Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 18/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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9C_18/2017             

 
 
 
Urteil vom 28. November 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber Grünenfelder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Hellstern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Ausgleichskasse des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, 
St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV 
(örtliche Zuständigkeit; negativer Kompetenzkonflikt), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau 
vom 16. November 2016 (VV.2016.293/E). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________, wohnhaft in X.________ (SG), pflegte ihre Mutter B.________
(geboren am 1. Januar 1920) an deren Wohnsitz in Y.________ (TG). Diese bezog
neben einer Entschädigung der Invalidenversicherung für eine Hilflosigkeit
schweren Grades Ergänzungsleistungen (EL) zu ihrer AHV-Rente. Im März 2014
ersuchte A.________ um Vergütung der bei der Pflege angefallenen
Betreuungskosten. Mit Verfügung vom 13. Juni 2014 bzw. Einspracheentscheid vom
4. Juni 2015 wies die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau (nachfolgend:
Ausgleichskasse) das Gesuch ab. B.________ verstarb am 27. Februar 2015. 
 
B.   
 
B.a. Die gegen den Einspracheentscheid vom 4. Juni 2014 erhobene Beschwerde der
A.________ leitete das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau am 9. Juli 2015
formlos an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen weiter.  
 
B.b. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen erachtete sich als
unzuständig, trat auf die Beschwerde nicht ein und überwies die Sache
zuständigkeitshalber zurück an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
(Entscheid vom 9. September 2016).  
 
B.c. Mit Entscheid vom 16. November 2016 erliess auch das Verwaltungsgericht
des Kantons Thurgau einen förmlichen Nichteintretensentscheid wegen fehlender
örtlicher Zuständigkeit.  
 
C.   
A.________ lässt gegen beide Entscheide Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, das Bundesgericht habe über die
Frage der örtlichen Zuständigkeit zu entscheiden und die Angelegenheit zur
materiellen Beurteilung an die zuständige Instanz zu überweisen. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, die Ausgleichskasse und das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Bei den angefochtenen Nichteintretensentscheiden handelt es sich um
Endentscheide im Sinne von Art. 90 BGG, mit welchen die kantonalen Gerichte
ihre örtliche Zuständigkeit verneint haben (BGE 135 V 153 E. 1.3 S. 156; SVR
2010 IV Nr. 40 S. 126, 9C_1000/2009 E. 1.2 mit Hinweisen). Hiegegen ist die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zulässig (Art. 82 lit. a
und 90 BGG). 
 
2.   
Nach dem im Abschnitt Rechtspflegeverfahren unter der Überschrift Zuständigkeit
stehenden Art. 58 Abs. 3 ATSG überweist die Behörde, die sich als unzuständig
erachtet, die Beschwerde ohne Verzug dem zuständigen Versicherungsgericht. Mit
der Einreichung der Beschwerde bei der unzuständigen Behörde wird die
Beschwerdefrist gewahrt (Art. 60 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 2 ATSG).
Dabei kann das sich als unzuständig betrachtende kantonale Versicherungsgericht
einen Nichteintretensentscheid erlassen oder sich darauf beschränken, die Sache
an das als zuständig betrachtete Versicherungsgericht eines anderen Kantons
weiterzuleiten. Unabhängig davon, ob das erste Gericht die Beschwerde formlos
weiterleitet oder einen förmlichen Nichteintretensentscheid erlässt, welcher
von der rechtsuchenden Person im Hinblick auf die vorgenommene Weiterleitung
der Sache an das zweite Gericht unangefochten blieb, ist bei Verneinung der
örtlichen Zuständigkeit in einem Nichteintretensentscheid des zweiten Gerichts
im Rahmen des dagegen eingeleiteten Beschwerdeverfahrens die Zuständigkeit
beider in Frage kommenden Gerichte vom Bundesgericht ohne Bindung an den
Nichteintretensentscheid des ersten kantonalen Gerichts zu prüfen. Da bei
fehlender Zuständigkeit des zweiten Gerichts keine Instanz nach Art. 58 ATSG
zur Verfügung stünde, kann bei einer solchen Verfahrenskonstellation die
Rechtskraft des Nichteintretensentscheids des ersten kantonalen Gerichts nicht
eintreten (BGE 135 V 153 E. 1.2 S. 155 f.; Urteil 9C_41/2012 vom 12. März 2012
E. 2.2, je mit Hinweisen). 
 
