Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 120/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
9C_120/2017  
 
 
Urteil vom 13. März 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann. 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Claude Wyssmann, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 29.
Dezember 2016 
(200 15 857 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1960 geborene A.________ war bei der B.________ AG tätig. Wegen der Folgen
eines Schulterleidens sprach ihm die IV-Stelle Bern mit Verfügung vom 13.
Dezember 2007 ab 1. April 2006 eine ganze Invalidenrente zu, welche die
IV-Stelle mit Verfügung vom 20. Mai 2009, bestätigt mit Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 21. Januar 2010, revisionsweise auf
Ende Juni 2009 aufhob. 
Am 21. Juli 2011 meldete sich der Versicherte erneut bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug an, wobei er eine Verschlechterung des
Gesundheitszustands geltend machte. Gestützt auf eine polydisziplinäre
Expertise der MGSG Medizinisches Gutachtenzentrum Region St. Gallen GmbH vom
22. April 2015 mit einem psychiatrischen Teilgutachten des Dr. med. C.________
vom 12. Februar 2015 lehnte die IV-Stelle den geltend gemachten
Leistungsanspruch ab, weil die Abklärungen kein invalidisierendes Leiden
ergeben hätten (Verfügung vom 21. August 2015). 
 
B.   
Die von A.________ hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Bern mit Entscheid vom 29. Dezember 2016 ab. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Anträgen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihm
mindestens eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zuzusprechen; eventuell
sei eine ergänzende Expertise durch das MGSG anzuordnen; subeventuell sei die
Sache zwecks Durchführung eines Beweisverfahrens an die Vorinstanz
zurückzuweisen. 
 
D.   
Am 13. Juli 2017 lässt der Versicherte zwei Arztberichte einreichen. 
Erwägungen: 
 
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem
sie den vom Beschwerdeführer mit einer Neuanmeldung vom 21. Juli 2011 geltend
gemachten Anspruch auf eine Invalidenrente verneint hat. Sie hat die
diesbezüglich massgebenden Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt, namentlich
die Bestimmungen zu den Begriffen der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG) und der
Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 Abs. 1 ATSG), den Anspruch auf eine Invalidenrente (
Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie die im Zusammenhang mit einer Neuanmeldung
anwendbaren Bestimmungen (Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV; Art. 17 Abs. 1 ATSG).
Darauf wird verwiesen. 
 
3.   
3.1 Nach der früheren Rechtsprechung wurde bei leichten bis mittelschweren
Störungen aus dem depressiven Formenkreis, seien sie im Auftreten rezidivierend
oder episodisch, angenommen, dass - aufgrund der nach gesicherter
psychiatrischer Erfahrung regelmässig guten Therapierbarkeit - hieraus keine
iv-rechtlich relevante Einschränkung der Arbeitsfähigkeit resultiert. Den
leichten bis mittelschweren depressiven Erkrankungen fehlt es, solange sie
therapeutisch angehbar sind, an einem hinreichenden Schweregrad der Störung, um
diese als invalidisierend anzusehen (vgl. BGE 140 V 193 E. 3.3 S. 196; Urteil
8C_753/2016 vom 15. Mai 2017). Nur in der - seltenen, gesetzlich verlangten
Konstellation mit Therapieresistenz - ist den normativen Anforderungen des Art.
7 Abs. 2 ATSG für eine objektivierende Betrachtungs- und Prüfungsweise Genüge
getan (BGE 141 V 281 E. 3.7.1 bis 3.7.3 S. 295 f.). 
3.2 In den zur Publikation in der Amtlichen Sammlung bestimmten Urteilen 8C_130
/2017 und 8C_841/2016 vom 30. November 2017 hat das Bundesgericht seine
Rechtsprechung geändert und festgestellt, dass die Therapierbarkeit keine
abschliessende evidente Aussage über das Gesamtmass der Beeinträchtigung und
deren Relevanz im iv-rechtlichen Kontext zu liefern vermöge. Weiter hat es
erkannt, dass sämtliche psychischen Erkrankungen, namentlich auch depressive
Störungen leicht- bis mittelgradiger Natur, einem strukturierten
Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen seien, welches bislang bei
Vorliegen somatoformer Schmerzstörungen anhand eines Katalogs von Indikatoren
durchgeführt wird. Dieses bleibt entbehrlich, wenn im Rahmen beweiswertiger
fachärztlicher Berichte (vgl. BGE 125 V 351) eine Arbeitsunfähigkeit in
nachvollziehbar begründeter Weise verneint wird und allfälligen gegenteiligen
Einschätzungen mangels fachärztlicher Qualifikation oder aus anderen Gründen
kein Beweiswert beigemessen werden kann (Urteil 8C_841/2016 vom 30. November
2017). 
 
