Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 368/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_368/2017        

Urteil vom 3. August 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Melina Tzikas,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Invalidenrente; Revision; Valideneinkommen),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 29. März 2017.

Sachverhalt:

A. 
A.________, Rechtsanwalt L.L.M, leidet an Multipler Sklerose mit schubförmigem
Verlauf. Seit 7. September 2009 ist er ganz oder teilweise arbeitsunfähig. Mit
Verfügung vom 21. Dezember 2010 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Zürich
rückwirkend ab 1. September 2010 eine Dreiviertelsrente der
Invalidenversicherung zu. Nach zwei befristeten Anstellungen im Zeitraum von
April 2011 bis November 2012 arbeitete A.________ ab 1. Dezember 2012 in einem
50 %-Pensum bei der B.________ AG. Als Ergebnis des im Frühjahr 2014
eingeleiteten Revisionsverfahrens setzte die IV-Stelle mit Verfügung vom 22.
Dezember 2015 die Dreiviertelsrente auf eine halbe Rente herab.

B. 
Die Beschwerde des A.________ mit dem Antrag auf Zusprechung einer ganzen Rente
wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 29.
März 2017 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 29. März 2017 sei aufzuheben, und es seien ihm die
gesetzlichen Leistungen, insbesondere eine ganze Invalidenrente "zuzusprechen".
Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
In der Beschwerde wird die Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels
beantragt. Ein solcher ist indessen nicht erforderlich       (Art. 102 Abs. 3
BGG; vgl. im Übrigen zum Replikrecht BGE 133 I 100 E. 4.6 S. 105).

2. 
Der Beschwerdeführer hat Unterlagen eingereicht, u.a. den Arbeitsvertrag mit
der C._________ AG vom 20./21. August 2008. Bei diesen Dokumenten handelt es
sich um neue Beweismittel im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG. Solche dürfen nur
soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass
gibt, was näher darzulegen ist (BGE 133 III 393 E. 3 S. 395). Der Ausgang des
vorangegangenen Verfahrens allein bildet jedenfalls noch keinen hinreichenden
Anlass für die Zulässigkeit von unechten Noven, die bereits damals ohne
weiteres hätten vorgebracht werden können (Urteil 9C_797/2016 vom 26. Januar
2017 E. 2.2 mit Hinweis).
Novenrechtlich waren im vorinstanzlichen Verfahren grundsätzlich alle Tatsachen
vorzubringen und alle Beweismittel einzureichen, welche für die Bemessung der
Invalidität nach der allgemeinen Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG
i.V.m. Art.28a Abs. 1 IVG) von Bedeutung sein konnten (BGE 142 V 311 E. 2 S.
312). Die neu eingereichten Dokumente dienen dem Nachweis eines höheren
hypothetischen Valideneinkommens (vgl. dazu BGE 125 V 146 E. 2b S. 148 und E.
4.1 hinten) und damit eines höheren Invaliditätsgrades (Art. 28 Abs. 2 IVG) als
der von Vorinstanz und Beschwerdegegnerin ermittelte. Sie hätten daher schon im
kantonalen Verfahren zu den Akten gegeben werden müssen, und zwar umso mehr,
als von Anfang an einzig dieser Bemessungsfaktor umstritten war. Es wird nicht
geltend gemacht, dies sei aus nicht vom Beschwerdeführer zu vertretenden
Gründen nicht möglich gewesen. Die betreffenden Unterlagen haben daher
unbeachtet zu bleiben.

3. 
Aufgrund der Beschwerdebegehren (und deren Begründung) bildet Streitgegenstand,
ob der Beschwerdeführer Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung
hat (BGE 133 II 35 E. 2 S. 38). Die Dreiviertelsrente bis 31. Januar 2016 und
die von der Vorinstanz bestätigte halbe Rente ab 1. Februar 2016 (Art. 88bis
Abs. 2 lit. a IVV) stehen ausser Diskussion (Art. 107 Abs. 1 BGG). Unbestritten
ist im Übrigen, dass die Voraussetzungen für die revisionsweise Überprüfung der
Dreiviertelsrente gegeben sind (Art. 17 Abs. 1 ATSG; BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10).

4. 
Die Vorinstanz hat für 2015 einen Invaliditätsgrad von 57 %          ([[Fr.
189'697.- - Fr. 80'800.-]/Fr. 189'697.-] x 100 %; zum Runden BGE 130 V 121)
ermittelt, was Anspruch auf eine halbe Rente gibt (Art. 28 Abs. 2 IVG). Das
Invalideneinkommen von Fr. 80'800.- ist unbestritten.