3.   
Die Frage nach der Zuständigkeit des kantonalen Versicherungsgerichts in einem
Beschwerdeverfahren gegen einen EL-Einspracheentscheid richtet sich
ausschliesslich nach Art. 58 ATSG, weil diese Norm im Recht der
Ergänzungsleistungen integral gilt, insbesondere nicht durch Art. 21 ELG
modifiziert worden ist. Entsprechend ist das Versicherungsgericht desjenigen
Kantons zuständig, in dem die versicherte Person oder der Beschwerde führende
Dritte zur Zeit der Beschwerdeerhebung Wohnsitz hat. Dabei sind die - zur
örtlichen Zuständigkeit führenden - Begriffe der versicherten Person oder des
Beschwerde führenden Dritten unter Berücksichtigung der Umstände so auszulegen,
wie sie im jeweils in Frage stehenden Leistungsbereich rechtlich massgeblich
sind. Bei Leistungsstreitigkeiten ist jedenfalls prioritär an den Wohnsitz der
versicherten Person anzuknüpfen. Zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit ist
der Wohnsitz des Beschwerde führenden Dritten nur dann von Belang, wenn ein
solcher der versicherten Person nicht besteht (BGE 139 V 170 E. 5.3 S. 175
f.). 
 
4.   
Die Verordnung des Regierungsrates des Kantons Thurgau zum Gesetz über
Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung vom
11. Dezember 2007 (RB 831.31; nachfolgend: RRV Ergänzungsleistungen zur AHV/IV)
bestimmt was folgt: 
 
" § 5       Vergütung nach dem Tod 
Ist eine versicherte Person gestorben, welche in die Berechnung der jährlichen
Ergänzungsleistungen einbezogen war, so werden ihre Krankheits- und
Behinderungskosten vergütet, wenn ihre Rechtsnachfolger dies innert zwölf
Monaten nach dem Tod verlangen. 
§ 5a        Auszahlung der Vergütung 
1 Die Vergütung für ausgewiesene Krankheits- und Behinderungskosten ist an die
anspruchsberechtigten Bezügerinnen und Bezüger einer jährlichen
Ergänzungsleistung auszurichten. 
2 [...]." 
 
5.  
 
5.1. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat im Wesentlichen
erwogen, die Beschwerdeführerin führe den Prozess als Erbin der verstorbenen
EL-Bezügerin. Deshalb stehe für sie kein eigener Gerichtsstand an ihrem
Wohnsitz zur Verfügung, könne doch ein Erbe der versicherten Person weder
selber Versicherter noch Dritter sein. Wie das Bundesgericht in BGE 139 V 170
für die Kinder eines Bezügers von Ergänzungsleistungen festgehalten habe, müsse
auch hier davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin in ihrer
Eigenschaft als Erbin und Rechtsnachfolgerin ihrer Mutter innerhalb des
Rechtsverhältnisses stehe und somit nicht als Dritte angesehen werden könne.
Daher sei es sachgerecht, den alleinigen Gerichtsstand im Kanton Thurgau - am
Wohnsitz der versicherten Person zur Zeit des strittigen Anspruchs -
anzuerkennen. Damit ergebe sich eine übereinstimmende Zuständigkeit der
Ausgleichskasse und des kantonalen Versicherungsgerichts.  
 
5.2. Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau seine örtliche
Zuständigkeit mit der Begründung verneint, die Beschwerdeführerin habe im
Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung unbestritten Wohnsitz im Kanton St. Gallen
gehabt, weshalb das dortige Versicherungsgericht zuständig sei. Es bestehe kein
Grund, von der gesetzlichen Regelung des Art. 58 Abs. 1 ATSG abzuweichen. Die
Beschwerdeführerin habe denn auch keinen näheren Bezug zum Kanton Thurgau,
während die versicherte Person selber bereits vor Einreichung der Beschwerde
verstorben sei. Es bestehe demnach kein Wohnsitz im Kanton Thurgau, welcher
eine örtliche Zuständigkeit begründen könnte. Die Frage, ob eine gesplittete
örtliche Zuständigkeit eintreten könnte, stelle sich nicht, weil die
versicherte Person nicht mehr in der Lage sei, selber Beschwerde zu führen. Mit
dem Wohnsitzgerichtsstand habe der Gesetzgeber zudem in Kauf genommen, dass
eine Streitigkeit unter Umständen nicht durch das Gericht im Kanton der
zuständigen Ausgleichskasse entschieden werde.  
 
