Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 273/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_273/2017  
 
 
Urteil vom 9. April 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. André Largier, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, 
St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau 
vom 15. März 2017 (VV.2016.250/E). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1959 geborene A.________ meldete sich am 23. August 2012 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 5. Dezember 2013
sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Thurgau eine vom 1. Februar bis 30. Juni
2013 befristete halbe Invalidenrente zu (Invaliditätsgrad: 50 %). 
Im Januar 2014 meldete sich der Versicherte erneut zum Leistungsbezug an,
woraufhin die IV-Stelle einen Anspruch auf berufliche Massnahmen und eine Rente
verneinte (Verfügungen vom 5. August 2016). 
 
B.   
Die von A.________ dagegen erhobenen Beschwerden wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 15. März 2017 ab. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache an die
IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie nach Ergänzung der Akten durch ein
polydisziplinäres Gutachten über den Anspruch auf berufliche Massnahmen und/
oder eine Invalidenrente neu befinde. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf Leistungen
(berufliche Massnahmen und Rente) der Invalidenversicherung. 
 
2.1. Die Vorinstanz kam gestützt auf die Einträge des Regionalen Ärztlichen
Dienstes (RAD) vom 12. November 2014, 26. Oktober 2015 und 27. Juni 2016 zum
Schluss, auf die vorhandene medizinische Aktenlage des Unfallversicherers könne
abgestellt werden, wonach der Beschwerdeführer in einer angepassten Tätigkeit
100 % arbeitsfähig sei. Es gäbe keine Anhaltspunkte dafür, dass der Versicherte
durch unfallfremde Beschwerden zusätzlich in seiner Arbeitsfähigkeit
eingeschränkt sei, weshalb von einer umfassenden Abklärung des
Gesundheitszustands ausgegangen werden könne. Das kantonale Gericht verneinte
folglich die Notwendigkeit weiterer Abklärungen und bestätigte die
leistungsabweisenden Verfügungen vom 5. August 2016.  
 
2.2. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes
geltend, da die Vorinstanz zu Unrecht darauf verzichtet habe, seinen
Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit polydisziplinär abzuklären.  
 
3.  
 
3.1. Sowohl das Verwaltungsverfahren wie auch der kantonale
Sozialversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht (Art. 43
Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG). Danach haben Verwaltung und
Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen
festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so lange, bis über die für die
Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen hinreichende
Klarheit besteht. Der Untersuchungsgrundsatz weist enge Bezüge zum - auf
Verwaltungs- und Gerichtsstufe geltenden - Grundsatz der freien Beweiswürdigung
auf. Führen die im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes von Amtes wegen
vorzunehmenden Abklärungen den Versicherungsträger oder das Gericht bei
umfassender, sorgfältiger, objektiver und inhaltsbezogener Beweiswürdigung (BGE
132 V 393 E. 4.1 S. 400) zur Überzeugung, ein bestimmter Sachverhalt sei als
überwiegend wahrscheinlich (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360; 125 V 193 E. 2 S. 195,
je mit Hinweisen) zu betrachten und es könnten weitere Beweismassnahmen an
diesem feststehenden Ergebnis nichts mehr ändern, so liegt im Verzicht auf die
Abnahme weiterer Beweise keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
(antizipierte Beweiswürdigung; BGE 134 I 140 E. 5.3 S. 148; 124 V 90 E. 4b S.
94). Bleiben jedoch erhebliche Zweifel an Vollständigkeit und/oder Richtigkeit
der bisher getroffenen Tatsachenfeststellung bestehen, ist weiter zu ermitteln,
soweit von zusätzlichen Abklärungsmassnahmen noch neue wesentliche Erkenntnisse
zu erwarten sind (Urteil 9C_255/2015 vom 17. Juli 2015 E. 1.1 mit Hinweis, in:
SVR 2015 EL Nr. 10 S. 31).  
 
3.2.  
 
