Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 366/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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9C_366/2017            

 
 
 
Urteil vom 19. Oktober 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Parrino, 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Felix Rüegg, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 30. März 2017 (VBE.2016.478). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1965 geborene A.________, von Beruf Autoelektriker und zuletzt als
selbstständiger Kurier tätig gewesen, bezog für die Folgen eines Unfalls mit
Distorsion der Halswirbelsäule am 4. November 1998 sowie eines weiteren
Verkehrsunfalls mit Exazerbation der vorbestehenden Beschwerden gemäss
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 10. September 2004 ab 1.
November 1999 eine ganze Invalidenrente, welche in zwei Revisionsverfahren
bestätigt wurde. 
Im August 2012 leitete die mittlerweile zuständige IV-Stelle des Kantons Aargau
gestützt auf die Schlussbestimmungen der 6. IV-Revision ein weiteres
Revisionsverfahren ein. Sie beauftragte das Begutachtungszentrum
Basel-Landschaft GmbH (BEGAZ), Binningen, mit der polydisziplinären
Begutachtung des Versicherten (Expertise vom 6. November 2014, ergänzt am 23.
Januar 2015). Mit Verfügung vom 16. Juni 2016 hob die IV-Stelle die
Invalidenrente auf den 1. August 2016 auf. Gemäss Mitteilung vom 2. August 2016
gewährte sie A.________ berufliche Wiedereingliederungsmassnahmen. 
 
B.   
In teilweiser Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde änderte das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Verfügung vom 16. Juni 2016
insoweit ab, als es A.________ eine halbe Invalidenrente zusprach (Entscheid
vom 30. März 2017). 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihre
Verfügung vom 16. Juni 2016 zu bestätigen. Ferner ersucht sie um Gewährung der
aufschiebenden Wirkung. 
Während A.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt, verzichtet
das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Die von der Verwaltung im August 2012 eingeleitete, zur Aufhebung der
Invalidenrente führende Revision beruht auf den Schlussbestimmungen der
Änderung des IVG vom 18. März 2011 lit. a Abs. 1 (6. IV-Revision). Danach
werden Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen
Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden,
innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieser Änderung überprüft. Sind
die Voraussetzungen nach Art. 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente
herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Art. 17 Abs. 1
ATSG nicht erfüllt sind. 
Die Vorinstanz hat die Rechtsprechung zu den Voraussetzungen, unter denen
anhaltende somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare psychosomatische
Leiden eine rentenbegründende Invalidität zu bewirken vermögen (BGE 141 V 281)
richtig wiedergegeben und zutreffend dargelegt, dass Gutachten, die noch nicht
unter dem Verfahrensstand von BGE 141 V 281 eingeholt wurden, ihren Beweiswert
nicht per se verlieren (BGE 141 V 281 E. 8 S. 309). 
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz nahm eine einlässliche Würdigung der medizinischen
Unterlagen, insbesondere des polydisziplinären Gutachtens des BEGAZ vom 6.
November 2014 mitsamt erläuterndem Schreiben vom 29. Januar 2015 sowie der
abweichenden Stellungnahmen des Regionalen Ärztlichen Dienstes vor. Sie
gelangte aufgrund der Rechtsprechung gemäss BGE 141 V 281, deren Anwendung auf
das hier im Vordergrund stehende Migräneleiden im Urteil 9C_810/2015 vom 17.
August 2016 als rechtskonform erachtet worden war, namentlich der in der
geänderten Rechtsprechung als massgebend erklärten Indikatoren, zum Schluss,
der Beschwerdeführer sei in der aktuell ausgeübten Tätigkeit als Mitarbeiter im
Bereich Magazin und Montage in einer Metall- und Stahlbaufabrik sowie in
jeglichen angepassten Arbeiten entsprechend dem gutachtlichen Belastungsprofil
zu 50 % arbeitsfähig. Gestützt auf einen Einkommensvergleich ermittelte sie
einen Invaliditätsgrad von 56 %, woraus ein Anspruch auf eine halbe
Invalidenrente resultierte.  
 
3.2. Die IV-Stelle bestreitet diese Auffassung. Sie vertritt die Ansicht,
aufgrund der Indikatoren gemäss BGE 141 V 281 sei eine medizinische
Anspruchsgrundlage, die zur Anerkennung einer Invalidität führen könnte, nicht
nachgewiesen. Die Migräne sei nicht bewiesen; die Diagnose beruhe auf den
subjektiven Angaben des Versicherten. Sodann fänden sich zu den Komplexen
"Persönlichkeit" und "sozialer Kontext" keine Besonderheiten. Es sei
insbesondere kein sozialer Rückzug des Versicherten erkennbar. Das
Migräne-Leiden habe er erstmals bei der Begutachtung erwähnt. Er habe ferner
die Medikamente unregelmässig eingenommen.  
 
