Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.92/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     

{T 0/2}            
8C_92/2017

Urteil vom 20. März 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Georg Engeli,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Arbeitsunfähigkeit, Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 30. November 2016.

Sachverhalt:

A. 
Die 1966 geborene A.________ war ab 1. Juni 2011 bis 31. Mai 2012 im Hotel
B.________ angestellt. Am 12. Dezember 2011 wurde sie als Fussgängerin von
einem Auto angefahren und erlitt Rücken- sowie Kopfverletzungen. Gleichentags
wurde sie im Spital C.________ mit einer dorsalen Spondylodese Th 10-12
versorgt. Am 15. Dezember 2011 kam es hier zu einer weiteren Operation
(Wirbelkörperersatz BWK 11, Schraubenrevision BWK 10). Am 29. Mai 2012 meldete
sich die Versicherte bei der IV-Stelle des Kantons Zürich zum Leistungsbezug
an. Am 17. Januar 2013 erfolgte im obigen Spital die Entfernung des Implantats.
Am 9. April 2014 erstatteten Frau Dr. med. D.________, Assistenzärztin, und
Prof. Dr. med. E.________, FMH Orthopädische Chirurgie und Traumatologie,
Klinik F.________, im Auftrag des Unfallversicherers ein Gutachten, an dem sich
die IV-Stelle mit Fragen beteiligt hatte. Am 12. Juni 2014 gaben die Gutachter
eine ergänzende Stellungnahme ab. Am 19. November 2014 erstellte das Zentrum
G.________ für den Unfallversicherer ein Gutachten, wobei es eine Expertise des
Psychiaters Dr. med. H.________, Chefarzt, Klinik I.________, vom 5. September
2014 beizog; die IV-Stelle hatte ebenfalls Fragen an die Gutachter gerichtet.
Mit Verfügung vom 26. Februar 2015 verneinte sie den Anspruch auf Rente und
medizinische Massnahmen.

B. 
Dagegen führte die Versicherte beim Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich Beschwerde. Sie legte das für den Unfallversicherer erstellte
Aktengutachten des Psychiaters Dr. med. J.________ vom 18. März 2016 auf. In
teilweiser Gutheissung der Beschwerde hob die Vorinstanz die Verfügung der
IV-Stelle auf und sprach der Versicherten ab 1. Januar 2013 bis 30. Juli 2013
eine ganze Invalidenrente zu. Im Übrigen wies sie die Beschwerde ab, soweit sie
darauf eintrat (Entscheid vom 30. November 2016).

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei ihr eine ganze
Invalidenrente zuzusprechen; eventuell sei die Sache zu weiterer Abklärung des
Invaliditätsgrades an die Vorinstanz zurückzuweisen; es sei ihr die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

Ein Schriftenwechsel wurde nicht angeordnet.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine
Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet
das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es -
offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten
Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art.
105 Abs. 2 BGG). Rechtsfragen sind die vollständige Feststellung erheblicher
Tatsachen, die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes bzw. der
Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG und der Anforderungen an den
Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232). Bei den aufgrund
dieser Berichte getroffenen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeits (un) fähigkeit und bei der konkreten Beweiswürdigung geht es um
Sachverhaltsfragen (nicht publ. E. 1 des Urteils BGE 141 V 585).

2. 
Das kantonale Gericht hat die rechtlichen Grundlagen über die
Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), die Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG, Art. 4
Abs. 1 IVG), die Invaliditätsbemessung nach der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs (vgl. Art. 16 ATSG) und die Voraussetzungen des
Rentenanspruchs (Art. 28, Art. 29 Abs. 3 IVG; Art. 88a Abs. 1 IVV) richtig
dargelegt. Gleiches gilt zur Rechtsprechung über die Invalidität bei
psychosomatischen Leiden (BGE 141 V 281, 131 V 49 E. 1.2 S. 50), den Beweiswert
von Arztberichten (vgl. E. 1 hievor; BGE 125 V 351 E. 3a S. 352; Urteil 9C_780/
2015 vom 7. Januar 2016 E. 3.1.1) und den massgebenden Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 138 V 218 E. 6 S. 221). Darauf wird
verwiesen.

3.

3.1. Die Beschwerdeführerin beantragt die Zusprechung einer ganzen
Invalidenrente. Nachdem sie eine solche vom kantonalen Gericht bis Ende Juli
2013 zugesprochen erhielt, ist ihr Begehren dahin zu verstehen, dass sie auf
die Zusprechung einer unbefristeten ganzen Rente abzielt. Insofern ist streitig
und zu prüfen, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat, indem es den
Rentenanspruch der Beschwerdeführerin befristete. Dies ist aufgrund des
Sachverhaltes zu beurteilen, wie er sich bis zum Verfügungserlass am 26.
Februar 2015 verwirklichte (BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S. 220).

