Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 317/2017
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_317/2017        

Urteil vom 19. Juni 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Martin Heuberger,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

Personalvorsorgestiftung der Beiersdorf AG,

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
15. März 2017.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 2. April 2013 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau
A.________ rückwirkend ab 1. März 2012 eine ganze Rente der
Invalidenversicherung (samt einer Kinderrente bis Ende September 2012) zu. Mit
Mitteilung vom 5. Februar 2014 bestätigte sie die Rente. Als Ergebnis des 2015
eingeleiteten Revisionsverfahrens hob die IV-Stelle u.a. gestützt auf das
bidisziplinäre (internistisch-psychiatrische) Gutachten des Swiss Medical
Assessment and Business-Center (SMAB) vom 25. April 2016 nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 23. August 2016 die Rente auf den
gesetzlich vorgesehenen Zeitpunkt hin auf.

B. 
Dagegen erhob A.________ Beschwerde, welche das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau nach Beiladung der Personalvorsorgestiftung der Beiersdorf AG
zum Verfahren mit Entscheid vom 15. März 2017 abwies.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 15. März 2017 und die Verfügung vom 23. August 2016 seien
aufzuheben, es sei ihm die bisherige Rente weiterhin auszurichten, und es seien
berufliche Massnahmen durchzuführen, unter Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege.

Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen und die Personalvorsorgestiftung der Beiersdorf AG
verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Der Beschwerdeführer beantragt auch die Durchführung beruflicher Massnahmen.
Dabei handelt es sich nicht um ein selbständiges Begehren. Vielmehr geht es um
(den Anspruch auf) Eingliederungsmassnahmen im Hinblick auf die erwerbliche
Verwertung der - allerdings bestrittenen - wiedergewonnenen Arbeitsfähigkeit
aus medizinisch-theoretischer Sicht im Rahmen der vorinstanzlich bestätigten
Aufhebung der ganzen Rente gestützt auf Art. 17 Abs. 1 ATSG (vgl. E. 3).

2. 
Der Beschwerdeführer rügt in einem ersten Punkt, die Feststellung der
Vorinstanz sei willkürlich (Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 137 II 353 E. 5.1 S. 356),
"per sofort" sei von einer vollen Arbeitsfähigkeit auszugehen. Dies
widerspreche der von den Gutachtern des SMAB empfohlenen schrittweisen
Wiedereingliederung (Steigerung der Arbeitsfähigkeit in einer angepassten
Tätigkeit von 50 % auf 100 % innerhalb von zwölf Monaten, um eine Überforderung
zu vermeiden). Es gäbe keine Berichte oder sonstige Unterlagen in den Akten,
wonach er aus medizinischer Sicht in der Lage wäre, ohne Unterstützung von sich
aus den Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden. Auf diese Vorbringen braucht mit
Blick auf das Nachstehende nicht näher eingegangen zu werden. Anzumerken ist,
dass es grundsätzlich nicht ärztliche Aufgabe ist, sich zu den erwerblichen
Auswirkungen der gesundheitlichen Beeinträchtigung, namentlich zu den aufgrund
von Anforderungs- und Belastungsprofil in Betracht fallenden Stellen, zu
äussern (BGE 107 V 17 E. 2b S. 20; Urteil 9C_943/2009 vom 10. Februar 2010 E.
4.2.3 mit Hinweisen).

3. 
Der Beschwerdeführer war im Zeitpunkt der Rentenaufhebung 56 Jahre alt.

3.1. Soll die Rente nach einer Bezugsdauer von mindestens fünfzehn Jahren
herabgesetzt oder aufgehoben werden oder hat die betreffende versicherte Person
im Zeitpunkt der Rentenherabsetzung oder -aufhebung nach Art. 88bis Abs. 2 lit.
a IVV (BGE 141 V 5) das 55. Altersjahr zurückgelegt, sind in der Regel
vorgängig Massnahmen zur Eingliederung durchzuführen, bis sie in der Lage ist,
das medizinisch-theoretisch (wieder) ausgewiesene Leistungspotenzial mittels
Eigenanstrengung auszuschöpfen und erwerblich zu verwerten. Die IV-Stelle trägt
die Beweislast dafür, dass in einem konkreten Fall dieser Grundsatz nicht zur
Anwendung kommt und von der Zumutbarkeit der Selbsteingliederung auszugehen ist
(Urteil 9C_602/2016 vom 14. Dezember 2016 E. 6.1 mit Hinweisen).

