Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 261/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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9C_261/2017            

 
 
 
Urteil vom 14. November 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Parrino, 
Gerichtsschreiber Williner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle Luzern, 
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Serge Karrer, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Kantonsgerichts Luzern 
vom 22. Februar 2017 (5V 16 301). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Der 1975 geborene A.________ war zuletzt seit 1993 als
Betriebsangestellter tätig. Im Juni 2002 meldete er sich unter Angabe von
Problemen mit der Wirbelsäule, dem rechten Bein und der Hüfte bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nachdem die IV-Stelle Luzern
dieses erste Leistungsbegehren wegen nicht bestandenem Wartejahr abgelehnt
hatte (Verfügung vom 29. September 2003), meldete sich A.________ im Juli 2004
erneut an. Die IV-Stelle veranlasste verschiedene Abklärungen in erwerblicher
und medizinischer Hinsicht; namentlich veranlasste sie ein psychiatrisches
Gutachten bei Dr. med. B.________ (Expertise vom 25. April 2005). Mit Verfügung
vom 31. August 2005 sprach die Verwaltung A.________ eine ganze Rente der
Invalidenversicherung ab dem 1. August 2004 zu (Invaliditätsgrad 100 %). Dieser
Rentenanspruch wurde im Rahmen zweier Revisionsverfahren in den Jahren 2007
(Mitteilung vom 25. Oktober 2007) und 2011 (Mitteilung vom 31. März 2011)
überprüft und jeweils bestätigt. Anlässlich einer weiteren Rentenüberprüfung im
Jahre 2014 veranlasste die IV-Stelle eine polydisziplinäre Begutachtung bei der
Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) Zentralschweiz (Expertise vom 21. April
2015).  
Bereits im November 2010 hatte sich A.________ für eine Hilflosenentschädigung
der Invalidenversicherung angemeldet. Gestützt unter anderem auf den
Abklärungsbericht Hilflosigkeit vom 2. Dezember 2010 sprach ihm die IV-Stelle
eine Entschädigung für mittelschwere Hilflosigkeit ab Januar 2009 zu (Verfügung
vom 5. Januar 2011). 
 
A.b. Wegen Verdachts auf unrechtmässigen Leistungsbezug liess die IV-Stelle
A.________ im Zeitraum vom 21. September bis zum 14. November 2015 observieren
(Observationsbericht vom 25. November 2015). Gestützt auf den dazu bei der
MEDAS Zentralschweiz eingeholten Bericht vom 8. Februar 2016 sowie auf die
Stellungnahmen des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 2. Dezember 2015
und vom 15. Februar 2016 hob die IV-Stelle die Invalidenrente rückwirkend per
1. August 2004 und die Hilflosenentschädigung rückwirkend per 1. Januar 2009
auf (Verfügungen vom 22. Juni 2016). Gleichzeitig verpflichtete sie A.________
zur Rückerstattung der zu Unrecht bezogenen Leistungen, welche sie mit zwei
separaten Verfügungen vom 5. September 2016 auf Fr. 610'058.50 bzw. auf Fr.
98'555.- bezifferte.  
 
B.   
Das Kantonsgericht Luzern vereinigte die gegen die Verfügungen vom 22. Juni und
vom 5. September 2016 angehobenen Beschwerdeverfahren. Mit Entscheid vom 22.
Februar 2017 hiess es die Beschwerden in den Verfahren 5V 16 301 und 5V 16 302
(betreffend die Aufhebung der Invalidenrente und der Hilflosenentschädigung)
unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der IV-Stelle gut
(Dispositiv-Ziffern 4 und 5), hob die Verfügungen vom 22. Juni 2016 auf und
wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit diese nach weiteren Abklärungen
gemäss den Erwägungen neu verfüge (Dispositiv-Ziffer 2). Auf die Beschwerden in
den Verfahren 5V 16 390 und 5V 16 391 (betreffend die Höhe der
Rückforderungsbeträge) trat es nicht ein (Dispositiv-Ziffer 3). 
 
C.   
Die IV-Stelle Luzern führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit dem Antrag, ihre Verfügungen vom 22. Juni 2016 seien unter Aufhebung der
Dispositiv-Ziffern 2, 4 und 5 des angefochtenen Entscheids zu bestätigen. 
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Kantonsgericht
Luzern beantragt unter Hinweis auf seine Erwägungen im angefochtenen Entscheid
die Abweisung der Beschwerde und verzichtet auf weitergehende Ausführungen. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) sieht von einer Vernehmlassung ab. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren)
Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (BGE 139 V
42 E. 1 S. 44 mit Hinweisen). 
 
