Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 324/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_324/2017        

Urteil vom 6. Juli 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Petra Oehmke,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zug,
Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug
vom 30. März 2017.

Sachverhalt:

A. 
A.________ meldete sich im September 2011 unter Hinweis auf Schulterbeschwerden
beidseits bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle
des Kantons Zug klärte die gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse ab.
U.a. liess sie den Versicherten bidisziplinär (internistisch-rheumatologisch
und psychiatrisch) untersuchen und begutachten (Expertisen Dr. med. B.________
und Dr. med. C.________ vom 23. Mai 2016). Mit Verfügung vom 21. September 2016
sprach sie A.________ ab 1. März 2012 bis 31. August 2013 eine ganze Rente und
vom 1. September 2013 bis 28. Februar 2014 eine Dreiviertelsrente zu.
Hinsichtlich im Einwand gegen den Vorbescheid vom 13. Juli 2016 eventualiter
beantragter beruflicher Massnahmen hielt sie fest, solche seien vor einer
nachgewiesenen Alkohol- und Drogenabstinenz von sechs Monaten nicht
erfolgversprechend.

B. 
Die Beschwerde des A.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, nach zweifachem Schriftenwechsel mit
Entscheid vom 30. März 2017 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 30. März 2017 sei aufzuheben, und die ihm mit Wirkung ab 1.
März 2012 zugesprochene IV-Rente sei nicht zu befristen; eventualiter sei die
Sache zwecks Wiederholung der medizinischen Abklärungen und Gewährung von
beruflichen Massnahmen an die IV-Stelle zurückzuweisen, unter Feststellung,
dass er während der Dauer der Abklärungsmassnahmen bzw. bis zum Beginn der
beruflichen Massnahmen Anspruch auf eine ganze IV-Rente hat; es sei ihm die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
Die IV-Stelle des Kantons Zug ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
A.________ hat Bemerkungen zu den Ausführungen der IV-Stelle gemacht.

Erwägungen:

1. 
Streitgegenstand bilden der unbefristete Anspruch auf eine ganze Rente ab 1.
September 2013 (Art. 28 IVG) sowie der nicht unter Auflagen im Sinne der
Schadenminderungspflicht gestellte grundsätzliche Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art (Art. 8 Abs. 3 lit. b und Art. 15 ff.
IVG). Entgegen den Vorbringen der Beschwerdegegnerin in ihrer Vernehmlassung
ist insoweit ein Anfechtungsgegenstand (BGE 125 V 413 E. 1a S. 414) gegeben.
Die ganze Rente vom 1. März 2012 bis 31. August 2013 sowie die
Dreiviertelsrente vom 1. September 2013 bis 28. Februar 2014 stehen ausser
Diskussion (Art. 107 Abs. 1 BGG).

2. 
Das kantonale Verwaltungsgericht ist gestützt auf die Gutachten der Dres. med.
B.________ und C.________ vom 23. Mai 2016 von einer Arbeitsunfähigkeit von 100
% (März 2012 bis Ende Mai 2013) sowie von einer Arbeitsfähigkeit von 50 % (Juni
2013 bis Ende November 2013) und von 100 % (ab Dezember 2013) in einer
angepassten Verweistätigkeit ausgegangen. Diese Arbeitsfähigkeit hat es unter
Berücksichtigung der persönlichen und beruflichen Gegebenheiten des
Versicherten auf dem hypothetischen ausgeglichenen Arbeitsmarkt (vgl. dazu BGE
134 V 64 E. 4.2.1 S. 70) als verwertbar erachtet. Weiter hat es in summarischer
Prüfung die von der IV-Stelle durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG i.V.m.
Art. 28a Abs. 1 IVG) ermittelten Invaliditätsgrade von 100 % (bis Ende Mai
2013), 64 % (bis Ende November 2013) und 21 % (ab Dezember 2013) sowie die sich
daraus ergebende Dauer der ganzen und der Dreiviertelsrente bestätigt (Art. 28
Abs. 2 IVG; Art. 88a Abs. 1 und Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV; BGE 140 V 207 E.
4.1 S. 211). Mit Bezug auf Massnahmen beruflicher Art ist die Vorinstanz zum
Ergebnis gelangt, dass die IV-Stelle solche zu Recht gestützt auf den Grundsatz
der Schadenminderungspflicht unter die Bedingung einer vorgängigen Entzugs- und
Entwöhnungstherapie gestellt habe (vgl. Art. 7 Abs. 2 lit. d IVG; BGE 113 V 22
E. 4a S. 28; Urteil 9C_309/2015 vom 27. Oktober 2015 E. 4.2).

