Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 241/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_241/2017        

Urteil vom 14. Juni 2017

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Furrer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Rainer Niedermann,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(vorsorgliche Massnahme; kantonales Verfahren),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 22. Februar 2017.

Sachverhalt:

A. 
Der 1971 geborene A.________ bezog mit Wirkung ab 1. März 1999 eine ganze
Invalidenrente (Invaliditätsgrad von 100 %; Verfügung der IV-Stelle des Kantons
St. Gallen [fortan: IV-Stelle] vom 23. August 2001). Im Rahmen einer im Juli
2014 eingeleiteten Rentenrevision veranlasste die IV-Stelle eine Observation
des Versicherten sowie eine psychiatrisch-rheumatologische Untersuchung
(Expertise vom 17. März 2016; ergänzende Stellungnahme vom 29. Juni 2016) und
hob mit Verfügung vom 22. November 2016 die Invalidenrente per 31. Dezember
2016 auf. Gleichzeitig entzog sie einer allfälligen Beschwerde die
aufschiebende Wirkung.

B. 
Auf Beschwerde des A.________ hin stellte das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen mit Entscheid vom 22. Februar 2017 die aufschiebende Wirkung der
Beschwerde gegen die Verfügung vom 22. November 2016 wieder her.

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es sei der Beschwerde
vom 5. Januar 2017 gegen die Verfügung vom 22. November 2016 die aufschiebende
Wirkung zu entziehen. Eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zu neuer
Entscheidung zurückzuweisen.

Während der Beschwerdegegner, der gleichzeitig um unentgeltliche Rechtspflege
im Sinne der Kostenbefreiung und der unentgeltlichen Verbeiständung ersucht,
und die Vorinstanz auf Nichteintreten, eventualiter auf Abweisung der
Beschwerde schliessen, lässt sich das Bundesamt für Sozialversicherungen nicht
vernehmen.

Erwägungen:

1.

1.1. Gemäss Art. 90 BGG ist die Beschwerde zulässig gegen Entscheide, die das
Verfahren abschliessen. Ebenfalls zulässig ist nach Art. 91 Abs. 1 BGG die
Beschwerde gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die
Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren. Gegen einen sog. anderen
selbstständig eröffneten Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG ist die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten demgegenüber nur zulässig,
wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit. a
BGG), oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid
herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit und Kosten für ein
weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b).
Entscheide über die aufschiebende Wirkung sind Entscheide über vorsorgliche
Massnahmen nach Art. 98 BGG (Urteil 9C_652/2011 vom 19. Januar 2012 E. 4.1 mit
Hinweisen). Somit kann diesbezüglich nur die Verletzung verfassungsmässiger
Rechte gerügt werden (Art. 98 BGG).

1.2. Die Vorinstanz hat entgegen der Verfügung der IV-Stelle vom 22. November
2016 als vorsorgliche Massnahme die Wiederherstellung der aufschiebenden
Wirkung der Beschwerde angeordnet. Die IV-Stelle macht eine Verletzung der
Begründungspflicht nach Art. 29 Abs. 2 BV und des Willkürverbots nach Art. 9 BV
und damit zulässige Beschwerdegründe nach Art. 98 BGG geltend (vgl. Urteil
8C_983/2012 vom 8. Mai 2013 E. 2). Da auch die übrigen
Eintretensvoraussetzungen, einschliesslich des nicht wieder gutzumachenden
Nachteils (Urteile 8C_507/2013 vom 2. Dezember 2013 E. 1.2; 9C_38/2017 vom 21.
März 2017 E. 1.2), erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.

2. 
Die Vorinstanz erwog, nach ihrer Praxis fehle auch im IV-Verfahren eine
genügende gesetzliche Grundlage für eine Observation von Versicherten. Ferner
sei gesetz- und verfassungswidrig beschafftes Datenmaterial aus den Akten zu
entfernen. Damit dürfte es "im vorliegenden Fall an einem spruchreif
abgeklärten Sachverhalt fehlen" und es bestünden hinreichend eindeutige
Aussichten dafür, dass die angefochtene Verfügung aufgehoben werden könnte.
Aufgrund dieser für den Versicherten günstigen Entscheidprognose für das
Verfahren vor dem Versicherungsgericht sei die aufschiebende Wirkung der
Beschwerde wiederherzustellen.