5.3.  
 
5.3.1. In concreto ergibt sich aus dem kantonalen Recht (E. 4), dass die
Vergütung für ausgewiesene Krankheits- und Behinderungskosten der Bezügerin der
jährlichen Ergänzungsleistung ausbezahlt wird. Direkt anspruchsberechtigt war
denn auch allein die verstorbene Mutter der Beschwerdeführerin. Letztere gilt
selber weder als versicherte Person, noch hat sie einen originären
Leistungsanspruch (vgl. Art. 14 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit Abs. 2 ELG und
§ 11 RRV Ergänzungsleistungen zur AHV/IV; zum gegenteiligen Fall: BGE 135 V 153
E. 4.11 S. 161). Dass die Krankheits- und Behinderungskosten gemäss der
kantonalen RRV Ergänzungsleistungen zur AHV/IV unter Einhaltung einer
zwölfmonatigen Frist auch nach dem Tod der EL-Bezügerin vergütet werden können,
ändert nichts: Auch in diesem Fall verfügt die Beschwerdeführerin nur über ein
von der (verstorbenen) versicherten Person abgeleitetes Recht. Sie handelt, wie
aus § 5 RRV Ergänzungsleistungen zur AHV/IV explizit hervorgeht, lediglich als
deren "Rechtsnachfolger[in]" (zur Legitimation des Erben vgl. BGE 136 V 7 E.
2.1.2 S. 10 f.).  
Ebenso wenig kann die Beschwerdeführerin als Beschwerde führende Dritte (E. 3)
betrachtet werden, zumal die geltend gemachte aktive (Pflege-) Tätigkeit resp.
deren Kostenersatz im EL-rechtlichen Kontext offensichtlich nicht ausserhalb,
sondern innerhalb des streitigen Rechtsverhältnisses steht (BGE 139 V 170 E.
5.3 S. 175). Ob die Verfügung vom 13. Juni 2014 und der Einspracheentscheid vom
4. Juni 2015 zu Recht (alleine) an die Beschwerdeführerin adressiert waren,
kann dahingestellt bleiben, führt doch auch die unrichtige oder unvollständige
Bezeichnung des Verfügungsadressaten nicht zur Nichtigkeit der Verfügung,
solange sich der ins Recht gefasste Adressat - wie hier - aus dem
Sachzusammenhang eindeutig ergibt (HÄFELIN/MÜLLER/ UHLMANN, Allgemeines
Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 2016, S. 244 Rz. 1126). 
 
5.3.2. Nach dem Gesagten ist darauf zu schliessen, dass betreffend die
Zuständigkeit des kantonalen Versicherungsgerichts der Wohnsitz im Zeitraum,
für welchen die Anspruchsberechtigung konkret besteht, massgeblich bleibt. Dies
gilt umso mehr, als die Beschwerdeführerin ihre Mutter (gemeinsam mit ihren
Geschwistern) unstreitig an deren Wohnsitz in Y.________ (TG) pflegte. Im
Kanton St. Gallen wurden hingegen zu keinem Zeitpunkt Pflege- oder
Betreuungsleistungen erbracht. Damit liegt der Ort des direktesten Bezugs
klarerweise im Kanton Thurgau, was ebenfalls für diesen Gerichtsstand spricht (
BGE 135 V 153 E. 4.11 S. 161). Der Nichteintretensentscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 16. November 2016 verletzt daher
Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG).  
 
6.   
Infolge des negativen Kompetenzkonflikts war die Beschwerdeführerin gezwungen,
beide Nichteintretensentscheide der kantonalen Versicherungsgerichte vor dem
Bundesgericht anzufechten. Dabei obsiegt sie, weshalb der Kanton Thurgau die
Beschwerdeführerin für das Verfahren vor Bundesgericht zu entschädigen hat
(Art. 68 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 66 Abs. 3 BGG; vgl. Urteil 4A_405/2015
vom 26. Januar 2016 E. 5 [nicht publiziert in: BGE 142 III 96] mit Hinweis auf
BGE 138 III 471 E. 7 a.E. S. 483). Gerichtskosten werden keine erhoben (Art. 66
Abs. 4 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, als der Nichteintretensentscheid
des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 16. November 2016 aufgehoben
und die Sache an dieses zurückgewiesen wird, damit es materiell über die
Beschwerde gegen den Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Kantons
Thurgau vom 4. Juni 2015 entscheide. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Thurgau hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 28. November 2017 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder 

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