Nach der Rechtsprechung darf bei fehlender subjektiver Eingliederungsfähigkeit,
d.h. wenn die Eingliederungsbereitschaft aus invaliditätsfremden Gründen nicht
gegeben ist, die Rente ohne vorgängige Prüfung von Massnahmen der (Wieder-)
Eingliederung und ohne Durchführung des Mahn- und Bedenkzeitverfahrens nach
Art. 21 Abs. 4 ATSG herabgesetzt oder aufgehoben werden (Urteile 8C_19/ 2016
vom 4. April 2016 E. 5.2.3, in: SVR 2016 IV Nr. 27 S. 80, und 9C_231/2015 vom
7. September 2015 E. 4.2 mit Hinweisen).

3.2. Die Vorinstanz ist, hauptsächlich aufgrund von Äusserungen des
Beschwerdeführers im Rahmen der Begutachtung und bestimmten Aussagen in der
Expertise vom 25. April 2016, zum Ergebnis gelangt, es sei mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es an der grundsätzlichen Motivation
fehle, einer Arbeit nachzugehen. Am fehlenden Eingliederungswillen vermöge die
im Rahmen des Vorbescheidverfahrens und auch in der Beschwerde angebotene
Bereitschaft, an einem Arbeitstraining mit späterer Wiedereingliederung
teilzunehmen, nichts zu ändern, könnte diese doch bewusst oder unbewusst von
nachträglichen Überlegungen versicherungsrechtlicher oder anderer Art
beeinflusst sein.

3.3. Die von der Vorinstanz angeführten Gründe reichen nicht aus, um daraus auf
fehlende subjektive Eingliederungsfähigkeit schliessen zu können, wie der
Beschwerdeführer vorbringt:

3.3.1. Vorab ist nachvollziehbar, wenn der Versicherte sich u.a. dahingehend
äusserte, er habe Angst, seine IV-Rente zu verlieren und vor dem Ruin zu
stehen, in seinem Alter nichts mehr zu finden, was ihm und seiner Familie das
Auskommen sichern könne; er glaube nicht, dass es für ihn eine passende Stelle
gebe, da er über keine Berufsausbildung verfüge und lediglich geringe
PC-Kenntnisse habe. Darin kann kein Indiz für mangelnde
Eingliederungsbereitschaft erblickt werden. Immerhin gab er an, er könne sich
theoretisch eine leichte, vorwiegend sitzende Tätigkeit in einem reduzierten
Pensum halbtags vorstellen.

3.3.2. Weiter hielt der Psychiater der SMAB zwar fest, der Versicherte fühle
sich durch seine körperlichen und seelischen Leiden vollständig invalidisiert,
und er könne sich nicht vorstellen, Arbeit von wirtschaftlichem Wert verrichten
zu können. Aus einer allfälligen überhöhten Krankheitsüberzeugung allein darf
jedoch nicht ohne Weiteres auf die Aussichtslosigkeit von
Eingliederungsmassnahmen geschlossen werden, da solche durchaus geeignet sein
können, den Eingliederungswillen zu fördern (Urteil 8C_446/2014 vom 12. Januar
2015 E. 4.2.3, nicht publiziert in: BGE 141 V 5, aber in: SVR 2015 IV Nr. 19 S.
56). In diesem Sinne äusserten sich denn auch die Gutachter. Danach sollten,
wie die Vorinstanz festgestellt hat, aus psychiatrischer Sicht aktivierende
Massnahmen mit ausreichender Motivation sowie eine ambulante Verhaltenstherapie
durchgeführt werden mit dem Ziel, das Selbstvertrauen bzw. das Vertrauen in die
Selbstwirksamkeit zu stärken. Da gemäss dem psychiatrischen Gutachter das
Ausmass der Angststörung und dysfunktionalen Kognitionen auf die mangelnde
Aktivierung und die mangelnde Wiedereingliederungsbereitschaft mit
zurückzuführen sind, kann mit Blick auf die ausdrücklich verneinte
Behandlungsresistenz davon ausgegangen werden, dass die Verhaltenstherapie sich
positiv auf die Motivation, wieder zu arbeiten, auswirkt. Diese berechtigte
Erwartung ist bei der Frage, inwieweit es aus invaliditätsfremden Gründen an
Eingliederungswillen fehlt, zu berücksichtigen.