3. 
Die Vorbringen in der Beschwerde, welche die Rente betreffen, richten sich
einzig gegen die tatsächlichen medizinischen Grundlagen des angefochtenen
Entscheids. Soweit sie hinreichend substanziiert sind (Art. 42 Abs. 2 BGG; BGE
138 I 171 E. 1.4 S. 176), insbesondere damit nicht bloss appellatorische Kritik
an der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung geübt wird
(Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 137 II 353 E. 5.1 S. 356), sind
sie indessen nicht stichhaltig:

3.1. Mit Bezug auf den bestrittenen Beweiswert (vgl. dazu BGE 134 V 231 E. 5.1
S. 232) des internistisch-rheumatologischen Gutachtens vom 23. Mai 2016 hat die
Vorinstanz einlässlich zum Vorwurf der Voreingenommenheit und Befangenheit des
Experten Stellung genommen. Der Beschwerdeführer äussert sich nicht dazu, womit
es sein Bewenden hat. Weiter ist fraglich, ob der Gutachter, welchem die
IV-Akten im Januar 2016 zugestellt worden waren, Kenntnis vom Bericht der
D.________ vom 20. April 2016 hatte und er sich demzufolge überhaupt dazu hätte
äussern können. Abgesehen davon geht es bei der Integration in den ersten
Arbeitsmarkt nicht um eine vom Arzt zu beantwortende Frage (BGE 107 V 17 E. 2b
S. 20; Urteil 9C_943/2009 vom 10. Februar 2010 E. 4.2.3 mit Hinweisen), wie
auch die Vorinstanz sinngemäss richtig und unwidersprochen festgestellt hat.
Weiter war dem rheumatologischen Gutachter der Bericht der Klinik E.________
vom 3. Mai 2016 bekannt. Diesen erwähnte er nicht nur im Aktenauszug, sondern
er hielt auch ausdrücklich fest, die darin enthaltenen Angaben in der (weiter
oben geführten) Diskussion (der Befunde) berücksichtigt zu haben. Sodann lässt
der Beschwerdeführer bei der Auflistung der seines Erachtens erheblichen
Diskrepanzen zwischen dem Bericht vom 3. Mai 2016 und dem Gutachten vom 23. Mai
2016 unerwähnt, dass auch die Ärzte der Klinik E.________ eine Neurokompression
verneinten. Entgegen seinen Vorbringen unterstellte ihm im Übrigen der Experte
nicht eine Somatisierungsstörung, eventuell sogar Aggravationstendenz; vielmehr
hielt dieser fest, aufgrund der lediglich teilweise objektivierbaren
(Intensität der geschilderten) Beschwerden seien u.a. eine solche oder
krankheitsfremde Gründe zu diskutieren.

3.2. Unbehelflich ist sodann der Einwand, das psychiatrische Gutachten vom 23.
Mai 2016 beantworte die Frage nicht schlüssig, ob das Suchtgeschehen ein
solches primärer oder sekundärer Natur sei. Es ist nicht ersichtlich und wird
nicht aufgezeigt, inwiefern allfällige Anhaltspunkte für eine "frühkindliche
oder jugendliche Störung der Persönlichkeitsentwicklung" in den Strafakten bzw.
in der im Zusammenhang mit der Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt in
der Jugendzeit eingeholten psychiatrischen Expertise zu einer anderen
Beurteilung geführt hätten.

3.3. Schliesslich weist der Beschwerdeführer zur Begründung seines
gegenteiligen Standpunktes betreffend die Verwertbarkeit der Arbeitsfähigkeit
in einer angepassten Tätigkeit einzig auf die Möglichkeit der vorzeitigen
Pensionierung ab dem 60. Altersjahr im Baugewerbe hin. Daraus kann indessen
nicht gefolgert werden, dass (auch) "ein ausgeglichener Arbeitsmarkt keinen
Bedarf an älteren, körperlich verbrauchten Arbeitnehmern hat, selbst wenn diese
noch gesund sein sollten". Im Übrigen äussert er sich nicht zu den
diesbezüglichen Erwägungen im angefochtenen Entscheid, womit es sein Bewenden
hat.
Die Beschwerde ist somit im Rentenpunkt unbegründet (Art. 109   Abs. 2 lit. a
BGG).

4.

4.1. Den Anspruch des Beschwerdeführers auf berufliche Massnahmen hat die
Vorinstanz wegen der fehlenden Eingliederungsfähigkeit verneint. Der andauernde
Alkoholkonsum verhindere eine Eingliederung auf dem ersten Arbeitsmarkt, wie in
der angefochtenen Verfügung festgehalten werde, und lasse demnach solche
Vorkehren als wenig sinnvoll erscheinen. Dementsprechend werde dem
Beschwerdeführer eine Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung von Alkohol empfohlen.
Eine solche sei gemäss dem psychiatrischen Gutachter aus medizinischer Sicht
zumutbar. Indessen fehle es offenbar an der Bereitschaft zur vollkommenen
Abstinenz. Letztere unterliege jedoch ganz klar dem im Sozialversicherungsrecht
geltenden Grundsatz der Schadenminderungspflicht. In diesem Sinne werde dem
Beschwerdeführer nahegelegt, sich einer solchen Behandlung zu unterziehen.

