interesse an der
Wahrheitsfindung überwiegt.

3.3. Das kantonale Versicherungsgericht hat - ausgehend davon, dass die Frage
der Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise (auch) eine solche des
kantonalen Rechts ist, welches Art. 152 Abs. 2 ZPO für sinngemäss anwendbar
erklärt - eine Interessenabwägung vorgenommen. Es ist zum Ergebnis gelangt,
dass im vorliegenden Fall ein erhebliches Interesse an der Wahrheitsfindung
einem jedenfalls nicht erhöhten Interesse am Schutz des verletzten Rechtsgutes,
namentlich die Persönlichkeit nach Art. 28 ZGB, gegenüberstehe (unter Hinweis
auf BGE 140 III 6 E. 3.1 S. 8). Es hat daher die Verwertbarkeit der
Observationsergebnisse bejaht. Die Beschwerdeführerin äussert sich nicht zu den
betreffenden Erwägungen. Es besteht kein Grund zu Weiterungen, zumal
unbestritten die Observation strikt auf den öffentlich frei einsehbaren Raum
beschränkt war. Dem Einwand, dass die Abklärungsmassnahme nicht von der
Beschwerdegegnerin, sondern von der involvierten Vorsorgeeinrichtung angeordnet
worden war, ist die Vorinstanz mit dem Hinweis auf die Amtshilfe nach Art. 32
Abs. 2 ATSG bzw. Art. 87 BVG begegnet, wozu sich die Versicherte nicht äussert
(Art. 42 Abs. 2 BGG). Sodann werden unter dem Gesichtspunkt der Fairness des
Verfahrens insgesamt (Urteil 9C_806/2016 vom 14. Juli 2017 E. 5.2.1) keine
Mängel in Bezug auf die Verwendung des Observationsmaterials geltend gemacht,
etwa es habe keine Gelegenheit bestanden, deren Echtheit zu bestreiten; ebenso
wenig wird deren Eignung, Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit zu wecken, in Frage
gestellt.

3.4. Aus der grundsätzlichen Verwertbarkeit der Observationsergebnisse folgt
auch diejenige des psychiatrischen Gutachtens vom       15. August 2015, soweit
es darauf abstellt. Der Beweiswert der Expertise wird im Übrigen nicht
bestritten.

4. 
Schliesslich hat die Vorinstanz in E. 6.6 des angefochtenen Entscheids
dargelegt, dass BGE 141 V 281 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Die
Beschwerdeführerin äussert sich nicht dazu. Auf ihr Vorbringen, die Vorinstanz
hätte ein strukturiertes Beweisverfahren im Sinne dieser Rechtsprechung
durchführen müssen, ist daher nicht einzugehen (Art. 42 Abs. 2 BGG).

5. 
Die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung wird im Übrigen nicht beanstandet. Es
besteht kein Grund zu einer näheren Prüfung.

6. 
Ausgangsgemäss wird die Beschwerdeführerin grundsätzlich kostenpflichtig (Art.
66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann indessen
entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es
wird indessen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie der Gerichtskasse
Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu im Stande ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege für das
bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen und es wird ihr Rechtsanwalt Urs
Hochstrasser als Rechtsbeistand beigegeben.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt,
einstweilen indessen auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 21. August 2017

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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