Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 31/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_31/2017         

Urteil vom 7. August 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Bänziger,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Luzern,
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Luzern
vom 21. November 2016.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 17. November 2005 sprach die IV-Stelle Luzern der 1976
geborenen A.________ rückwirkend ab 1. August 2002 eine halbe Rente der
Invalidenversicherung zu. Als Ergebnis des im Juni 2013 eingeleiteten
Verfahrens zur Überprüfung des Leistungsanspruchs hob die IV-Stelle mit
Verfügung vom 9. April 2015 die halbe Rente auf den gesetzlich vorgesehenen
Zeitpunkt hin auf.

B. 
Dagegen erhob A.________ Beschwerde, welche das Kantonsgericht Luzern, 3.
Abteilung, nach Einholung eines Gerichtsgutachtens (MEDAS Zentralschweiz vom
22. Juli 2016) mit Entscheid vom 21. November 2016 abwies.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 21. November 2016 (soweit nicht die Beweiskosten betreffend)
sei aufzuheben; es sei ihr weiterhin mindestens eine halbe IV-Rente
zuzusprechen; eventualiter sei die Rente frühestens per 23. März 2016
aufzuheben; subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die IV-Stelle
zurückzuweisen, unter Gewährung der unentgeltliche Rechtspflege.

Die IV-Stelle Luzern und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf
eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts (durch die Vorinstanz;      Art. 105 Abs. 1 BGG kann nur
gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig [willkürlich; BGE 139 II 404
E. 10.1 S. 445] ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95
beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG; vgl. auch Art. 105 Abs. 2 BGG). In
Bezug auf die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung gilt
eine qualifizierte Rüge- und Begründungspflicht (BGE 130 I 258   E. 1.3 S.
261). Auf ungenügend begründete Rügen oder bloss allgemein gehaltene
appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht
ein (BGE 134 II 244 E. 2.2 S. 246 mit Hinweis).

2. 
Die im Streit liegende Vorinstanzlichbestätigte Rentenaufhebung auf Ende Mai
2015 erfolgte gestützt auf Art. 17 Abs. 1 ATSG, was unbestritten ist. Die
Vorinstanz ist in Würdigung der Akten zum Ergebnis gelangt, eine klare
Verbesserung des Gesundheitszustandes im Vergleichszeitraum (17. November 2005
bis 9. April 2015) sei ausgewiesen. Die Diagnosen einer Schmerzstörung und
einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), welche bei der
Rentenzusprache noch vorgelegen und die Arbeitsfähigkeit um 50 % eingeschränkt
hatten, hätten bei der aktuellen Beurteilung nicht mehr gestellt werden können.
Gemäss der interdisziplinären Einschätzung im Gerichtsgutachten vom 22. Juli
2016 sei die Beschwerdeführerin spätestens im Zeitpunkt der Verfügung vom 9.
April 2015 vollständig arbeitsfähig gewesen.

3. 
Die Beschwerdeführerin bestreitet den Beweiswert des Gerichtsgutachtens (vgl.
dazu BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3b/aa S. 352). Was sie
vorbringt, ist indessen nicht stichhaltig: Ihre Einwendungen gegen das
rheumatologische Teilgutachten vom 8. Juni 2016 sind entweder appellatorischer
Natur oder zu wenig substanziiert. Insbesondere hat die Vorinstanz in E. 7.3
des angefochtenen Entscheids dargelegt, weshalb der Umstand, dass der
Rheumatologe der Medizinischen Abklärungsstelle nicht angab, welche zwei
Kriterien des angewendeten Prüfschemas betreffend das Vorliegen eines
zervikozephalen Syndroms er als erfüllt betrachtete, die Beweiskraft der
Expertise nicht zu mindern vermag, wozu sie sich nicht weiter äussert.
Hinsichtlich der Kritik am psychiatrischen Teilgutachten vom 2. Mai 2016 sodann
bestreitet sie die Feststellung der Vorinstanz nicht, dass bei der
Rentenzusprache eine Schmerzstörung und eine PTBS bestanden hatten, welche die
Arbeitsfähigkeit um 50 % einschränkten, bei der aktuellen Beurteilung hingegen
keine entsprechenden Diagnosen mehr gestellt werden konnten. Entgegen ihren
Vorbringen hat das Kantonsgericht nicht festgestellt, dass "noch im Jahr 2013
eine PTBS und eine Schmerzstörung vorgelegen haben"; es erwähnte lediglich,
u.a. unter Hinweis auf den Bericht von Dr. med. B.________ vom 16. Juli 2013,
dass seit Jahren eine (psychiatrisch-psycho-) therapeutische Behandlung
durchgeführt wurde.

