Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 29/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_29/2017

Urteil vom 6. April 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Christos Antoniadis,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 16. November 2016.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 12. Juni 2015 lehnte die IV-Stelle des Kantons Zürich das
Gesuch des 1968 geborenen A.________ um Zusprechung einer Invalidenrente nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens ab. Mit einer weiteren Verfügung vom 23.
Juni 2015 lehnte die IV-Stelle das Gesuch des Versicherten um unentgeltliche
Verbeiständung im Verwaltungsverfahren ebenfalls ab.

B. 
A.________ liess gegen beide Verfügungen Beschwerde führen. Das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich vereinigte die
Beschwerdeverfahren. Mit Entscheid vom 16. November 2016 wies es die gegen die
Verfügung betreffend den Invalidenrentenanspruch vom 12. Juni 2015 eingereichte
Beschwerde ab, während es in Gutheissung der gegen die Verfügung vom 23. Juni
2015 eingereichten Beschwerde feststellte, dass der Beschwerdeführer Anspruch
auf unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren habe.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle, der vorinstanzliche Entscheid sei insoweit aufzuheben, als damit der
Anspruch des Versicherten auf unentgeltliche Verbeiständung im
Verwaltungsverfahren bejaht wurde, und die Verfügung vom 23. Juni 2015 sei zu
bestätigen.
Während A.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen und um die
Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege ersuchen lässt, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Bejahung der unentgeltlichen anwaltlichen Verbeiständung im
sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren setzt kumulativ voraus,
dass diese sachlich geboten, das Rechtsbegehren nicht aussichtslos und die
Partei bedürftig ist (Art. 37 Abs. 4 ATSG; BGE 132 V 200 E. 4.1). Die
Notwendigkeit der anwaltlichen Vertretung ist in diesem Verfahren nur in
Ausnahmefällen zu bejahen. Es müssen sich schwierige Fragen rechtlicher oder
tatsächlicher Natur stellen. Zu berücksichtigen sind die konkreten Umstände des
Einzelfalls, Eigenheiten der anwendbaren Verfahrensvorschriften sowie weitere
Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens. Neben der Komplexität der
Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit fallen auch bei der versicherten
Person liegende Gründe in Betracht, etwa ihre Fähigkeit, sich im Verfahren
zurechtzufinden. Schliesslich muss eine gehörige Interessenwahrung durch
Verbandsvertreter, Fürsorgestellen oder andere Fach- und Vertrauensleute
sozialer Institutionen ausser Betracht fallen (SVR 2016 IV Nr. 17 S. 50 E. 3,
8C_931/2015; BGE 125 32 E. 4b S. 35 f.). Die Frage der sachlichen
Erforderlichkeit der anwaltlichen Verbeiständung ist eine vom Bundesgericht
frei überprüfbare Rechtsfrage (SVR 2015 IV Nr. 18 S. 53 E. 4.1, 8C_557/2014).

2.

2.1. Die Vorinstanz hielt fest, ob im vorliegenden Fall ein invalidisierender
Gesundheitsschaden anzunehmen sei bzw. psychosoziale Aspekte eine beachtliche
Rolle spielen, stelle - insbesondere hinsichtlich der Abweichung von der im
medizinischen Gutachten festgestellten Arbeitsunfähigkeit - keine einfache
Rechtsfrage mehr dar, bei welcher der Versicherte seine Interessen selbst in
genügendem Mass hätte wahrnehmen können. Dass soziale Einrichtungen die
notwendige Unterstützung hätten anbieten können, erscheine fraglich. Die
Verwaltung habe es im Übrigen unterlassen, den Versicherten auf die
grundsätzliche Subsidiarität anwaltlicher Vertretung gegenüber der
Interessenwahrung durch andere fachkundige Dritte aufmerksam zu machen und vor
allem solche Stellen zu nennen. Die Komplexität des Falles zeige sich im
Übrigen auch daran, dass die IV-Stelle ihrerseits auf das Fachwissen ihres
hauseigenen Rechtsdienstes angewiesen war.

2.2. Die IV-Stelle macht geltend, der Rechtsvertreter habe im
Verwaltungsverfahren gar keine Einwände vorgebracht. Vielmehr habe er sich in
lediglich drei Sätzen auf das Gutachten der MEDAS vom 2. Dezember 2014 bezogen.
Von materiellen Einwendungen könne nicht gesprochen werden. Indem die
Vorinstanz die Aussichtslosigkeit des Einwands ohne nachvollziehbare Begründung
verneint hat, habe sie Art. 37 Abs. 4 ATSG verletzt. Schliesslich hätte der
Versicherte den Einwand selbst, ohne anwaltliche Hilfe oder Unterstützung einer
sozialen Institution, erheben können.