3.2.1. Die Vorinstanz stellte in somatischer Hinsicht nicht offensichtlich
unrichtig fest, der Beschwerdeführer sei in einer angepassten Tätigkeit 100 %
arbeitsfähig. Sie legte in Anlehnung an den Case Report-Eintrag des RAD vom 26.
Oktober 2015 nachvollziehbar dar, der Kreisarzt Dr. med. B.________, Facharzt
Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates FMH, habe sich
bei seiner Einschätzung vom 11. Mai 2015 zwar explizit auf die Unfallfolgen
bezogen. Es gäbe jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass unfallfremde
Einschränkungen zusätzlich die Arbeitsfähigkeit reduzieren würden. Auch wenn
gewisse Beschwerden nicht mehr als unfallkausal betrachtet werden könnten,
seien sämtliche Schulter- und Knieprobleme bei der Umschreibung des
Anforderungsprofils an adaptierte Tätigkeiten berücksichtigt worden. Gestützt
auf die medizinischen Berichte könne der Versicherte sämtliche
schulterbelastenden Tätigkeiten über Kopfhöhe nicht mehr ausüben. Die Rüge des
Beschwerdeführers, es seien nur die unfallkausalen und somit nur die linken
Schulterbeschwerden berücksichtigt worden, dringt folglich nicht durch, da
durch das vom kantonalen Gericht festgestellte Zumutbarkeitsprofil sämtliche
schulterbelastenden Tätigkeiten über Kopfhöhe ausgeschlossen werden.  
 
3.2.2. Der Hinweis des Versicherten auf die Berichte der Dres. med. C.________,
Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie, vom 29. Januar 2016,
D.________ vom 7. April 2016 und E.________ vom 8. Juni 2016, beides Praktische
Ärzte FMH, vermag daran nichts zu ändern. Soweit der Beschwerdeführer auf die
von den genannten Ärzten gestellten Diagnosen verweist, ist zu entgegnen, dass
es invalidenversicherungsrechtlich nicht auf die Diagnose ankommt, sondern
einzig darauf, welche Auswirkungen eine Erkrankung auf die Arbeitsfähigkeit hat
(BGE 136 V 279 E. 3.2.1 S. 281). Die Berichte der Dres. med. C.________ und
D.________ geben keine Auskunft über die Arbeitsfähigkeit des Versicherten,
weshalb daraus keine weiteren Einschränkungen abgeleitet werden können. Der
Beschwerdeführer macht ausserdem geltend, Dr. med. E.________ attestiere eine
50%ige Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit, welche
überzeugend sei. Dazu hat die Vorinstanz nicht offensichtlich unrichtig (vgl.
E. 1 hiervor) auf der Grundlage der Einschätzung des RAD vom 27. Juni 2016
erkannt, der nicht fachärztliche Bericht des Dr. med. E.________ überzeuge
nicht, da dieser in erster Linie auf subjektiven Angaben des Versicherten
beruhe. Er habe im Vergleich zu den übrigen fachärztlichen Berichten, welche
übereinstimmend von einer Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten
Tätigkeit von 100 % ausgehen würden, keine neuen Befunde erhoben oder Diagnosen
gestellt.  
 
3.2.3. In Anlehnung an die Einschätzung des Dr. med. F.________, Orthopädische
Chirurgie FMH, vom 16. September 2015, welcher gemäss verbindlicher
vorinstanzlicher Feststellung (vgl. E. 1 hiervor) ebenfalls von einer vollen
Arbeitsfähigkeit in einer leidensadaptierten Tätigkeit ausging, macht der
Versicherte geltend, ihm sei auch eine schulterangepasste Tätigkeit weder
sprach- noch bildungstechnisch zumutbar. Dies sei entgegen der Vorinstanz nicht
unbeachtlich. Hieraus kann der Beschwerdeführer in Bezug auf die Frage, ob der
Gesundheitszustand rechtsgenüglich abgeklärt ist, nichts zu seinen Gunsten
ableiten, wie dies bereits das kantonale Gericht festhielt. Die Frage nach den
Einsatzmöglichkeiten auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt ist erst im Rahmen der
Invaliditätsbemessung zu prüfen (vgl. Urteile 8C_434/2017 vom 3. Januar 2018 E.
7 und 8C_1050/2009 vom 28. April 2010 E. 3.2, je mit Hinweisen).  
 