4.2. Die Sichtweise des kantonalen Verwaltungsgerichts findet in den Akten
keine hinreichende Stütze. Der psychiatrische Gutachter empfahl zwar eine
Entzugs- und Entwöhnungstherapie, und er bezeichnete eine entsprechende
Behandlung als zumutbar. Eine Unfähigkeit zur Therapieadhärenz aus
gesundheitlichen Gründen verneinte er. Er hielt indessen auch fest, dass nicht
krankheitsbedingte Faktoren (z.B. fehlender Berufsabschluss, Abwesenheit vom
und Lage am Arbeitsmarkt, Lebensalter, finanzielle Sorgen, Konflikt mit der IV)
die persönliche Motivation und die sozialen Möglichkeiten zur
Leistungssteigerung beeinträchtigten. Sie würden auch bei einer allfälligen
Behandlung (der Störungen durch den Gebrauch von psychotropen Substanzen)
weiter bestehen und den Verlauf weit überwiegend beeinflussen. Unter diesen
Umständen ist nicht einsehbar, inwiefern sich mit einer Entzugs- und
Entwöhnungstherapie bzw. mit einer  vollständigen Abstinenz die
Eingliederungsfähigkeit verbessern lassen sollte, wie der Beschwerdeführer
vorbringt, zumal das Suchtgeschehen die Arbeitsfähigkeit aus medizinischer
Sicht nicht einschränkt. Umgekehrt bestehen keine Anhaltspunkte, dass der
Alkohol einer erfolgreichen beruflichen Eingliederung entgegenstünde. Dem
Gutachten lässt sich nichts in diesem Sinne entnehmen. Im Grundsatz mag zwar
richtig sein, "dass Personen, welche ein akutes Alkoholproblem haben, nicht
eingegliedert werden können", wie die Beschwerdegegnerin vernehmlassungsweise
vorbringt. Damit ist indessen für den vorliegenden Fall nichts gewonnen, und
zwar umso weniger als offenbar der Alkoholkonsum den Beschwerdeführer bisher in
seiner Erwerbstätigkeit nicht wesentlich beeinträchtigt hat.

4.3. Da aufgrund der Akten eine berufliche Massnahmen ausschliessende fehlende
Eingliederungsbereitschaft (vgl. dazu Urteile 8C_19/2016 vom 4. April 2016 E.
5.2.3, in: SVR 2016 IV Nr. 27 S. 80, und 9C_231/2015 vom 7. September 2015 E.
4.2 mit Hinweisen) zu verneinen ist, hätten Beschwerdegegnerin und Vorinstanz
den Anspruch des Beschwerdeführers auf berufliche Massnahmen nicht mit der
Begründung materiell ungeprüft lassen dürfen, er habe sich zunächst im Rahmen
seiner Schadenminderungspflicht einer Alkoholentzugs- und
-entwöhnungsbehandlung zu unterziehen. Insoweit verletzt der angefochtene
Entscheid Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG).
Die Rückweisung der Sache zur Prüfung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf
berufliche Massnahmen hat nicht zur Folge, dass die (Dreiviertels-) Rente
mindestens bis zum Erlass der diesbezüglichen Verfügung weiter auszurichten
wäre. Die Rechtsprechung, wonach die Renten von Versicherten, welche das 55.
Altersjahr vollendet haben, in der Regel erst nach Prüfung und allenfalls
Durchführung von Eingliederungsmassnahmen revisions- oder wiedererwägungsweise
herabgesetzt oder aufgehoben werden dürfen (vgl. statt vieler Urteil 9C_231/
2015 vom 7. September 2015 E. 2 mit Hinweis), ist bei erstmaliger
Rentenzusprache nicht anwendbar, woran die Abstufung bzw. Befristung nichts
ändert.

5. 
Die Gerichtskosten sind den Parteien nach Massgabe ihres Unterliegens
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführer hat im Umfang seines
Obsiegens Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG). Seinem
Begehren um unentgeltliche Rechtspflege kann entsprochen werden, da die
Beschwerde im Rentenpunkt (vgl. E. 3 hiervor) nicht als aussichtslos bezeichnet
werden kann    (Art. 64 Abs. 1 BGG; BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135, 128 I
225          E. 2.5.3 S. 236 mit Hinweis).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Zug, Sozialversicherungsrechtliche Kammer, vom
30. März 2017 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zug vom 21. September
2016 werden aufgehoben, soweit sie Massnahmen beruflicher Art betreffen, und
die Sache insoweit an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie im Sinne der
Erwägungen verfahre. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen, soweit es nicht
gegenstandslos ist, und Rechtsanwältin Petra Oehmke wird als unentgeltlicher
Rechtsbeistand bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden zu Fr. 500.- dem Beschwerdeführer,
welcher Betrag einstweilen auf die Gerichtskasse genommen wird, und zu Fr.
300.- der Beschwerdegegnerin auferlegt.

4. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'000.- zu entschädigen.

5. 
Der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 1'800.- ausgerichtet.

6. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. Juli 2017
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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