Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 329/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_329/2017  
 
 
Urteil vom 12. April 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Urs Hochstrasser, 
Beschwerdegegner, 
 
Personalvorsorgestiftung X.________ 
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Ballmer. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 14. März 2017 (VBE.2016.667). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1969 geborene A.________ ist als Berater bei der B.________ AG tätig. Am
11. Dezember 2013 meldete er sich unter Hinweis auf eine Depression bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Gestützt auf Abklärungen in
erwerblicher und medizinischer Hinsicht, insbesondere ein Gutachten des
Psychiaters Dr. med. C.________ vom 18. Januar 2016 und eine Stellungnahme des
Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 2. Februar 2016 lehnte die IV-Stelle
des Kantons Aargau den Anspruch des Versicherten auf Leistungen der
Invalidenversicherung am 30. September 2016 verfügungsweise ab. 
 
B.   
Die hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau gut, hob die angefochtene Verfügung auf und sprach A.________ eine
Viertelsrente der Invalidenversicherung zu (Entscheid vom 14. März 2017). 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihre Verfügung
vom 30. September 2016 zu bestätigen. Ferner ersucht sie um Gewährung der
aufschiebenden Wirkung. 
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Die zum Verfahren
beigeladene Vorsorgeeinrichtung des Versicherten, die Personalvorsorgestiftung
X.________ nimmt Stellung zur Beschwerde, ohne einen Antrag zu stellen, während
das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
In einer weiteren Eingabe (vom 18. September 2017) lässt sich A.________ zu den
Ausführungen der Personalvorsorgestiftung vernehmen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem
sie den Anspruch auf eine Viertelsinvalidenrente bejaht hat. Sie hat die
Bestimmungen über den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung
mit Art. 7 f. ATSG; BGE 130 V 343 E. 3.2.1 S. 346) sowie den Anspruch auf eine
Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % (Art. 28 Abs. 1
IVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
 
3.   
3.1 Nach der früheren Rechtsprechung wurde bei leichten bis mittelschweren
Störungen aus dem depressiven Formenkreis, seien sie im Auftreten rezidivierend
oder episodisch, angenommen, dass - aufgrund der nach gesicherter
psychiatrischer Erfahrung regelmässig guten Therapierbarkeit - hieraus keine
IV-rechtlich relevante Einschränkung der Arbeitsfähigkeit resultiert. Den
leichten bis mittelschweren depressiven Erkrankungen fehlt es, solange sie
therapeutisch angehbar sind, an einem hinreichenden Schweregrad der Störung, um
diese als invalidisierend anzusehen (vgl. BGE 140 V 193    E. 3.3 S. 196;
Urteil 8C_753/2016 vom 15. Mai 2017). Nur in der - seltenen, gesetzlich
verlangten Konstellation mit Therapieresistenz - war den normativen
Anforderungen des Art. 7 Abs. 2 Satz 2 ATSG für eine objektivierende
Betrachtungs- und Prüfungsweise Genüge getan (BGE 141 281 E. 3.7.1 bis 3.7.3 S.
295 f.). 
3.2 In BGE 143 V 409 und 143 V 418 hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung
geändert und festgestellt, dass die Therapierbarkeit allein keine
abschliessende evidente Aussage über das Gesamtmass der Beeinträchtigung und
deren Relevanz im IV-rechtlichen Kontext zu liefern vermöge. Weiter hat es
erkannt, dass sämtliche psychischen Erkrankungen, namentlich auch depressive
Störungen leicht- bis mittelgradiger Natur, grundsätzlich einem strukturierten
Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen sind, welches bislang bei
Vorliegen somatoformer Schmerzstörungen anhand eines Kataloges von Indikatoren
durchgeführt wird. Dieses bleibt entbehrlich, wenn im Rahmen beweiswertiger
fachärztlicher Berichte (vgl. BGE 125 V 351) eine Arbeitsunfähigkeit in
nachvollziehbar begründeter Weise verneint wird und allfälligen gegenteiligen
Einschätzungen mangels fachärztlicher Qualifikation oder aus anderen Gründen
kein Beweiswert beigemessen werden kann (Urteil 8C_841/2016 vom 30. November
2017). 
 
