Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 362/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_362/2017        

Urteil vom 8. August 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 28. März 2017.

Sachverhalt:

A. 
Die 1956 geborene A.________ meldete sich im Juni 2007 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Auf der Grundlage des Gutachtens
der Academy of Swiss Insurance Medicine (asim) vom 18. April 2008 wies die
IV-Stelle des Kantons Zürich das Leistungsbegehren mangels eines
Gesundheitsschadens mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit ab (Verfügung vom
20. August 2008). Im November 2009 machte A.________ erneut Leistungen geltend.
Mit Verfügungen vom 29. Oktober 2010 sprach ihr die IV-Stelle eine ganze
Invalidenrente (Invaliditätsgrad 100 %) ab 1. Mai 2010 und eine Entschädigung
für Hilflosigkeit leichten Grades ab 1. Juni 2009 zu. Im Juli 2013 leitete die
Verwaltung ein Revisionsverfahren ein. Nach Abklärungen - insbesondere
Einholung der Expertise des Zentrums für Interdisziplinäre Medizinische
Begutachtungen (ZIMB) vom 27. September 2014 - und Durchführung des
Vorbescheidverfahrens hob sie die Rente und die Hilflosenentschädigung mit
Verfügungen vom 5. resp. 6. November 2015 wiedererwägungsweise auf Ende
Dezember 2015 auf.

B. 
Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich nach Vereinigung der Verfahren mit Entscheid vom 28. März 2017
ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
unter Aufhebung des Entscheids vom 28. März 2017 seien ihr weiterhin eine ganze
Invalidenrente und eine Hilflosenentschädigung auszurichten; eventualiter sei
die Sache zur Neubeurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.

2.1. Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG kann die IV-Stelle jederzeit auf formell
rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese
zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung
ist. Die Wiedererwägung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen
Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung
des Sachverhalts (BGE 117 V 8 E. 2c S. 17 mit Hinweis; Urteil 9C_309/2017 vom
13. Juli 2017 E. 2.2.1). Darunter fallen insbesondere eine Leistungszusprache
ohne oder in unrichtiger Anwendung der massgeblichen Bestimmungen und eine
unvollständige Sachverhaltsabklärung aufgrund einer klaren Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes (vgl. Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG; Urteile
9C_877/2011 vom 22. Mai 2012 E. 3.1; 9C_466/2010 vom 23. August 2010 E. 3.2.2).
Eine auf keiner nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung der massgeblichen
Arbeitsfähigkeit beruhende Invaliditätsbemessung ist nicht rechtskonform und
die entsprechende Verfügung zweifellos unrichtig im wiedererwägungsrechtlichen
Sinne (Urteil 9C_201/2016 vom 18. Juli 2016 E. 4.3 mit Hinweisen). Soweit
ermessensgeprägte Teile der Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund der Sach- und
Rechtslage einschliesslich der Rechtspraxis im Zeitpunkt der rechtskräftigen
Leistungszusprechung (BGE 125 V 383 E. 3 S. 389 f.) in vertretbarer Weise
beurteilt worden sind, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aber aus
(BGE 141 V 405 E. 5.2 S. 414 f.; SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137, 9C_121/2014 E.
3.2.1).

Ob die Verwaltung bei der Rentenzusprache den Untersuchungsgrundsatz (vgl. Art.
43 Abs. 1 ATSG; BGE 132 V 93 E. 4 S. 99 f.) und andere bundesrechtliche
Vorschriften beachtet hat, ist frei überprüfbare Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E.
3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteile 9C_882/2014 vom 23. Juni 2015 E. 3.2; 9C_397/2012
vom 30. Oktober 2012 E. 3.2).

2.2. Liegt in diesem Sinn ein Rückkommenstitel vor, gilt es grundsätzlich, mit
Wirkung ex nunc et pro futuro einen rechtskonformen Zustand herzustellen. Dabei
ist auf der Grundlage eines richtig und vollständig festgestellten Sachverhalts
der Invaliditätsgrad im Zeitpunkt der Verfügung über die Herabsetzung oder
Aufhebung einer Rente zu ermitteln (vgl. Art. 85 Abs. 2 in Verbindung mit Art.
88 bis Abs. 2 IVV; BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10 f.; Urteil 9C_173/2015 vom 29. Juni
2015 E. 2.2, je mit Hinweisen).

3. 
Die Vorinstanz hat die Zusprache einer ganzen Invalidenrente und einer
Hilflosenentschädigung resp. die entsprechenden Verfügungen vom 29. Oktober
2010 für zweifellos unrichtig und deren Wiedererwägung für zulässig gehalten.
Sodann hat sie der Expertise des ZIMB Beweiskraft beigemessen und gestützt
darauf eine uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit als
Raumpflegerin und einen fehlenden Bedarf an lebenspraktischer Begleitung
festgestellt. Folglich hat sie die Aufhebung der Rente und der
Hilflosenentschädigung bestätigt.

4. 

4.1.