1.1. Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich um einen
Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 Abs. 1 BGG (BGE 140 V 321 E. 3 S. 325
ff.; 133 V 477 E. 4 und 5 S. 480 ff.). Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten ist somit nur zulässig, wenn er einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG), oder wenn
die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit
einen bedeutenden Aufwand an Zeit und Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG).  
 
1.2. Mit der vorinstanzlichen Ausschliessung der Verwertung des
Observationsberichts vom 25. November 2015, des Berichts der MEDAS
Zentralschweiz vom 8. Februar 2016 sowie der Stellungnahmen des RAD vom 2.
Dezember 2015 und vom 15. Februar 2016 (Dispositiv-Ziffer 2 des angefochtenen
Entscheids mit Verweis auf die Erwägungen; zu deren Teilhabe an der formellen
Rechtskraft des Dispositivs vgl. BGE 113 V 159) ist die Eintretensvoraussetzung
von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG erfüllt. Die IV-Stelle wäre damit gezwungen, von
ihr als entscheidwesentlich angesehenes Beweismaterial ausser Acht zu lassen
und gegebenenfalls eine ihres Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen.
Darin liegt ein nicht wieder gutzumachender Nachteil (Urteil 8C_192/2017 vom
25. August 2017 E. 1.2 mit Hinweisen).  
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob der vorinstanzliche Schluss, die Observation und
die Verwertung der Überwachungsergebnisse sowie sämtlicher damit in
Zusammenhang stehender Belege seien unzulässig gewesen, vor Bundesrecht
standhält. 
 
3.  
 
3.1. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem Urteil
vom 18. Oktober 2016 in Sachen Vukota-Bojic gegen die Schweiz (61838/10) über
die EMRK-Konformität einer Observation, die im Auftrag eines (sozialen)
Unfallversicherers durch einen Privatdetektiv erfolgt war, befunden. Er
erkannte, dass eine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine Observation
nicht bestehe, weshalb er auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf
Achtung des Privatlebens) schloss. Hingegen verneinte er eine Verletzung von 
Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Gebot eines fairen Verfahrens) durch die erfolgte
Verwendung der Observationsergebnisse.  
Das Bundesgericht hat unter Berücksichtigung dieser Erwägungen des EGMR
entschieden, dass es trotz Art. 59 Abs. 5 IVG auch im Bereich der
Invalidenversicherung an einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage fehle, die
die Observation umfassend klar und detailliert regelt. Folglich verletzen
solche Handlungen, seien sie durch den Unfallversicherer oder durch eine
IV-Stelle veranlasst, Art. 8 EMRK bzw. den einen im Wesentlichen gleichen
Gehalt aufweisenden Art. 13 BV (zur Publikation vorgesehenes Urteil 9C_806/2016
vom 14. Juli 2017 E. 4; seither auch: Urteil 9C_328/2017 vom 9. November
2017). 
 
3.2. Was die Verwendung des im Rahmen einer widerrechtlichen Observation
gewonnenen Materials anbelangt, richtet sich diese allein nach schweizerischem
Recht. Das Bundesgericht hat im erwähnten Urteil 9C_806/2016 im Wesentlichen
erkannt, dass die Verwertbarkeit der Observationsergebnisse (und damit auch der
gestützt darauf ergangenen weiteren Beweise) grundsätzlich zulässig ist, es sei
denn, bei einer Abwägung der tangierten öffentlichen und privaten Interessen
würden diese überwiegen (E. 5.1.1). Mit Blick auf die gebotene
Verfahrensfairness hat es sodann in derselben Erwägung (mit Hinweisen) eine
weitere Präzisierung angebracht: Eine gegen Art. 8 EMRK verstossende
Videoaufnahme ist verwertbar, solange Handlungen des Versicherten aufgezeichnet
werden, die er aus eigenem Antrieb und ohne äussere Beeinflussung machte, und
ihm keine Falle gestellt worden war. Ferner hat es erwogen, dass von einem
absoluten Verwertungsverbot wohl immerhin insoweit auszugehen ist, als es um
Beweismaterial geht, das im nicht öffentlich frei einsehbaren Raum
zusammengetragen wurde (E. 5.1.3; Urteil 8C_192/2017 vom 25. August 2017 E.
5.4.1 mit Hinweisen; zum öffentlich einsehbaren Raum: BGE 137 I 327).  
 