3.

3.1. Entgegen den Ausführungen in der Beschwerde ist mit Bezug auf den Anspruch
auf unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren der
Invalidenversicherung nicht entscheidend, ob die geltend gemachten Einwendungen
letztlich stichhaltig oder unbegründet sind. Massgebend in materieller Hinsicht
sind nicht der Erfolg der vorgetragenen Argumente und eine darauf
zurückzuführende Änderung des Vorbescheids zu Gunsten der versicherten Person,
sondern nebst der Bedürftigkeit und der Erforderlichkeit der anwaltlichen
Vertretung die fehlende Aussichtslosigkeit des Rechtsbegehrens.
Im Weiteren geht der von der IV-Stelle erhobene Vorwurf, der Rechtsvertreter
des Beschwerdegegners habe im Verwaltungsverfahren gar keine Einwände
vorgebracht, an der Sache vorbei. In der Begründung des Einwands vom 22. April
2015 hat der Rechtsvertreter auf das Gutachten der MEDAS hingewiesen, worin das
Überwiegen psychosozialer Faktoren explizit verneint wurde und die Experten
eine hälftige Arbeitsunfähigkeit für sämtliche Tätigkeiten attestiert hatten;
lediglich die Bescheinigung einer höheren Arbeitsunfähigkeit durch die
behandelnde Ärztin sei gemäss Gutachten invaliditätsfremden Faktoren
zuzuschreiben, nicht aber die Arbeitsunfähigkeit von 50 % gemäss Expertise. Mit
diesen knappen, den Kern der Sache treffenden Einwendungen hat der
Rechtsvertreter des Versicherten auf den wesentlichen Punkt des Vorbescheids
vom 16. Februar 2015 Bezug genommen. Mit seiner Begründung hat er gestützt auf
fachärztliche Erkenntnisse versucht, die gleichermassen knappe - und im Übrigen
nicht näher belegte - Begründung der IV-Stelle, wonach die Einschränkungen des
Versicherten auf invaliditätsfremde Faktoren zurückzuführen seien, zu
entkräften. Der im Einwand zum Ausdruck kommende Standpunkt des
Beschwerdegegners lässt sich bei dieser Sachlage nicht als aussichtslos
bezeichnen, woran nichts ändert, dass das kantonale Gericht in seinem formell
rechtskräftigen Entscheid vom 16. November 2016 in materieller Hinsicht die
Auffassung des Beschwerdegegners verworfen hat.

3.2. Die anwaltliche Vertretung war sodann auch erforderlich. Wie sich dem
umfangreichen vorinstanzlichen Entscheid in der Hauptsache entnehmen lässt,
waren mit Bezug auf die Arbeitsunfähigkeit des Versicherten heikle Abgrenzungen
zwischen der Einschätzung dieser Einschränkungen aus medizinischer, namentlich
psychiatrischer, Sicht und der Beurteilung, ob eine Invalidität im Rechtssinne
vorliegt, zu treffen. Dabei war zu prüfen, ob die langjährige Drogensucht des
Versicherten eine Invalidität im Rechtssinne begründet. Zu beachten galt es
insbesondere auch, dass die vorherrschende Symptomatik in der zumindest
teilweise durch den Drogenkonsum geprägten, psychosozialen und soziokulturellen
Problematik begründet ist. Damit waren schwierige (Abgrenzungs-) Fragen
tatsächlicher und rechtlicher Natur zu beurteilen. Mit Blick auf die
Komplexität der medizinischen und der rechtlichen Seite des
Verwaltungsverfahrens wäre der Versicherte ausserstande gewesen, seine
Interessen selbst zu wahren. Ebenso wenig wäre angesichts der erwähnten
Fragestellung eine gehörige Vertretung durch eine Fürsorgebehörde oder
Fachleute sozialer Institutionen in Betracht gefallen. Ob die IV-Stelle den
Beschwerdegegner entsprechend den Erwägungen des kantonalen Gerichts auf die
Möglichkeit der Interessenwahrung durch fachkundige Dritte hätte aufmerksam
machen müssen, was diese beschwerdeweise in Abrede stellt, braucht daher nicht
geprüft zu werden.

3.3. Die Bedürftigkeit als weitere Voraussetzung der unentgeltlichen
Verbeiständung im Verwaltungsverfahren (E. 1 hievor) wird von der
Beschwerdeführerin nicht bestritten.

4. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat dem
Beschwerdegegner überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1
und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'400.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. April 2017
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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