4.1. Für die Ermittlung des Valideneinkommens ist entscheidend, was die
versicherte Person im massgebenden Zeitpunkt aufgrund ihrer beruflichen
Fähigkeiten und persönlichen Umstände als Gesunde tatsächlich verdient hätte.
Da nach empirischer Feststellung in der Regel die bisherige Tätigkeit im
Gesundheitsfall weitergeführt worden wäre, ist grundsätzlich vom letzten vor
Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung erzielten, der Teuerung sowie
der realen Einkommensentwicklung angepassten Verdienst auszugehen. Ausnahmen
müssen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt sein (BGE 139 V 28 E.
3.3.2 S. 30; Urteil 9C_525/2016 vom 15. März 2017 E. 5.1). Da die Invalidität
der voraussichtlich bleibenden oder längere Zeit dauernden Erwerbsunfähigkeit
zu entsprechen hat (vgl. Art. 8 Abs. 1 ATSG), ist auch die berufliche
Weiterentwicklung zu berücksichtigen, die eine versicherte Person normalerweise
vollzogen hätte. Allerdings müssen konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass
ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ein beruflicher Aufstieg und ein
entsprechend höheres Einkommen tatsächlich realisiert worden wären. Blosse
Absichtserklärungen der versicherten Person genügen nicht. Es müssen bereits
bei Eintritt des Gesundheitsschadens entsprechende konkrete Schritte wie
Kursbesuche, Aufnahme eines Studiums, Ablegung von Prüfungen usw. kundgetan
worden sein (Urteile 8C_741/2016 vom    3. März 2017 E. 5, 9C_757/2010 vom 24.
November 2010 E. 4.2; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 287/95 vom 28.
August 1997 E. 5a, in: AHI 1998 S. 166).
Welche berufliche Tätigkeit die versicherte Person ohne gesundheitliche
Beeinträchtigung ausüben würde, ist als Beurteilung hypothetischer
Geschehensabläufe eine vom Bundesgericht lediglich unter eingeschränktem
Blickwinkel überprüfbare Tatfrage (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG), soweit sie auf
Beweiswürdigung beruht, selbst wenn darin auch Schlussfolgerungen aus der
allgemeinen Lebenserfahrung berücksichtigt werden (Urteil 9C_85/2009 vom 15.
März 2010 E. 3.4 mit Hinweisen, in: SVR 2010 IV Nr. 49 S. 151).

4.2. Die Vorinstanz ist in Würdigung der Akten zum Ergebnis gelangt, es
erscheine nicht als überwiegend wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer ohne
seine Erkrankung an Multipler Sklerose nicht mehr nur als angestellter
Rechtsanwalt, sondern als Partner oder zumindest als Senior Associate in einer
auf Wirtschaftsrecht spezialisierten Anwaltskanzlei tätig wäre und damit ein
Einkommen von Fr. 300'000.- oder wenigstens Fr. 220'000.- erzielen würde.
Insbesondere lasse sich aus dem Schreiben des früheren Vorgesetzten vom 10.
November 2014 nicht der Schluss ziehen, es sei ihm eine Partnerschaft konkret
in Aussicht gestellt oder sogar zugesichert worden. Sie hat daher das
Valideneinkommen ausgehend von dem vor Eintritt des Gesundheitsschadens 2008
erzielten Einkommen von Fr. 147'079.- gemäss IK-Auszug vom 18. November 2009
ermittelt, was hochgerechnet auf ein 100 %-Pensum und angepasst an die
Nominallohnentwicklung für 2015 Fr. 189'697.- ergab.

4.3. Der Beschwerdeführer rügt u.a. eine Verletzung des Beweismasses der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit, wobei er in der Begründung auf das Urteil
9C_85/2009 vom 15. März 2010 verweist, welches einen ähnlich gelagerten Fall
betreffe.

4.3.1. In diesem Entscheid ging es um einen Versicherten, der während des
Studiums zum Maschineningenieur ETH verunfallt war und in der Folge zunächst
eine ganze später eine halbe Rente der Invalidenversicherung bezog. Im Rahmen
eines Rentenrevisionsverfahrens machte er geltend, er wäre in der Firma, in
welcher er teilzeitlich tätig war, ohne gesundheitliche Beeinträchtigung zum
Senior Consultant aufgestiegen, was IV-Stelle und kantonales
Versicherungsgericht indessen nicht als überwiegend wahrscheinlich erachteten.
Das Bundesgericht gelangte aufgrund der Angaben der Arbeitgeberin sowie den
instruktionsrichterlich eingeholten Präzisierungen zur gegenteiligen
Auffassung. Dabei hielt es fest, dass sich bei in jungen Jahren verunfallten
Versicherten die hypothetische Tatsache einer Jahre später im Gesundheitsfall
ausgeübten bestimmten Tätigkeit naturgemäss einem strikten Beweis entzieht. Den
damit verbundenen Beweisschwierigkeiten muss begegnet werden, indem in
derartigen Konstellationen die Anforderungen an den massgebenden Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit nicht überspannt werden (Urteil 9C_85/2009 vom
15. März 2010 E. 3.7 mit Hinweis auf das Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts
B 55/02 vom 9. April 2003, in: SVR 2010 IV Nr. 49 S. 151).