3.3.3. Unbestritten ist sodann, dass der Psychiater des SMAB festhielt,
wesentliche Anstrengungen zur Wiedereingliederung seien nicht gemacht worden,
der Versicherte habe dies bisher nicht in Betracht gezogen. Diese Aussage ist
indessen vor dem Hintergrund zu sehen und zu würdigen, dass eine Verbesserung
des psychischen Gesundheitszustandes, d.h. der psychopathologischen Befunde,
erst im Laufe des Jahres 2015 angenommen werden kann. Gemäss Vorinstanz kann
spätestens ab der psychiatrischen Begutachtung keine Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht mehr ausgemacht werden. Wird weiter
berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer 2015 55 Jahre alt wurde, kann in den
fehlenden Anstrengungen für eine Selbsteingliederung bis zum Zeitpunkt der
Begutachtung anfangs 2016 kein Indiz für grundsätzlich fehlende Motivation,
wieder erwerblich tätig zu sein, erblickt werden.

3.3.4. Ebenfalls ist zu beachten, dass sich die Experten nicht in dem Sinne
äusserten, aufgrund einer ausgeprägten subjektiven Krankheits- und
Behinderungsüberzeugung seien berufliche Massnahmen kaum durchführbar und nicht
empfehlenswert (vgl. Urteil 9C_87/2016 vom 23. November 2016 E. 5.2.2). Der
psychiatrische Gutachter sprach lediglich von einer begrenzten
Leistungsmotivation, und er verneinte ausdrücklich eine
Eingliederungsresistenz.

3.3.5. Hinzuweisen ist schliesslich auf das von der Vorinstanz erwähnte Urteil
9C_231/2015 vom 7. September 2015. In diesem Fall lag der fehlenden Motivation
der versicherten Person zur Reintegration deren Ansicht zugrunde, im Leben
genug gemacht zu haben, sowie der Widerwille, eine ihrer Ausbildung nicht
adäquate Hilfsarbeit zu verrichten. Dazu kam der Umstand, dass sie weder im
Vorbescheid- noch im kantonalen Beschwerdeverfahren nie auch nur ansatzweise
zum Ausdruck gebracht hatte, auf berufliche Massnahmen angewiesen zu sein oder
solche zu verlangen (vgl. E. 4.2). Ein damit vergleichbarer Sachverhalt liegt
hier offensichtlich nicht vor.

3.4. Nach dem Gesagten wurde der Beschwerdeführer zu Unrecht wegen fehlender
subjektiver Eingliederungsfähigkeit auf den Weg der Selbsteingliederung
verwiesen. Umstände, welche auf genügendes Selbsteingliederungspotenzial
schliessen lassen könnten, sind nicht ersichtlich. Aufgrund der Akten hat die
Beschwerdegegnerin bislang keine Abklärungen beruflicher Art im Hinblick auf
die Wiedereingliederung des Versicherten getätigt. Das wird sie nachzuholen
haben. Die Rentenaufhebung verletzt Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG).

4. 
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art.
68 Abs. 2 BGG).
 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 15. März 2017 und die Verfügung
der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 23. August 2016 werden aufgehoben. Die
Sache wird an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen, damit sie im Sinne der
Erwägungen vorgehe und anschliessend neu verfüge. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Personalvorsorgestiftung der Beiersdorf
AG, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. Juni 2017

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Der Gerichtsschreiber: Fessler

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben