Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.859/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_859/2017  
 
 
Urteil vom 8. Mai 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiber Nabold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Holger Hügel, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Rückerstattung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
1. November 2017 (VBE.2017.338, VBE.2017.581). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1967 geborene A.________ bezog mit Wirkung ab 1. Oktober 2004 eine ganze
Rente der Invalidenversicherung. Im Februar 2013 leitete die IV-Stelle des
Kantons Aargau ein Revisionsverfahren ein, liess den Versicherten durch
Privatdetektive observieren und anschliessend polydisziplinär medizinisch
begutachten. Mit Verfügung vom 7. März 2017 hob die IV-Stelle die laufende
Rente des Versicherten rückwirkend per 28. November 2013 auf. Zudem forderte
die IV-Stelle mit Rückerstattungsverfügung vom 8. Juni 2017 vom Versicherten
den Betrag von Fr. 143'319.- zurück. 
 
B.   
Die von A.________ hiegegen erhobenen Beschwerden hiess das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau nach Vereinigung der beiden Verfahren
mit Entscheid vom 1. November 2017 teilweise gut. Es änderte die Verfügung vom
7. März 2017 dahingehend ab, als die Aufhebung der Invalidenrente rückwirkend
per 6. Januar 2014 bestätigt wurde. Weiter legte das kantonale Gericht unter
Aufhebung der Verfügung vom 8. Juni 2017 den Zeitraum für die
Rentenrückerstattung auf den 1. Februar 2014 bis zum 31. März 2016 fest und
wies die Sache zur Neuberechnung des Rückerstattungsbetrages an die IV-Stelle
zurück. Gemäss der Rechtsmittelbelehrung stellt dabei der Entscheid über die
Rentenaufhebung einen anfechtbaren Endentscheid dar, während der Entscheid über
die Rückerstattungsforderung einen Zwischenentscheid darstelle, welcher nur im
Rahmen von Art. 93 BGG angefochten werden könne. 
 
C.   
Mit Beschwerde beantragt die IV-Stelle, es sei in Abänderung des kantonalen
Gerichtsentscheides der Rückerstattungszeitraum auf den 1. Februar 2014 bis 31.
März 2017 festzulegen. 
In seiner Stellungnahme vom 5. März 2018 beantragt A.________, es sei auf die
Beschwerde der IV-Stelle nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen.
Weiter sei Dispositivziffer 2 des kantonalen Entscheides aufzuheben und es sei
festzustellen, dass die IV-Stelle keinen Anspruch auf Rückerstattung der
IV-Rente gegen den Beschwerdegegner hat. 
Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
 
1.1. Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zulässig gegen Endentscheide, das
heisst gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG), und
gegen Teilentscheide, die nur einen Teil der gestellten Begehren behandeln,
wenn diese unabhängig von den anderen beurteilt werden können, oder die das
Verfahren nur für einen Teil der Streitgenossen und Streitgenossinnen
abschliessen (Art. 91 BGG). Gegen selbstständig eröffnete Vor- und
Zwischenentscheide ist hingegen die Beschwerde nur zulässig, wenn sie die
Zuständigkeit oder den Ausstand betreffen (Art. 92 BGG), einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn
die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit
einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG).
Rückweisungsentscheide, mit denen eine Sache zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen wird, sind Zwischenentscheide, die nur unter den
genannten Voraussetzungen beim Bundesgericht angefochten werden können (BGE 133
V 477 E. 4.2 S. 481 f.). Anders verhält es sich nur dann, wenn der unteren
Instanz, an welche zurückgewiesen wird, kein Entscheidungsspielraum mehr
verbleibt und die Rückweisung nur noch der Umsetzung des oberinstanzlich
Angeordneten dient (BGE 140 V 282 E. 4.2 S. 285 f.; SVR 2008 IV Nr. 39 S. 131,
9C_684/2007 E. 1.1).  
 
1.2. Die beschwerdeführende IV-Stelle verlangt die Änderung von
Dispositivziffer 2 des kantonalen Entscheides. Gemäss der Rechtsmittelbelehrung
dieses Entscheides und den Ausführungen des Beschwerdegegners handelt es sich
bei dieser Dispositivziffer um einen Rückweisungsentscheid und damit um einen
Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG. Ob diese Qualifikation zutrifft und
ob nicht mangels Entscheidungsspielraums der IV-Stelle von einem Endentscheid
auszugehen ist, erscheint zweifelhaft, braucht vorliegend indessen nicht
abschliessend geprüft zu werden: Geht man von einem Endentscheid aus, so wäre
die Beschwerde der IV-Stelle ohne weiteres zulässig. Qualifiziert man die
angefochtene Dispositivziffer als Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG,
so wäre auf die Beschwerde ebenfalls einzutreten: Da in ihr für die
Beschwerdeführerin verbindlich festgehalten wurde, dass die Rückerstattung auf
die für den Zeitraum vom 1. Februar 2014 bis 31. März 2016 ausgerichteten
Leistungen beschränkt ist, wäre die IV-Stelle - könnte sie diesen Entscheid
nicht vor Bundesgericht anfechten - unter Umständen gezwungen, eine ihres
Erachtens rechtswidrige, leistungszusprechende Verfügung zu erlassen. Diese
könnte sie in der Folge nicht selber anfechten; da die Gegenpartei in der Regel
kein Interesse haben wird, den allenfalls zu ihren Gunsten rechtswidrigen
Endentscheid anzufechten, könnte der kantonale Vorentscheid nicht mehr
korrigiert werden und würde zu einem nicht wieder gutzumachenden Nachteil für
den Versicherer führen (vgl. BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.).  
 
1.3. Der Versicherte hat gegen den kantonalen Entscheid innert
Rechtsmittelfrist keine Beschwerde erhoben. In seiner Vernehmlassung vom 5.
März 2018 beantragt er nun aber nicht nur ein Nichteintreten - eventuell eine
Abweisung - der Beschwerde der IV-Stelle, sondern eine Aufhebung der
Dispositivziffer 2 des vorinstanzlichen Entscheides mit der Feststellung, dass
die IV-Stelle keinen Anspruch auf Rückerstattung hat. Im Verfahren vor
Bundesgericht gibt es indessen grundsätzlich keine Anschlussbeschwerde (BGE 134
III 332 E. 2.5). Wer mit dem angefochtenen Entscheid nicht einverstanden ist,
muss diesen selbst innert der Beschwerdefrist (Art. 100 BGG) anfechten. Sodann
kann das Bundesgericht nicht über die fristgerecht gestellten Rechtsbegehren
der Parteien hinausgehen (Art. 107 Abs. 1 BGG). Gibt die Vorinstanz beiden
Parteien teilweise Recht und erhebt nur eine Partei Beschwerde ans
Bundesgericht mit dem Antrag, es sei ihr vollumfänglich Recht zu geben, so kann
deshalb die andere Partei nicht im Rahmen der Vernehmlassung zu dieser
Beschwerde wieder diejenigen Anträge stellen, bezüglich welcher die Vorinstanz
ihr Unrecht gegeben hat. Anders verhält es sich praxisgemäss bei gewissen
Rückweisungsentscheiden im Sinne von Art. 93 BGG. Erhebt nur die eine Partei
Beschwerde gegen einen Rückweisungsentscheid, der beiden Parteien teilweise
Recht gibt und erlässt daraufhin das Bundesgericht einen Endentscheid, so wird
dadurch der anderen Partei die Möglichkeit genommen, das im vorinstanzlichen
Rückweisungsentscheid zu ihrem Nachteil Entschiedene anzufechten. In dieser
Konstellation muss demnach derjenigen Partei, welche den Rückweisungsentscheid
nicht selbst angefochten hat, die Möglichkeit eingeräumt werden, in der
Beschwerdevernehmlassung auch diejenigen Punkte zu thematisieren, bezüglich
welcher sie vor der Vorinstanz unterlegen ist (vgl. BGE 138 V 106 E. 2.2 S.
110). Entgegen den Ausführungen des Versicherten ist diese
Ausnahmekonstellation vorliegend nicht gegeben: Auch bei einer Gutheissung der
Beschwerde der IV-Stelle kann das Bundesgericht hier keinen Endentscheid
fällen, sondern lediglich die Vorgaben, welche das kantonale Gericht der
Beschwerdeführerin für die noch zu erlassende Verfügung gemacht hat, abändern.
Da die IV-Stelle sowohl bei einer Gutheissung als auch bei einer Abweisung
ihrer Beschwerde eine weitere Verfügung über die Höhe der Rückerstattung wird
erlassen müssen, besteht kein Grund, vom Grundsatz der Unzulässigkeit der
Anschlussbeschwerde abzuweichen. Somit ist auf diese nicht einzutreten.  
 
2.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen). 
 
3.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, als sie
den Zeitraum für die Rentenrückerstattung auf den 1. Februar 2014 bis zum 31.
März 2016 festlegte oder ob dieser Zeitraum bis zum 31. März 2017 ausgedehnt
werden muss. 
 
4.  
 