4.3.2. Wie das Bundesgericht an dieser Stelle festhielt, war der Fall des
während des Studiums verunfallten Maschineningenieurs ETH insofern speziell
gelagert, als aufgrund der Angaben der Arbeitgeberin, namentlich zu ihrer
Politik bei der Beförderung vom Consultant zum Senior Consultant, dessen
hypothetische berufliche Validenlaufbahn so genau bekannt war, dass der Einwand
der IV-Stelle, es fehlten konkrete Anhaltspunkte, nicht überzeugte. Dasselbe
lässt sich vorliegend aufgrund des Schreibens des früheren Vorgesetzten des
Beschwerdeführers vom 10. November 2014 nicht sagen. Sodann ist im Unterschied
zu dem im Urteil 9C_85/2009 vom 15. März 2010 beurteilten Sachverhalt der
Gesundheitsschaden nicht während oder kurz nach Abschluss des Jus-Studiums
eingetreten und hat zu einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit geführt.

4.4. Mit seinen weiteren Vorbringen vermag der Beschwerdeführer nicht darzutun,
inwiefern die Vorinstanz den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich
unrichtig (willkürlich; BGE 139 II 404 E. 10.1 S. 445 mit Hinweisen)
festgestellt und daraus rechtsfehlerhafte Folgerungen in Bezug auf die
Entwicklung des Valideneinkommens ohne gesundheitliche Beeinträchtigung gezogen
hat:

4.4.1. Unbestritten war ihm nicht die Stellung eines Senior Associate oder
Partners in der Anwaltskanzlei konkret in Aussicht gestellt oder zugesichert
worden. Gemäss den Ausführungen seines früheren Vorgesetzten im Schreiben vom
10. November 2014 hatten zwar (bereits) während der Semesterferien des
L.L.M-Nachdiplomstudiums Gespräche mit der Partnerschaft der Kanzlei
stattgefunden. Dabei war ihm jedoch nur, aber immerhin sein Potenzial zum
Partner bescheinigt und der Weg dorthin aufgezeigt worden. Dass eine
Partnerschaft auch in einer anderen Anwaltskanzlei eingegangen werden kann, wie
er geltend macht, ist im Lichte der Rechtsprechung (E. 4.1 hiervor) ebenso
wenig von Relevanz wie das Vorbringen, es sei gerichtsnotorisch, dass ein
Anwalt zwischen 35 und 45 Jahren Lohnsprünge mache, die höher sind als die
Teuerung.

4.4.2. Nichts, weder in diesem noch in jenem Sinne, ergibt sich sodann aus dem
Umstand, dass sich in den Arbeitszeugnissen der verschiedenen Anwaltskanzleien
keine Angaben finden betreffend die Akquisition neuer Mandate, was nach
Auffassung der Vorinstanz sinngemäss ein Indiz dafür ist, früher oder später
zum Partner befördert zu werden. Dasselbe gilt hinsichtlich der Frage, ob nach
der Fusion Ende 2008 die Arbeitgeberin unter der Rezession gelitten und zu
wenig Arbeit hatte, was generell gegen die Aufnahme neuer Partner spreche, wie
im angefochtenen Entscheid festgehalten wird. Von diesbezüglichen Abklärungen
sind keine verwertbaren neuen Erkenntnisse zu erwarten, und es ist daher davon
abzusehen.

4.4.3. Schliesslich stellte zwar der Erwerb des L.L.M "zweifellos einen ersten
Schritt in Richtung eines beruflichen Aufstiegs" auf dem Weg zum gesteckten
Karriereziel, "Partner oder zumindest Senior Associate in einer
Wirtschaftsrechtskanzlei" dar, wie die Vorinstanz festgestellt hat. Das allein
kann indessen nicht genügen, um von einem entsprechend höheren Valideneinkommen
auszugehen. Auch mit dem L.L.M in der Tasche erscheint das Erreichen der
angestrebten beruflichen Stellung mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbunden und
kann daher mangels besonderer Umstände wie im erwähnten Urteil 9C_85/2009 vom
15. März 2010 (E. 4.3 hiervor) nicht als hinreichend sicher gelten.
Die Beschwerde ist unbegründet.

5. 
Ausgangsgemäss hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. August 2017
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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