4.1.1. Die Beschwerdeführerin stellt die zweifellose Unrichtigkeit der
Verfügungen vom 29. Oktober 2010 in Abrede. Diesbezüglich hat die Vorinstanz
festgestellt, dass die Leistungen lediglich auf der Grundlage des
psychiatrischen/psychologischen Berichts des Medizinischen Zentrums B.________
vom 2. November 2009 und der Stellungnahme des Dr. med. C.________, Facharzt
für Psychiatrie und Psychotherapie beim Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD), vom
23. März 2010 zugesprochen worden seien. Der Bericht des Medizinischen Zentrums
B.________ erschöpfe sich vorwiegend in einer Kritik am asim-Gutachten. Dabei
handle es sich lediglich um eine abweichende Würdigung des gleich gebliebenen
Sachverhalts. Der Bericht des Medizinischen Zentrums B.________ enthalte keine
neuen objektivierbaren Befunde und eine gesundheitliche Veränderung (im
Vergleich zum Zustand bei der Rentenzusprache; vgl. Art. 87 Abs. 3 i.V.m. Abs.
2 IVV [SR 831.201]) sei darin lediglich unsubstanziiert behauptet worden. Die
festgehaltenen Befunde beruhten im Wesentlichen auf den subjektiven Angaben der
Versicherten und ihrer Tochter. Zudem seien deren Angaben unvollständig, sei
doch etwa vergessen worden, dass die Beschwerdeführerin jährlich für drei bis
vier Wochen in die Ferien reise und regelmässig soziale Kontakte habe. Die
Stellungnahme des RAD-Arztes enthalte im Wesentlichen eine kritiklose Würdigung
des Berichts des Medizinischen Zentrums B.________, aber weder eine Anamnese
noch eine Auseinandersetzung mit den Vorakten, insbesondere dem asim-Gutachten
vom 18. April 2008. Der RAD-Arzt habe die Abweichungen zu den im Bericht des
Medizinischen Zentrums B.________ enthaltenen Diagnosen nicht begründet. Seine
Schlussfolgerungen bezüglich der Leistungsfähigkeit der Versicherten seien
nicht nachvollziehbar. Bis zur Erstellung der RAD-Stellungnahme habe sich die
Versicherte nie einer längerdauernden stationären psychiatrischen Behandlung
unterzogen.

4.1.2. Dass diese Feststellungen offensichtlich unrichtig (d.h. unhaltbar,
willkürlich: BGE 135 II 145 E. 8.1 S. 153; Urteil 8C_734/2016 vom 12. Juli 2017
E. 1.2) sein sollen, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht geltend gemacht.
Dass die Vorinstanz im Zusammenhang mit der festgestellten Unvollständigkeit
der Angaben Ausführungen im ZIMB-Gutachten herangezogen hat, stellt keine
Rechtsverletzung dar. Eine solche ist auch sonst nicht erkennbar, weshalb die
Feststellungen für das Bundesgericht verbindlich bleiben (E. 1).

4.2. Auf dieser Grundlage hat das kantonale Gericht eine Verletzung der
Abklärungspflicht (vgl. Art. 43 Abs. 1 ATSG) bei den Leistungszusprachen
bejaht. Es hat dabei der Rechtsprechung betreffend die Beweiskraft
medizinischer Berichte (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit
Hinweis) Rechnung getragen. Zudem hat es auf die spezifische Aufgabe
behandelnder Ärzte (vgl. BGE 125 V 351 E. 3b/cc S. 353) verwiesen und darauf,
dass im Streitfall eine direkte Leistungszusprache einzig gestützt auf die
Angaben der behandelnden Ärztinnen und Ärzte kaum je in Frage kommt (BGE 135 V
465 E. 4.5 S. 470 f.). Schliesslich hat es erwogen, dass weder im Bericht des
Medizinischen Zentrums B.________ noch in der RAD-Stellungnahme (und damit auch
nicht in den Verfügungen vom 29. Oktober 2010) die damals geltende
Rechtsprechung zu somatoformen Schmerzstörungen (BGE 130 V 352; vgl. dazu auch
BGE 141 V 281 E. 3.4.1.1 S. 291 mit Hinweisen) und zur Bedeutung von leichten
bis mittelgradigen depressiven Episoden (Urteil 9C_803/2008 vom 29. Mai 2009 E.
5.3.2 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil 8C_753/2016 vom 15. Mai 2017 E. 4)
berücksichtigt worden sei. Die Beschwerdeführerin macht (zu Recht) nicht
geltend, dass die Leistungszusprachen im Lichte von BGE 141 V 281 standhalten
sollen.

4.3. Nach dem Gesagten ist nicht ersichtlich, inwiefern die Vorinstanz Recht
verletzt haben soll, indem sie die Verfügungen vom 29. Oktober 2010 als
zweifellos unrichtig im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG (E. 2.1) qualifiziert
hat. Damit erübrigen sich Weiterungen zum Vorliegen eines Revisionsgrundes im
Sinne von Art. 17 ATSG.

4.4. Soweit sich die Versicherte auf die vom ZIMB-Gutachten abweichenden
Einschätzungen behandelnder Ärzte beruft, ergibt sich nichts zu ihren Gunsten:
Einerseits sprechen solche nicht zwingend gegen die Beweiskraft des Gutachtens
(BGE 125 V 351 E. 3b/bb und cc S. 353); anderseits setzte sich der
psychiatrische ZIMB-Experte nachvollziehbar mit den Ausführungen in den
entsprechenden Berichten auseinander. Schliesslich substanziiert die
Beschwerdeführerin nicht (vgl. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), weshalb die
vorinstanzliche Auffassung, wonach die von den ZIMB-Ärzten diagnostizierte
Schmerzstörung auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung von BGE 141 V 281
keine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit hat, unzutreffend sein soll. Darauf
ist nicht weiter einzugehen. Die vorinstanzlichen Feststellungen betreffend die
Arbeitsfähigkeit und den Bedarf an lebenspraktischer Begleitung (E. 3) bleiben
somit ebenfalls verbindlich (E. 1). Die Beschwerde ist unbegründet.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 8. August 2017
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Die Gerichtsschreiberin: Dormann

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