3.2. Das kantonale Gericht hat in Würdigung der medizinischen Akten mit
einlässlicher Begründung - auf die verwiesen wird - den Grad und Verlauf der
somatischen Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin seit ihrem Unfall vom 12.
Dezember 2011 ermittelt. Hiergegen erhebt die Beschwerdeführerin keine
Einwendungen, weshalb es in diesem Punkt beim angefochtenen Entscheid sein
Bewenden hat.

4. 
Umstritten und zu prüfen bleibt der psychische Gesundheitszustand der
Beschwerdeführerin. Diesbezüglich erwog das kantonale Gericht im Wesentlichen,
sie sei laut der Beurteilung des Gutachters Dr. med. H.________ vom 5.
September 2014 wegen einer Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Reaktion
(ICD-10 F43.22) in der freien Wirtschaft nicht arbeitsfähig gewesen. Der
Psychiater Dr. med. J.________ habe im Aktengutachten vom 18. März 2016
indessen zu Recht festgehalten, dass Anpassungsstörungen nach ICD-10 F43
definitionsgemäss höchstens sechs Monate bzw. bei vorherrschender Depression
bis zu zwei Jahre andauerten, weshalb diese Diagnose nicht mehr auf den Unfall
vom 11. Dezember 2011 zurückgeführt werden könne. Dr. med. J.________, der die
Versicherte nicht selber untersucht habe, sei von einer Angststörung
ausgegangen. Seine Diagnosen basierten jedoch auf den von Dr. med. H.________
erhobenen Befunden. Aufgrund der klinischen Untersuchung durch Dr. med.
H.________ habe sich jedoch ein weitgehend unauffälliger Psychostatus gezeigt.
Eine psychiatrische Behandlung habe die Versicherte nach drei Monaten Ende 2013
abgebrochen. Danach habe sie bis zur Verfügung vom 26. Februar 2015 keine
psychiatrische Behandlung mehr in Anspruch genommen, weshalb nicht von einer
überwiegend wahrscheinlich erstellten invalidenversicherungsrechtlich
relevanten Therapieresistenz gesprochen werden könne. Dr. med. J.________ habe
nicht festgehalten, die von ihm diagnostizierte Schmerz- und Angststörung sei
nicht behandelbar. Weiter erwog die Vorinstanz, die im Gutachten der Klinik
F.________ vom 9. April 2014 sowie im Gutachten des Zentrums G.________ vom 5.
September/19. November 2014 dokumentierten Verdeutlichungstendenzen seien ein
starkes Indiz dafür, dass die angegebenen Einschränkungen der
Beschwerdeführerin nicht auf einen versicherten Gesundheitsschaden
zurückgingen. Auch sei sie trotz geklagter Angstsymptomatik allein zur
Begutachtung bei Dr. med. H.________ erschienen. Laut ihm verfügte sie über
gute Ressourcen. Ihre Behandlungsbemühungen deuteten nicht auf einen
ausgeprägten psychischen Leidensdruck hin. Demnach sei den von den Dres. med.
H.________ und J.________ gestellten Diagnosen aus rechtlicher Sicht keine
invalidisierende Wirkung beizumessen.

5.

5.1. Die Arbeitsunfähigkeit ist ein unbestimmter Rechtsbegriff des formellen
Gesetzes (Art. 6 ATSG). Daher kommt der Arztperson bei der Folgenabschätzung
der von ihr erhobenen gesundheitlichen Beeinträchtigung keine abschliessende
Beurteilungskompetenz zu, sondern sie nimmt hiezu Stellung, d.h. sie gibt eine
Schätzung ab. Diese ist durch die rechtsanwendenden Behörden im Rahmen der
rechtlichen Vorgaben zu würdigen (BGE 140 V 193 E. 3.1 und 3.2 S. 194 ff.).
Somit können sich Konstellationen ergeben, bei welchen von der im medizinischen
Gutachten festgestellten Arbeitsfähigkeit abzuweichen ist, ohne dass die
gesamte gutachterliche Beurteilung ihren Beweiswert verliert (SVR 2016 IV Nr.
51 S. 173, 8C_131/2016 E. 2.2; Urteile 9C_781/2016 vom 7. Februar 2017 E. 2.4
und 9C_497/2016 vom 29. Dezember 2016 E. 5.1).

5.2. Hinsichtlich der Beurteilung ihres psychischen Gesundheitszustands begnügt
sich die Beschwerdeführerin im Wesentlichen mit unzulässiger appellatorischer
Kritik (vgl. BGE 140 III 264 E. 2.3 S. 266) am angefochtenen Entscheid. So
fehlt es an einer hinreichenden Begründung, inwiefern das kantonale Gericht
offensichtlich unrichtige oder auf einer Rechtsverletzung beruhende
Tatsachenfeststellungen getroffen oder die Beweise bundesrechtswidrig gewürdigt
habe.