3. 
Die Argumentation der Vorinstanz verletzt in Begründung und Ergebnis
Verfassungsrecht, indem sie sich in offensichtlicher und damit willkürlicher
Weise über die Voraussetzungen für die ausnahmsweise Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung hinwegsetzt. 
Das kantonale Gericht erachtete im Rahmen einer summarischen Würdigung den
Sachverhalt für nicht liquid und stellte damit implizit eine Rückweisung der
Sache an die Verwaltung zu weiteren Abklärungen und neuer Verfügung in
Aussicht. Zu dieser Entscheidvariante besteht eine ständige Rechtsprechung zur
Wirkung des Entzugs des Suspensiveffekts der aufschiebenden Wirkung. Gemäss
dieser dauert - unter Vorbehalt einer allfällig missbräuchlichen Provozierung
eines möglichst frühen Revisionszeitpunktes durch die Verwaltung - der mit der
revisionsweise verfügten Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente oder
Hilflosenentschädigung verbundene Entzug der aufschiebenden Wirkung einer
Beschwerde bei Rückweisung der Sache an die Verwaltung auch noch für den
Zeitraum dieses Abklärungsverfahrens bis zum Erlass der neuen
Verwaltungsverfügung an (BGE 106 V 18; 129 V 370; Urteil 8C_451/2010 vom 11.
November 2010 E. 2-4, publ. in: SVR 2011 IV Nr. 33 S. 96 mit Hinweisen). Eine
Aufhebung des von der Verwaltung angeordneten Entzugs der aufschiebenden
Wirkung ist demnach lediglich in Ausnahmefällen zulässig. Ob eine solche
Ausnahme vorliegt, hat das erstinstanzliche Gericht zu prüfen und gestützt auf
Art. 29 Abs. 2 BV (und Art. 61 lit. h ATSG) wenigstens in den Grundzügen zu
begründen (BGE 136 I 184 E. 2.2.1 S. 188, 229 E. 5.2 S. 236).

Wie dem angefochtenen Entscheid sowie der Stellungnahme der Vorinstanz
entnommen werden kann, ging das kantonale Gericht nicht von
rechtsmissbräuchlichem Verhalten der Verwaltung aus. Entscheidender Grund für
die Wiederherstellung des Suspensiveffekts der Beschwerde war vielmehr die für
den Versicherten "günstige Entscheidprognose" für das Verfahren vor dem
Versicherungsgericht. Die (wahrscheinliche) Gutheissung der Beschwerde wegen
nicht liquider Aktenlage und Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu
weiteren Abklärungen stellt indes keinen Ausnahmegrund im Sinne der hievor
wiedergegebenen Rechtsprechung dar, sondern entspricht einzig und allein der
Ausgangslage derselben Rechtsprechung. (Andere) Gründe, welche für die
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung sprechen bzw. ein Eingreifen der
Vorinstanz in den weiten Ermessensspielraum der IV-Stelle (BGE 105 V 266 E. 2
S. 269) rechtfertigen könnten, sind weder dargetan noch ersichtlich.
Insbesondere ist der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache offen. Die
Beschwerde ist offensichtlich begründet und der angefochtene Entscheid
aufzuheben.

4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdegegner grundsätzlich
die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Seinem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG). Er
hat der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er später dazu in der Lage
ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 22. Februar 2017 wird aufgehoben.

2. 
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Rainer Niedermann wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten für das bundesgerichtliche Verfahren von Fr. 800.- werden
dem Beschwerdegegner auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse
genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdegegners wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 400.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. Juni 2017

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Pfiffner

Der Gerichtsschreiber: Furrer

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