4.   
4.1 Gemäss früherem Verfahrensstandard eingeholte Gutachten verlieren nicht per
se ihren Beweiswert. Vielmehr ist im Rahmen einer gesamthaften Prüfung des
Einzelfalls mit seinen spezifischen Gegebenheiten und den erhobenen Rügen
entscheidend, ob ein abschliessendes Abstellen auf die vorhandenen
Beweisgrundlagen vor Bundesrecht standhält. In sinngemässer Anwendung auf die
materiell-beweisrechtlich geänderten Anforderungen ist in jedem einzelnen Fall
zu prüfen, ob die beigezogenen administrativen und/oder gerichtlichen
Sachverständigengutachten - gegebenenfalls im Kontext mit weiteren
fachärztlichen Berichten - eine schlüssige Beurteilung im Lichte der
massgebenden Indikatoren erlauben oder nicht. Je nach Abklärungstiefe und
-dichte kann zudem unter Umständen eine punktuelle Ergänzung genügen (BGE 141 V
281 E. 8 S. 309). 
 
5.   
5.1 Laut vorinstanzlichen Ausführungen stellte der orthopädische Gutachter des
MGSG ein aggravatorisches Verhalten, eine Fixierung auf die Beschwerden sowie
eine mangelhafte Motivation fest. Dr. med. C.________ attestierte aus
psychiatrischer Sicht eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit in einer
leidensangepassten Tätigkeit von 40 %, wogegen laut Dr. med. D.________,
Facharzt für Orthopädie, aus somatischer Sicht keine Arbeitsunfähigkeit
bestand. 
5.2 Aufgrund der geänderten Rechtsprechung (vgl. E. 3.2 hievor) kann der
Begründung der Vorinstanz, die rezidivierende depressive Störung mit
überwiegend mittelgradigen Episoden sei nicht invalidisierend, weil noch einer
Therapie zugänglich, in dieser Form nicht mehr beigepflichtet werden, hat doch
nunmehr bei sämtlichen psychischen Erkrankungen, namentlich auch bei leicht-
bis mittelgradigen depressiven Störungen, ein strukturiertes Beweisverfahren
Platz zu greifen (vgl. E. 3 hievor). 
5.3 Das kantonale Gericht hat mit Blick auf die ebenfalls diagnostizierte
anhaltende somatoforme Schmerzstörung eine Evaluation der Arbeitsunfähigkeit
nach Massgabe der Indikatoren gemäss BGE 141 V 281 vorgenommen. Zur
Gesundheitsschädigung hat es festgestellt, es läge auch eine psychosoziale
Belastung vor und der Versicherte sei im Denken "negativistisch" auf die
körperlichen Beschwerden und die soziale Situation eingeengt. Ein schweres
psychisches Leiden liege jedoch nicht vor. Angesichts der zwar schon
langjährigen, aber mit einer geringen Therapiefrequenz stattfindenden
ambulanten Behandlung liege keine Therapieresistenz vor. Die Vorinstanz
verneinte des Weiteren mangels einer behandlungsresistenten invalidisierenden
psychischen Störung das Vorliegen einer psychischen Komorbidität und stellte
fest, dass die somatischen Störungen keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
bewirkten. 
5.4 Im Komplex "Persönlichkeit" liegt laut Erwägungen der Vorinstanz nebst
akzentuierten, ängstlich-vermeidenden, abhängigen Persönlichkeitszügen, denen
kein Krankheitswert zuerkannt wird, nichts zusätzlich Einschränkendes vor; zum
Komplex "sozialer Kontakt" hielt sie fest, das soziale Umfeld biete bedeutende
Ressourcen; dies habe sich auch in der 2012 durchgeführten
Eingliederungsmassnahme gezeigt. Schliesslich führte die Vorinstanz unter
Hinweis auf das Urteil 9C_389/2016 vom 8. November 2016 E. 8.3 aus, es könnten
sich Ausschlussgründe hinsichtlich der psychiatrischen Diagnose auch aus
Diskrepanzen in den somatischen Teilgutachten ergeben. 
 