4. 
Die Beschwerdeführerin beanstandet den Zeitpunkt der Rentenaufhebung (Ende Mai
2015), dies zu Recht:

4.1. In der zusammenfassenden interdisziplinären Beurteilung hielten die
Gutachter fest, dass aufgrund der Aktenlage retrospektiv spätestens ab
Zeitpunkt der strittigen IV-Verfügung vom 9. April 2015 von einer
Arbeitsfähigkeit von 100 % in angepasster Tätigkeit auszugehen sei. "Eine
wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes im Vergleich zu 2005/2001 kann
(...) in Berücksichtigung vorliegender Akten, anamnestischer Angaben sowie
erhobener Befunde aktuell nicht festgestellt/objektiviert werden". In
Abweichung von dieser Beurteilung hat das Kantonsgericht eine
revisionsrechtlich relevante Verbesserung des psychischen Gesundheitszustandes
im Vergleichszeitraum (17. November 2005 bis 9. April 2015) bejaht (E. 2
hiervor). Weiter hat es erwogen, da der psychiatrische Gutachter nicht
aufzeige, wann die Verbesserung genau stattfand, könne auf die
interdisziplinäre Einschätzung abgestellt werden, wonach die Beschwerdeführerin
spätestens im Zeitpunkt der Verfügung vom 9. April 2015 vollständig
arbeitsfähig war.

4.2. Es ist ein Widerspruch, bezüglich der Änderung des Gesundheitszustandes
nicht auf das Gerichtsgutachten bzw. das psychiatrische Teilgutachten
abzustellen, hinsichtlich des dafür massgebenden Zeitpunktes jedoch schon. Dies
gilt umso mehr, als es sich beim 9. April 2015, seit wann spätestens die
attestierte Arbeitsfähigkeit gilt, offensichtlich um ein rein formelles
Kriterium handelt. Unter diesen Umständen kann eine revisionsrechlich
bedeutsame Änderung des Gesundheitszustandes ohne Wiederspruch frühestens ab
dem Zeitpunkt des Gerichtsgutachtens vom 22. Juli 2016 angenommen werden. Die
Beschwerdeführerin hat daher nach Art. 88a Abs. 1 IVV bis Ende Oktober 2016
Anspruch auf eine halbe Rente. Der Umstand, dass sie die Rente lediglich bis
23. März 2016, den Zeitpunkt der psychiatrischen Untersuchung beantragt, kann
ihr angesichts des Hauptantrages nicht schaden (Art. 107 Abs. 1 BGG).

5. 
Die Gerichtskosten sind den Parteien nach Massgabe ihres Unterliegens
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Versicherte hat Anspruch auf eine
reduzierte Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG). Ihrem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege kann im Übrigen entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1
und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen,
wonach sie der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu im
Stande ist.

 

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Luzern, 3. Abteilung, vom 21. November 2016 und die Verfügung der IV-Stelle
Luzern vom 9. April 2015 werden dahingehend abgeändert, dass die
Beschwerdeführerin bis Ende Oktober 2016 Anspruch auf eine halbe Rente der
Invalidenversicherung hat. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird gutgeheissen, und es wird der Beschwerdeführerin Rechtsanwalt Andreas
Bänziger als Rechtsbeistand beigegeben.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden zu Fr. 500.- der Beschwerdeführerin und
zu Fr. 300.- der Beschwerdegegnerin auferlegt. Der Anteil der Versicherten wird
einstweilen auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 800.- zu entschädigen.

5. 
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 1'200.- ausgerichtet.

6. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung
des vorangegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Luzern zurückgewiesen.

7. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 7. August 2017

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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