4.  
 
4.1. Den Schlussfolgerungen der Vorinstanz, deren Feststellungen auf einer
umfassenden Würdigung der medizinischen Unterlagen basieren, ist
beizupflichten. Gestützt auf die nach der in BGE 141 V 281 geänderten
Rechtsprechung massgebenden Indikatoren hat sie mit zutreffender Begründung die
Rechtsfrage nach dem Vorliegen einer Teilarbeitsunfähigkeit bejaht. Entgegen
der Behauptung der Beschwerdeführerin hat sich das kantonale Gericht keine
Verletzung von Bundesrecht vorwerfen zu lassen, hat es sich doch in seinen
Erwägungen an die Vorgaben der geänderten Rechtsprechung gehalten, die
bezüglich der Frage, ob eine Invalidenrente gestützt auf die zitierten
Schlussbestimmungen der 6. IV-Revision aufzuheben ist, keine Abkehr bringt (BGE
141 V 281 E. 3.7.2 S. 295).  
 
4.2. Was die IV-Stelle weiter gegen den angefochtenen Entscheid einwendet,
vermag zu keinem abweichenden Ergebnis zu führen. Die Beschwerde erschöpft sich
in weiten Teilen in einer appellatorischen Kritik an der vorinstanzlichen
Beweiswürdigung, welche das Bundesgericht nicht zu prüfen hat (E. 1 hievor).
Bei den Darlegungen des kantonalen Gerichts, wonach die Migräne hinreichend
plausibilisiert sei, handelt es sich um eine Beweiswürdigung und damit um eine
Feststellung tatsächlicher Natur, von welcher nur bei offensichtlicher
Unrichtigkeit abzuweichen wäre (E. 1 hievor). Mit der blossen Behauptung, das
Bestehen einer Migräne-Krankheit sei nicht bewiesen, und es lägen diesbezüglich
nur subjektive Angaben des Versicherten vor, vermag die Beschwerdeführerin eine
willkürliche Sachverhaltsfeststellung durch die Vorinstanz weder hinreichend zu
begründen noch gar zu belegen. Soweit sich die IV-Stelle mit einzelnen für die
Beurteilung wesentlichen Beweisthemen wie den Komplexen "Persönlichkeit" und
"sozialer Kontext" befasst, legt sie nicht dar, dass die Erwägungen der
Vorinstanz Bundesrecht verletzen, indem anhand der Feststellungen in der
polydisziplinären Expertise zu Unrecht auf eine teilweise Arbeitsunfähigkeit im
Rechtssinn geschlossen worden sei. Die Feststellung des kantonalen Gerichts,
dass das Migräne-Leiden als erstellt zu gelten hat und zu einer teilweisen
Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit führt, vermag die IV-Stelle im Lichte der
in rechtlicher Hinsicht massgebenden Standard-Indikatoren gemäss BGE 141 V 281
E. 4.1.3 S. 297 ff. nicht mit überzeugender Begründung zu entkräften.  
 
4.3. Schliesslich ist auch der Einwand, die Migräne sei erst bei der
Untersuchung im BEGAZ thematisiert worden, unbegründet. Abgesehen davon, dass
es sich um ein tatsächliches Vorbringen handelt, welches geeignet sein müsste,
die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung als willkürlich erscheinen zu
lassen (E. 1 hievor), ist es in dieser Form nicht zutreffend. Wie bereits die
Vorinstanz ausgeführt hat, wurden schon 2004 migräneartige Exazerbationen
festgehalten, und die Einnahme von Migränemedikamenten ist seit Jahren
aktenkundig. Ebenso hat das kantonale Gericht für das Bundesgericht verbindlich
festgestellt, dass die Medikamenteneinnahme laut Laborbefund mit Bezug auf ein
Medikament im Normbereich, hinsichtlich eines anderen lediglich minim unterhalb
des Normbereichs liege. Auch diese Tatsache lässt entsprechend dem kantonalen
Gerichtsentscheid auf das Vorliegen relevanter Migränebeschwerden mit
Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit schliessen.  
 
5.   
Den Einkommensvergleich der Vorinstanz, welcher einen Invaliditätsgrad von 56 %
ergeben hat, der Anspruch auf eine halbe Invalidenrente begründet, ficht die
IV-Stelle zu Recht nicht an, sodass es bei der Herabsetzung der ganzen auf eine
halbe Invalidenrente ab 1. August 2016 laut vorinstanzlichem Entscheid bleibt. 
 
6.   
Mit dem Entscheid in der Hauptsache wird das Gesuch der Beschwerdeführerin um
aufschiebende Wirkung gegenstandslos. 
 
7.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat dem
Beschwerdegegner überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1
und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der IV-Stelle des Kantons Aargau
auferlegt. 
 
3.   
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat den Beschwerdegegner für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'400.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 19. Oktober 2017 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer 

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