Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 262/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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9C_262/2017            

 
 
 
Urteil vom 15. November 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Parrino, 
Gerichtsschreiber Williner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle Luzern, 
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Estermann, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Kantonsgerichts Luzern 
vom 28. Februar 2017 (5V 15 409). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Der 1971 geborene A.________ meldete sich im Februar 2003 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Er gab an, zwischen 1992 und 1995
in türkischen Gefängnissen gefoltert worden zu sein und deshalb an einer
posttraumatischen Belastungsstörung zu leiden. Die IV-Stelle Obwalden
veranlasste verschiedene Abklärungen und sprach A.________ eine halbe Rente ab
dem 1. November 2002 sowie eine ganze Rente (Invaliditätsgrad 100 %) ab dem 1.
April 2003 zu (Verfügung vom 20. August 2003). Dieser Rentenanspruch wurde im
Rahmen zweier Revisionsverfahren in den Jahren 2005 (Mitteilung vom 22.
November 2005) und 2009 (Mitteilung der neu zuständigen IV-Stelle Luzern vom 6.
Mai 2009) überprüft und jeweils bestätigt.  
 
A.b. Nachdem bei der IV-Stelle mehrere anonyme Hinweise eingegangen waren,
wonach A.________ einer Erwerbstätigkeit bei einem Lieferservice nachgehe,
führte diese eine erste Observation durch (Bericht "Sachverhaltsabklärung
ungerechtfertigter Leistungsbezug IV" vom 26. August 2013). Sie konfrontierte
den Versicherten am 21. August 2013 mit den Vorwürfen und stellte mit
Vorbescheid vom 26. August 2013 in Aussicht, die bisher ausgerichtete Rente
gestützt auf die Schlussbestimmungen der 6. IV-Revision aufzuheben. Aufgrund
der dagegen eingereichten Einwände veranlasste die IV-Stelle eine
polydisziplinäre Begutachtung in der Swiss Medical Assessment- and Business
Center AG (nachfolgend: SMAB AG). Nach Eingang der Expertise vom 17. Januar
2014 liess die IV-Stelle den Versicherten erneut observieren
(Ermittlungsbericht vom 13. Oktober 2014). Sie beauftragte die SMAB AG mit der
Erstellung einer Verlaufsbegutachtung unter Berücksichtigung der
Observationsergebnisse. Gestützt auf das Folgegutachten vom 19. Dezember 2014
und nach Erlass eines entsprechenden Vorbescheids hob die IV-Stelle die Rente
auf das Ende des der Zustellung der Verfügung folgenden Monats auf (Verfügung
vom 31. Juli 2015).  
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern in dem Sinne
gut, dass es die Verfügung vom 31. Juli 2015 aufhob und die Sache an die
IV-Stelle zurückwies, damit diese nach weiteren Abklärungen gemäss den
Erwägungen neu verfüge (Entscheid vom 28. Februar 2017). 
 
C.   
Die IV-Stelle Luzern führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit dem Antrag, ihre Verfügung vom 31. Juli 2015 sei unter Aufhebung des
angefochtenen Entscheids zu bestätigen. 
A.________ beantragt Nichteintreten auf die Beschwerde, eventualiter deren
Abweisung. Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen schliesst unter Verweis auf die
Argumentation der IV-Stelle auf Gutheissung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren)
Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (BGE 139 V
42 E. 1 S. 44 mit Hinweisen). 
 
1.1. Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich um einen
Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 Abs. 1 BGG (BGE 140 V 321 E. 3 S. 325
ff.; 133 V 477 E. 4 und 5 S. 480 ff.). Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten ist somit nur zulässig, wenn er einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG), oder wenn
die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit
einen bedeutenden Aufwand an Zeit und Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG).  
 