4.   
4.1 Gemäss psychiatrischem Gutachten des Dr. med. C.________, das am 18. Januar
2016, in Kenntnis von BGE 141 V 281, erstattet worden ist und - insbesondere in
Beantwortung des ihm unterbreiteten Fragenkatalogs - auf die entsprechenden
Indikatoren Bezug nimmt, leidet der Beschwerdegegner seit Juni 2013 an einer
mittelgradigen depressiven Episode (ICD-10 F 32.1), welche die Arbeitsfähigkeit
aus psychiatrischer Sicht um 40 % einschränkt. Die Vorinstanz hat sich auf
diese fachärztliche Stellungnahme gestützt und in Anwendung der früheren
Rechtsprechung ausgeführt, dass von einem therapieresistenten Leiden auszugehen
sei, habe sich der Versicherte doch den zumutbarerweise in Betracht fallenden
Behandlungen unterzogen, ohne dass eine deutliche Besserung des
Beschwerdebildes eingetreten sei. 
4.2 Dass die seitens des Gutachters attestierte Arbeitsunfähigkeit von 40 %
auch rechtlich relevant ist, hat die Vorinstanz gestützt auf die frühere
Rechtsprechung (vgl. E. 3.1 hievor), insbesondere die danach als massgebend
erachtete Therapieresistenz des psychischen Gesundheitsschadens, bejaht. Dieser
Begründung kann nicht gefolgt werden. Denn die Frage nach der
Rechtserheblichkeit der mit der mittelgradigen depressiven Störung verbundenen
Arbeitsunfähigkeit ist nunmehr aufgrund der unlängst geänderten Rechtsprechung
im Lichte des Indikatorenkatalogs gemäss BGE 141 V 281 zu prüfen. 
 