6.   
6.1 Die Berufung der Vorinstanz auf das Urteil 9C_389/2016 vom 8. November 2016
geht zwar fehl, lagen doch in jenem Verfahren unübersehbare Inkonsistenzen vor,
indem das Leben der Versicherten in deutlichem Kontrast zu dem von ihr
Vorgebrachten stand, was im hier zu beurteilenden Fall nicht zutrifft. Hingegen
ist die vom kantonalen Gericht durchgeführte Indikatorenprüfung grundsätzlich
auch im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung, in welchem sich die Frage
stellt, ob von der vom Psychiater des MGSG, Dr. med. C.________, bescheinigten
Teilarbeitsunfähigkeit von 40 % in einer angepassten Tätigkeit (hälftige
Arbeitsunfähigkeit in der angestammten Beschäftigung) aus rechtlicher Sicht
abzuweichen ist. Da die Vorinstanz bei der Anwendung der Indikatoren auf den
vorliegenden Fall entsprechend BGE 141 V 281 E. 4.3.1.3 S. 300 ff. das
Gesamtbild des Versicherten im Fokus hatte, hat sie auch die depressive
Erkrankung in die Gesamtbetrachtung miteinbezogen. 
6.2 Gestützt auf die Indikatorenprüfung des kantonalen Gerichts mit den dieser
zugrunde liegenden, für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen
tatsächlicher Natur (E. 1 hievor) sowie die Darlegungen im psychiatrischen
Teilgutachten des Dr. med. C.________ vom 12. Februar 2015, die zusätzlich
berücksichtigt werden können, soweit diesbezüglich von einem von der Vorinstanz
unvollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen werden muss (Art. 105 Abs. 2
BGG), lässt sich die Frage beantworten, ob aufgrund der mitdiagnostizierten
mittelgradigen Depression eine iv-rechtlich relevante Arbeitsunfähigkeit
anzunehmen ist. 
Aus der Teilexpertise des Psychiaters Dr. med. C.________ geht klar hervor,
dass der Versicherte unter ausgeprägten psychosozialen Konflikten,
Arbeitslosigkeit und finanziellen Belastungen leidet und die Depression sich im
Zusammenhang mit den somatischen Problemen entwickelt hat. Feststellbar sind
aus psychiatrischer Sicht fehlende Motivation und Interesselosigkeit. Trotz der
bereits seit etwa 2010 bestehenden rezidivierenden depressiven Störung mit
überwiegend mittelgradigen Episoden und der andauernden somatoformen
Schmerzstörung kann nach Ansicht des Gutachters eine zumutbare
Willensanstrengung zur Wiederaufnahme einer beruflichen Aktivität angenommen
werden und sind dem Beschwerdeführer vermehrte Aktivitäten zumutbar. Da
schliesslich die geltend gemachten Beeinträchtigungen zufolge somatischer
Leiden von den Fachärzten des MGSG nicht in diesem Ausmass nachvollzogen werden
konnten und die mit der Begutachtung befassten Mediziner wiederholt sowie
unmissverständlich nicht nur von einer Verdeutlichung von Beschwerden, sondern
von Aggravation - im Sinne einer im Verhältnis zum objektiven Befund
übertriebenen Präsentation von Symptomen - sprachen, bleibt das Beschwerdebild
in Bezug auf die funktionellen Auswirkungen auch der Depression, die
ihrerseits, soweit nicht den geschilderten sozialen Problemen zuzuschreiben,
als Folge der somatischen Leiden aufzufassen ist, höchst fraglich und
jedenfalls beweismässig als zu wenig gesichert, woran weitere Abklärungen
nichts zu ändern vermöchten. Der geltend gemachte Rentenanspruch scheitert
demzufolge an der materiellen Beweislast des Versicherten, woran die in der
Beschwerde angerufene Rechtsprechung nichts geändert hat (BGE 141 V 281 E. 3.7
S. 295 f.). 
 
7.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 13. März 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer 

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