4.   
Mit Blick auf diese jüngste Rechtsprechung steht mit dem kantonalen Gericht
fest, dass die streitbetroffene Observation unzulässig war, weshalb eine
Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 13 BV festzustellen ist. Hingegen ist der
angefochtene Entscheid insoweit bundesrechtswidrig, als er die Verwertbarkeit
der Observationsergebnisse und der gestützt darauf ergangenen weiteren Beweise
betrifft und ohne Weiteres deren Unbeachtlichkeit bei der Beweiswürdigung
anordnet. Es bleibt zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Verwertung
erfüllt sind. 
 
4.1. Die Observation wurde von der IV-Stelle wegen widersprüchlicher Aussagen
des Beschwerdegegners sowie mehrfachen Hinweisen (u.a. in der MEDAS-Expertise
vom 21. April 2015) auf Aggravation in Auftrag gegeben. Damit bestanden
ausgewiesene Zweifel über die Leistungs (un) fähigkeit des Beschwerdegegners.
Gegenstand der Observation bildeten ausschliesslich im öffentlichen Raum
aufgenommene (unbeeinflusste) Handlungen. Es liegt deshalb kein Fall absoluter
Unverwertbarkeit vor. Die Überwachung erstreckte sich über einen Zeitraum von
acht Wochen (vom 21. September bis zum 14. November 2015), wobei nur an elf
Tagen tatsächlich observiert wurde. Von diesen elf Tagen konnte der
Beschwerdegegner an drei Tagen gar nicht angetroffen und an weiteren drei Tagen
lediglich beim Gang zum Briefkasten beobachtet werden. An den restlichen fünf
wurde der Beschwerdegegner unter anderem bei verschiedenen Fahrdiensten, bei
Einkaufstouren sowie auf dem Weg zu zwei Arztbesuchen aufgezeichnet. Damit war
er - trotz der beträchtlichen Gesamtdauer der Observation von acht Wochen -
weder einer systematischen noch einer ständigen Überwachung ausgesetzt. Damit
und mit Blick auf die aufgezeichneten (sehr) alltäglichen Verrichtungen und
Handlungen kann insgesamt von keiner schweren Verletzung der Persönlichkeit
ausgegangen werden (vgl. BGE 137 I 327 E. 5.6 S. 334).  
 
4.2. Stellt man diesem relativ bescheidenen Eingriff in die grundrechtliche
Position der versicherten Person das erhebliche und gewichtige öffentliche
Interesse an der Verhinderung des Versicherungsmissbrauchs (Urteil 9C_806/2016
vom 14. Juli 2017 E. 5.1.2 mit Hinweis auf 8C_239/2008 vom 17. Dezember 2009 E.
6.4.1 Abs. 2 und dortige Hinweise) entgegen, ergibt sich, dass der
Observationsbericht vom 25. November 2015 (inklusive Fotodokumentation und
Videoaufnahmen), der Bericht der MEDAS Zentralschweiz vom 8. Februar 2016 sowie
die Stellungnahmen des RAD vom 2. Dezember 2015 und vom 15. Februar 2016 in die
Beweiswürdigung miteinbezogen werden können und müssen.  
 
4.3. Entgegen der Vorinstanz kann bei unzensierter Aktenlage ein die
prozessuale Revision rechtfertigender Sachverhalt und damit eine rückwirkende
Korrektur (ex tunc; vgl. Urteil 8C_626/2014 vom 6. Januar 2014 E. 3.4 und UELI
KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, N. 25 zu Art. 53 ATSG) nicht ohne
Weiteres ausgeschlossen werden. Es erübrigen sich deshalb an dieser Stelle
Weiterungen zu den vorinstanzlichen Erwägungen betreffend das Vorliegen einer
(grundsätzlich nur für die Zukunft greifenden) revisionsbegründenden Änderung
in den tatsächlichen Verhältnissen.  
 
4.4. Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese die
angefochtene Verfügung unter Einbezug aller Akten umfassend würdigt und neu
über die Beschwerde entscheidet.  
 
5.  
 
5.1. Die Rückweisung der Sache zu weiterer Abklärung (mit noch offenem Ausgang)
oder neuer Entscheidung gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten
und den Anspruch auf Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne
von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie
überhaupt beantragt oder ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder
Eventualantrag gestellt wird (vgl. BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271).  
 
5.2. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten dem
Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführerin
steht keine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 3 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Luzern, 3. Abteilung, vom 22. Februar 2017 wird aufgehoben. Die Sache wird zu
neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 14. November 2017 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Williner 

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