5.   
5.1 Aus der Expertise des Dr. med. C.________ geht nicht hervor, dass die
Depression die Folge einer schwierigen psychosozialen Situation ist. Ebenso
zeigt der Beschwerdegegner weder Verdeutlichungstendenzen noch liegt eine
Aggravation vor. Vielmehr schreibt der Gutachter, dass er keine psychosozialen
Belastungsfaktoren feststelle. In seinem familiären Umfeld sei der Versicherte
gut eingebettet und am Arbeitsplatz erhalte er durch seine Vorgesetzten viel
Wohlwollen und Unterstützung. 
5.2 Die diagnoserelevanten Befunde und Symptome, die im Komplex
Gesundheitsschädigung zu prüfen sind (BGE 141 V 281 E. 4.3.1.1    S. 298 f.),
sind nicht besonders ausgeprägt: Der Versicherte zeigt ein mit dem
Gesundheitsschaden korrelierendes Beschwerdebild. Er ist affektiv deprimiert,
ratlos, nachdenklich, affektarm und innerlich leicht unruhig. Der Antrieb ist
mittelgradig gehemmt, die affektive Schwingungsfähigkeit klinisch gehemmt und
zum depressiven Pol verschoben. 
5.3 Wie die Vorinstanz darlegt, hat der Beschwerdegegner nebst einer
mehrwöchigen stationären Behandlung in der Klinik C.________ (vom 17. Oktober
bis 3. Dezember 2013), eine umfassende und konstante ambulante Therapie,
insbesondere medikamentöser Natur, mittels verschiedener Antidepressiva,
absolviert, die vom Gutachter als adäquat eingestuft wird. Insofern kann mit
Blick auf den Indikator Behandlungserfolg oder -resistenz nach über drei Jahren
vom Scheitern einer indizierten, lege artis und mit optimaler Kooperation des
Versicherten durchgeführten Behandlung gesprochen werden, was nach der
Rechtsprechung auf eine negative Prognose hindeutet (BGE a.a.O. E. 4.3.1.2 S.
299). 
5.4 Zu beachten gilt es ferner, dass der Versicherte trotz der seit Juni 2013
anhaltenden Depression in einem Teilzeitpensum als Versicherungsberater auf
Provisionsbasis arbeitet und damit der ihm obliegenden
Selbsteingliederungspflicht nachkommt, was als weiteres Indiz für eine
invalidisierende Einschränkung in Betracht zu ziehen ist (vgl. BGE a.a.O. E.
4.3.1.2 S. 299 f.). Ressourcen gewinnt der Versicherte aus seinem familiären
Umfeld, in welchem er sich geborgen fühlt, und der Unterstützung in seinem
Beruf, wo er das Wohlwollen und Vertrauen seiner Vorgesetzten geniesst. Dies
ändert indessen nichts daran, dass kausal allein massgeblich ist, wie sich die
Auswirkungen der Gesundheitsbeeinträchtigung konkret manifestieren (BGE a.a.O.
E. 4.3.3 S. 303 oben). 
5.5 In Bezug auf den Indikator einer gleichmässigen Einschränkung des
Aktivitätenniveaus in allen vergleichbaren Lebensbereichen, der auf die Frage
abzielt, ob die diskutierte Einschränkung in Beruf und Erwerb einerseits und in
den sonstigen Lebensbereichen (z. B. Freizeitgestaltung) anderseits gleich
schlüssig ausgeprägt ist, hält Gutachter Dr. med. C.________ fest, der
Versicherte sei durch die mittelgradige Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit
in seiner beruflichen Leistungsfähigkeit deutlich eingeschränkt. Durch den
Antriebsmangel und seine negative Selbstwahrnehmung sei er auch in seinen
Freizeitaktivitäten eingeschränkt. 
5.6 Was die Inanspruchnahme therapeutischer Optionen betrifft, kann auf die für
das Bundesgericht verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz (E.
1 hievor) zur psychopharmakologischen Behandlung verwiesen werden, die sich,
ebenso wie die Psychotherapie, über längere Zeit erstreckt hat, während andere
Behandlungsmöglichkeiten offenbar seitens der beteiligten Psychiater nicht als
Erfolg versprechend in Betracht gezogen worden sind. Auch Gutachter Dr. med.
C.________ hält dafür, dass die bisherige Behandlung weiterzuführen ist,
allenfalls mit einer Modifikation der eingesetzten Medikamente. Es finden sich
keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdegegner die angeordneten Therapien
nicht befolgt hat. 
 
6.   
Die in der Beschwerde erhobenen Einwendungen sind nicht geeignet, den
vorinstanzlichen Entscheid im Ergebnis als bundesrechtswidrig erscheinen zu
lassen. Die IV-Stelle stützt sich in ihrer Begründung einzig auf die mit BGE
143 V 409 und 143 V 418 geänderte frühere Rechtsprechung, wonach auf die
Therapierbarkeit einer mittelgradigen Depression abgestellt wurde (E. 3.1
hievor), weshalb ihre Einwendungen unbehilflich sind. Nach dem Gesagten ist dem
kantonalen Gericht im Ergebnis beizupflichten. In Würdigung der
Stadardindikatoren ist die von Psychiater Dr. med. C.________ im Gutachten vom
18. Januar 2016 attestierte Arbeitsunfähigkeit von 40 % auch aus rechtlicher
Sicht relevant. Der angefochtene Entscheid ist damit rechtens, was auch in
erwerblicher Hinsicht mit Bezug auf den aufgrund eines Prozentvergleichs
ermittelten Invaliditätsgrad von 40 % gilt, der laut Art. 28    Abs. 2 IVG den
Anspruch auf eine Viertelsrente begründet. 
 
7.   
Mit dem Urteil in der Hauptsache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung der
Beschwerde gegenstandslos. 
 
8.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat dem
Beschwerdegegner überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1
und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der IV-Stelle des Kantons Aargau
auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das letztinstanzliche
Verfahren mit Fr. 1'500.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, der Personalvorsorgestiftung für die
Angestellten der Generalagenturen der Allianz Suisse, dem Versicherungsgericht
des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich
mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 12. April 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer 

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