4.1. Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines
Rentenbezügers erheblich, so wird gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG die Rente von
Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht,
herabgesetzt oder aufgehoben. Die Herabsetzung oder Aufhebung der Renten, der
Hilflosenentschädigungen und der Assistenzbeiträge erfolgt frühestens vom
ersten Tag des zweiten der Zustellung der Verfügung folgenden Monats an (Art.
88bis Abs. 2 lit. a IVV); oder rückwirkend ab Eintritt der für den Anspruch
erheblichen Änderung, wenn der Bezüger die Leistung zu Unrecht erwirkt hat oder
der ihm nach Art. 77 IVV zumutbaren Meldepflicht nicht nachgekommen ist,
unabhängig davon, ob die Verletzung der Meldepflicht oder die unrechtmässige
Erwirkung ein Grund für die Weiterausrichtung der Leistung war (Art. 88bis Abs.
2 lit. b IVV).  
 
4.2. Das kantonale Gericht hat im Wesentlichen erwogen, dass sich der
Gesundheitszustand des Versicherten seit der ursprünglichen Rentenzusprache
erheblich verbessert habe, womit ein Revisionsgrund im Sinne von Art. 17 Abs. 1
ATSG vorliege. Da er zudem seine ihm obliegende Meldepflicht gegenüber der
IV-Stelle verletzt habe, sei die Rente in Anwendung von Art. 88bis Abs. 2 lit.
b IVV rückwirkend ab Februar 2014 aufzuheben. Spätestens ab Eingang des
Gutachtens des Zentrums B.________ am 24. März 2016 habe die IV-Stelle jedoch
Kenntnis von der Verbesserung des Gesundheitszustandes gehabt, weshalb die
Meldepflichtverletzung ab diesem Zeitpunkt nicht mehr kausal für den
unrechtmässigen Leistungsbezug gewesen sei. Somit könne die unrechtmässig
ausgerichtete Rente nur bis März 2016 zurückgefordert werden.  
 
4.3. Wie die beschwerdeführende IV-Stelle zutreffend geltend macht, hat die
Vorinstanz mit dieser Argumentation offensichtlich übersehen, dass Art. 88bis
Abs. 2 lit. b IVV auf den 1. Januar 2015 hin revidiert wurde. Seit dieser
Revision kann bei einer Meldepflichtverletzung oder einer unrechtmässigen
Erwirkung der Rente die Leistung rückwirkend auf den Zeitpunkt der erheblichen
Änderung angepasst werden, ohne dass die Meldepflichtverletzung (oder die
unrechtmässige Erwirkung) kausal für die Weiterausrichtung der Rente gewesen
sein muss (vgl. Urteil 8C_813/2016 vom 10. März 2017 E. 5). Mit dieser
Anpassung sollte einerseits sichergestellt werden, dass die IV-Stellen bei
Verdacht auf eine Meldepflichtverletzung Renten nicht mehr länger übereilt
sistieren müssen; anderseits sollte auch der ungerechtfertigte Anreiz für die
versicherte Person, den Abklärungsprozess zu verzögern, eliminiert werden. Aus
dieser Verordnungsänderung ergibt sich, dass der Zeitpunkt der Kenntnis der
IV-Stelle über die Verbesserung des Gesundheitszustandes des Versicherten im
Falle einer Meldepflichtverletzung nicht länger die Grenze der
Rückforderbarkeit bildet. Entsprechend ist die Beschwerde der IV-Stelle
gutzuheissen und es ist in Abänderung von Dispositivziffer 2 des
vorinstanzlichen Entscheids der Zeitraum für die Rentenrückforderung auf den 1.
Februar 2014 bis 31. März 2017 festzulegen.  
 
5.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdegegner die
bundesgerichtlichen Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Für die
Regelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des vorinstanzlichen Verfahrens
ist die Sache unter Aufhebung der Dispositivziffer 3 und 4 des kantonalen
Entscheids an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. In Abänderung von Dispositivziffer 2 des
Entscheids des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 1. November 2017
wird der Zeitraum für die Rentenrückerstattung auf den 1. Februar 2014 bis 31.
März 2017 festgelegt. 
 
2.   
Auf die Anschlussbeschwerde des Versicherten wird nicht eingetreten. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
4.   
Dispositivziffer 3 und 4 des Entscheids des Versicherungsgerichts des Kantons
Aargau vom 1. November 2017 werden aufgehoben. Die Sache wird zur Neuverlegung
der Kosten- und Entschädigungsfolgen des vorangegangenen Verfahrens an das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Sammelstiftung C.________ und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 8. Mai 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold 

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