5.3. Soweit sich die Beschwerdeführerin auf das Zeugnis der Klinik K.________
vom 27. Januar 2017 beruft, handelt es sich, da erst nach dem angefochtenen
Gerichtsentscheid entstanden, um ein unzulässiges echtes Novum (Art. 99 Abs. 1
BGG; BGE 140 V 543 E. 3.2.2.2 S. 548; Urteil 8C_706/2016 vom 7. Dezember 2016
E. 3.2).

5.4. Die Beschwerdeführerin bringt vor, sie habe auf Anraten des Gutachters Dr.
med. H.________ ab April 2015 diverse Therapien absolviert. Es sei ihre
Arbeitsfähigkeit ab diesem Zeitpunkt zu klären. Dem kann nicht gefolgt werden.
Denn die Vorinstanz hat richtig erkannt, dass auf den bis 26. Februar 2015
eingetretenen Sachverhalt abzustellen ist (vgl. E. 3.1 hiervor).

5.5. Aus rechtlicher Sicht ist es nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz
psychischerseits in Abweichung von den Gutachten des Dr. med. H.________ vom 5.
September 2014 und des Dr. med. J.________ vom 18. März 2016 einen
invalidisierenden Gesundheitsschaden verneinte (vgl. E. 4 hiervor). Darüber
hinaus kann die Beschwerdeführerin aus dem Gutachten des Dr. med. J.________
auch deshalb nichts zu ihren Gunsten ableiten, weil es sich - wie sie selber
einräumt - einzig zur Unfallkausalität ihres Leidens, nicht aber zu ihrer
invalidenversicherungsrechtlich einzig massgebenden Arbeitsfähigkeit äusserte
(vgl. BGE 136 V 279 E. 3.2.1 S. 281; SVR 2014 IV Nr. 37 S. 130, 8C_7/2014 E.
4.1.2; Urteil 8C_531/2016 vom 28. November 2016 E. 2.3). Unbehelflich ist ihr
pauschaler Einwand, der Vorinstanz sei aufgefallen, dass die Gutachten der
Dres. med. H.________ und J.________ sehr unterschiedliche Erklärungen für ihre
gesundheitlichen Beeinträchtigungen enthielten.

5.6. Ebenso wenig lässt sich bemängeln, wenn die Vorinstanz bei der Beurteilung
des invalidisierenden Charakters der psychischen Problematik der Versicherten
u.a. die gutachterlich dokumentierten Verdeutlichungstendenzen
mitberücksichtigte (vgl. E. 4 hievor; Urteile 9C_632/2016 vom 5. Dezember 2016
E. 3.1 und 9C_154/2016 vom 19. Oktober 2016 E. 4.4). Nicht stichhaltig ist das
nicht weiter belegte Vorbringen der Beschwerdeführerin, angesichts der
Tragweite des Entscheides könne wohl kaum aufgrund solcher Indizien entschieden
werden.

5.7. Da von weiteren medizinischen Abklärungen keine entscheidrelevanten
Ergebnisse zu erwarten sind, verzichtete die Vorinstanz darauf zu Recht (Art.
29 Abs. 2 BV; antizipierte Beweiswürdigung; BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236; Urteil
8C_785/2016 vom 10. Februar 2017 E. 7.4.).

6. 
Wie schon erwähnt (vgl. E. 3.2), erhebt die Beschwerdeführerin keine
Einwendungen gegen die Beurteilung ihres Gesundheitszustandes und ihrer
Arbeitsfähigkeit aus somatischer Sicht. Insbesondere wendet sie sich nicht
spezifisch gegen die Annahme einer mindestens 80%igen Arbeitsfähigkeit ab dem
5. April 2013 (bzw. einer 100%igen ab September 2014) in angepasster Tätigkeit
und den gestützt auf diese Feststellungen durchgeführten Einkommensvergleich,
woraus in Anwendung von Art. 17 ATSG und Art. 88a Abs. 1 IVV (vgl. BGE 131 V
164) eine Rentenbefristung bis Ende Juli 2013 resultierte. Damit erübrigen sich
Weiterungen in dieser Hinsicht, zumal keine Anhaltspunkte für offensichtlich
unrichtige Feststellungen bestehen und auch keine Fehler in der Rechtsanwendung
ersichtlich sind.

7. 
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1).
Die unentgeltliche Rechtspflege kann ihr wegen Aussichtslosigkeit der
Beschwerde nicht gewährt werden (Art. 64 BGG; BGE 138 III 217 E. 2.2.4 S. 218).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 20. März 2017

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Jancar

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