1.2. Mit der vorinstanzlichen Ausschliessung der Verwertung der
Observationsergebnisse und sämtlichen Akten, welche Bezug auf diese nehmen
(Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Entscheids mit Verweis auf die
Erwägungen; zu deren Teilhabe an der formellen Rechtskraft des Dispositivs vgl.
BGE 113 V 159), ist die Eintretensvoraussetzung von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG
erfüllt. Die IV-Stelle wäre damit gezwungen, von ihr als entscheidwesentlich
angesehenes Beweismaterial - neben den Ermittlungsberichten insbesondere das
Folgegutachten der SMAB AG vom 19. Dezember 2014 - ausser Acht zu lassen und
gegebenenfalls eine ihres Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen. Darin
liegt ein nicht wieder gutzumachender Nachteil (Urteil 8C_192/2017 vom 25.
August 2017 E. 1.2 mit Hinweisen).  
 
An diesem Ergebnis ändert der Hinweis des Beschwerdegegners auf das Urteil
9C_270/2017 vom 28. April 2017 nichts. Die Ausschliessung der Verwertung der
Observationsergebnisse betraf damals eine Begutachtung, welche vom kantonalen
Gericht und nicht von der Verwaltung anzuordnen war. Diese war somit - anders
als die IV-Stelle im vorliegenden Fall - nicht gezwungen, eine ihres Erachtens
rechtswidrige Verfügung erlassen zu müssen. 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob der vorinstanzliche Schluss, die Observationen
und die Verwertung der Überwachungsergebnisse (sowie sämtlicher mit diesen in
Zusammenhang stehender Belege) seien unzulässig gewesen, vor Bundesrecht
standhält. 
 
3.  
 
3.1. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem Urteil
vom 18. Oktober 2016 in Sachen Vukota-Bojic gegen die Schweiz (61838/10) über
die EMRK-Konformität einer Observation, die im Auftrag eines (sozialen)
Unfallversicherers durch einen Privatdetektiv erfolgt war, befunden. Er
erkannte, dass eine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine Observation
nicht bestehe, weshalb er auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf
Achtung des Privatlebens) schloss. Hingegen verneinte er eine Verletzung von 
Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Gebot eines fairen Verfahrens) durch die erfolgte
Verwendung der Observationsergebnisse.  
Das Bundesgericht hat unter Berücksichtigung dieser Erwägungen des EGMR
entschieden, dass es trotz Art. 59 Abs. 5 IVG auch im Bereich der
Invalidenversicherung an einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage fehle, die
die Observation umfassend klar und detailliert regelt. Folglich verletzen
solche Handlungen, seien sie durch den Unfallversicherer oder durch eine
IV-Stelle veranlasst, Art. 8 EMRK beziehungsweise den einen im Wesentlichen
gleichen Gehalt aufweisenden Art. 13 BV (zur Publikation vorgesehenes Urteil
9C_806/2016 vom 14. Juli 2017 E. 4). 
 
3.2. Was die Verwendung des im Rahmen einer widerrechtlichen Observation
gewonnenen Materials anbelangt, richtet sich diese allein nach schweizerischem
Recht. Das Bundesgericht hat im erwähnten Urteil 9C_806/2016 im Wesentlichen
erkannt, dass die Verwertbarkeit der Observationsergebnisse (und damit auch der
gestützt darauf ergangenen weiteren Beweise) grundsätzlich zulässig ist, es sei
denn, bei einer Abwägung der tangierten öffentlichen und privaten Interessen
würden diese überwiegen (E. 5.1.1). Mit Blick auf die gebotene
Verfahrensfairness hat es sodann in derselben Erwägung (mit Hinweisen) eine
weitere Präzisierung angebracht: Eine gegen Art. 8 EMRK verstossende
Videoaufnahme ist verwertbar, solange Handlungen des Versicherten aufgezeichnet
werden, die er aus eigenem Antrieb und ohne äussere Beeinflussung machte, und
ihm keine Falle gestellt worden war. Ferner hat es erwogen, dass von einem
absoluten Verwertungsverbot wohl immerhin insoweit auszugehen ist, als es um
Beweismaterial geht, das im nicht öffentlich frei einsehbaren Raum
zusammengetragen wurde (E. 5.1.3; Urteil 8C_192/2017 vom 25. August 2017 E.
5.4.1 mit Hinweisen; zum öffentlich einsehbaren Raum: BGE 137 I 327).  
 