3.2.4. Schliesslich lassen sich auch dem Bericht von Dr. med. G.________,
Spezialarzt FMH für Orthopädische Chirurgie, vom 16. Dezember 2015 keine
Hinweise dafür entnehmen, dass zusätzliche krankheitsbedingte Einschränkungen
mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit vorliegen. Wie die Vorinstanz nicht
offensichtlich unrichtig feststellte (vgl. E. 1 hiervor), verwies Dr. med.
G.________ auf die Einschätzung des Dr. med. F.________ und dessen attestierte
100%ige Arbeitsfähigkeit in leidensangepassten Tätigkeiten, ohne daraus
zusätzliche Einschränkungen abzuleiten. Ebenfalls nicht unhaltbar (vgl. E. 1
hiervor) ist somit die Schlussfolgerung der Vorinstanz, Dr. med. G.________ sei
in seinem Bericht nicht von einer 80%igen Arbeitsfähigkeit ausgegangen, sondern
habe auf einer unbekannten Grundlage vermutet, die Invalidenversicherung würde
eine solche annehmen.  
 
3.3. In psychischer Hinsicht weisen mehrere Akten auf eine Schmerzproblematik
hin. So veranlasste Dr. med. C.________ eine bildgebende Untersuchung der
Schultern und des rechten Knies und diagnostizierte am 29. Januar 2016 u.a.
eine unklare, diffuse Schmerzsymptomatik. Die Ursache der Beschwerden könne er
nicht sicher zuordnen. Dr. med. H.________, Oberarzt Spital I.________, hielt
in seinem Bericht vom 14. März 2016 fest, der Beschwerdeführer leide an einem
chronischen multilokulären Schmerzsyndrom mit der Tendenz zur Somatisierung. Er
zeige ausserdem eine depressive Reaktion. Eine klare somatische Ursache für
diese beschriebenen Schmerzen seien nicht eruierbar. In der Folge bestätigten
auch Dres. med. E.________ und D.________ die Diagnose eines Schmerzsyndroms.
Die Vorinstanz erkannte, es ergäben sich aus den Akten zwar Hinweise darauf,
dass der Versicherte an einer psychischen Störung leiden könnte. Es bestehe
diesbezüglich jedoch kein weiterer Abklärungsbedarf, da er sich bislang
offenbar nicht psychiatrisch habe behandeln lassen, weshalb davon auszugehen
sei, dass diesbezüglich keine invalidenversicherungsrechtliche
Arbeitsunfähigkeit resultiere. Diese Argumentation verfängt nicht; denn so
lange nicht klar ist, ob und allenfalls an welchen psychiatrischen
Beschwerdebildern der Versicherte leidet und ob ihn diese einschränken oder
nicht, können weitere Abklärungen nicht von vornherein mit dem Argument
ausgeschlossen werden, er habe sich bislang nicht behandeln lassen (vgl. BGE
143 V 409 E. 4.2.2 S. 413 und E. 4.4 S. 414).  
 
4.   
Der rechtserhebliche Sachverhalt hinsichtlich des Gesundheitszustands des
Beschwerdeführers ist somit unvollständig erhoben. Die IV-Stelle, an welche die
Sache zur Abklärung und Neubeurteilung zurückzuweisen ist (vgl. Art. 107 Abs. 2
BGG), wird die bisher versäumten (psychiatrischen) Abklärungen nachzuholen
haben. 
 
5.   
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu weiterer Abklärung (mit noch
offenem Ausgang) gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch
der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1
sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271). Dementsprechend
sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (
Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie hat dem Beschwerdeführer überdies eine
Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Thurgau vom 15. März 2017 und die Verfügungen der IV-Stelle des Kantons
Thurgau vom 5. August 2016 werden aufgehoben. Die Sache wird im Sinne der
Erwägungen zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Thurgau
zurückgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 9. April 2018 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber 

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