4.   
Mit Blick auf diese jüngste Rechtsprechung steht mit dem kantonalen Gericht
fest, dass die streitbetroffenen Observationen unzulässig waren, weshalb eine
Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 13 BV festzustellen ist. Hingegen ist der
angefochtene Entscheid insoweit bundesrechtswidrig, als er die Verwertbarkeit
der Observationsergebnisse und der gestützt darauf ergangenen weiteren Beweise
betrifft und ohne Weiteres deren Unbeachtlichkeit bei der Beweiswürdigung
anordnet. Es bleibt zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Verwertung
erfüllt sind. 
 
4.1. Bei der IV-Stelle waren mehrere anonyme Hinweise eingegangen, wonach der
Beschwerdegegner bei einem Lieferservice in verschiedenen Funktionen
arbeitstätig sei. Damit bestanden ausgewiesene Zweifel über dessen Leistungs
(un) fähigkeit. Die IV-Stelle führte im Zeitraum vom 11. Dezember 2012 bis zum
28. Februar 2013 eine erste Observation durch und gab für den Zeitraum vom 2.
bis zum 23. September 2014 eine Weitere in Auftrag. Gegenstand beider
Überwachungen bildeten ausschliesslich im öffentlichen Raum aufgenommene
(unbeeinflusste) Handlungen des Beschwerdegegners, weshalb kein Fall absoluter
Unverwertbarkeit vorliegt. Während der ersten Phase wurde dieser nur während
sehr kurzen (wenige Stunden) Sequenzen an fünf Tagen observiert. An zwei Tagen
wurde zudem lediglich das auf ihn eingelöste Fahrzeug beobachtet. Die gesamte
erste Überwachung beschränkte sich lokal auf den Bereich des vermuteten
Arbeitgebers. Erst im Rahmen der zweiten Überwachung wurde der Beschwerdegegner
ganztägig und grossräumiger observiert. Allerdings dauerte diese zweite
Überwachung lediglich drei Tage. Mit Blick darauf sowie auf die aufgezeichneten
(sehr) alltäglichen Verrichtungen und Handlungen kann insgesamt von keiner
schweren Verletzung der Persönlichkeit ausgegangen werden (vgl. BGE 137 I 327
E. 5.6 S. 334).  
 
4.2. Stellt man diesem relativ bescheidenen Eingriff in die grundrechtliche
Position des Beschwerdegegners das erhebliche und gewichtige öffentliche
Interesse an der Verhinderung des Versicherungsmissbrauchs (Urteil 9C_806/2016
vom 14. Juli 2017 E. 5.1.2 mit Hinweis auf 8C_239/2008 vom 17. Dezember 2009 E.
6.4.1 Abs. 2 und dortige Hinweise; vgl. auch Urteile 8C_735/2016 vom 27. Juli
2017, 9C_328/2017 vom 9. November 2017) entgegen, ergibt sich, dass die
Ermittlungsberichte vom 26. August 2013 und vom 13. Oktober 2014 sowie
sämtliche Akten, die darauf Bezug nehmen (insbesondere das Folgegutachten der
SMAB AG vom 19. Dezember 2014), in die Beweiswürdigung miteinbezogen werden
können und müssen.  
 
4.3. Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese die
angefochtene Verfügung unter Einbezug aller Akten umfassend würdigt und neu
über die Beschwerde entscheidet.  
 
5.  
 
5.1. Die Rückweisung der Sache zu weiterer Abklärung (mit noch offenem Ausgang)
oder neuer Entscheidung gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten
und den Anspruch auf Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne
von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie
überhaupt beantragt oder ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder
Eventualantrag gestellt wird (vgl. BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271).  
 
5.2. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten grundsätzlich
dem Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG). Es
wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach er der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der Lage ist.  
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Luzern, 3. Abteilung, vom 28. Februar 2017 wird aufgehoben. Die Sache wird zu
neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Viktor Estermann wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdegegners wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'400.- ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 15. November 2017 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Williner 

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