Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.852/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_852/2017  
 
 
Urteil vom 21. Juni 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Wirthlin, 
Gerichtsschreiber Grünvogel. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
 A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dominique Chopard, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Valideneinkommen), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 23. Oktober 2017
(5V 16 461). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Mit Verfügung vom 7. September 2016 sprach die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (Suva) der 1973 geborenen A.________ für
verbleibende Unfallfolgen eine Integritätsentschädigung auf der Basis einer
Integritätseinbusse von 30 % zu, während sie den Anspruch auf eine
Invalidenrente verneinte. Auf Einsprache hin hielt die Suva mit Entscheid vom
7. Oktober 2016 daran fest. 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid
vom 23. Oktober 2017 in dem Sinne teilweise gut, als es A.________ in
Abänderung des Einspracheentscheids mit Wirkung ab 1. September 2016 eine
Invalidenrente bei einer unfallbedingten Erwerbsunfähigkeit von 22 % zusprach. 
 
C.   
Die Suva führt dagegen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids. 
 A.________ und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
Sodann ersucht A.________ um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280; vgl. auch BGE 141 V 236 E. 1 S. 236; 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.). 
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen
der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die
vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art.
97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). 
 
2.   
Im kantonalen Entscheid sind die gesetzlichen Grundlagen über die Invalidität (
Art. 8 ATSG), den Rentenanspruch (Art. 18 Abs. 1 UVG), die
Invaliditätsbemessung nach dem Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG) wie auch die
zu beachtenden Grundsätze bei der Ermittlung des Invalideneinkommens (BGE 139 V
28 E. 3.3.2 und 135 V 58 E. 3.1) zutreffend wiedergegeben. 
Hervorzuheben ist, dass bei der Ermittlung des Valideneinkommens in der Regel
auf den zuletzt vor Eintritt der Gesundheitsschädigung erzielten, nötigenfalls
der Teuerung und der realen Einkommensentwicklung angepassten Verdienst
abzustellen ist, da es empirischer Erfahrung entspricht, dass die bisherige
Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden fortgesetzt worden wäre (BGE 135 V 58 E. 3.1
S. 59; 134 V 322 E. 4.1 S. 325; 129 V 222 E. 4.3.1 S. 224 mit Hinweisen).
Ausnahmen hierfür müssen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt sein.
Liegen zuverlässige Angaben der damaligen Arbeitgeberin vor, was die
versicherte Person zum Zeitpunkt des Rentenbeginns mutmasslich verdient hätte,
ist darauf abzustellen (dazu etwa Urteile 8C_638/2008 vom 15. Januar 2009 E.
4.4 oder U 66/02 vom 2. November 2004 E. 4.1.1, letzterer in: RKUV 2005 Nr. U
538 S. 122). 
 
 
3.   
Streitig ist allein die Höhe des bei der Invaliditätsbemessung dem
Invalideneinkommen in der Höhe von Fr. 49'068.- gegenüber zu stellenden
hypothetischen Verdienstes ohne Invalidität im Jahre 2016. 
 
3.1. Die Vorinstanz legte hierfür den im vom Bundesrat am 17. November 2015 für
allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrag (GAV) für die
Reinigungsbranche in der Deutschschweiz ausgewiesenen Mindestlohn der
Lohnkategorie "SpezialreinigerIn III" von Fr. 26.50 in der Stunde zu Grunde.
Alsdann rechnete sie diesen Betrag auf das Jahr hoch, was zu einem
Jahresverdienst von Fr. 62'699.- führte. Dabei wich sie bewusst von den von der
Suva bei der Arbeitgeberin eingeholten Auskünften vom 16. und 31. August 2016
ab, wonach die Versicherte bei Weiterbeschäftigung als Gesunde im Jahr 2016
mutmasslicherweise denselben Lohn ausbezahlt erhalten hätte, wie er ihr zuletzt
im Jahr 2012 tatsächlich ausgerichtet worden war, nämlich Fr. 44'200.-. Zur
Begründung wies das kantonale Gericht auf das von der B.________ AG
ausgestellte, frühere Aussagen bestätigende Arbeitszeugnis vom 13. Januar 2014
hin, wonach die Versicherte bereits vor dem Unfall neben den üblichen
Reinigungsarbeiten immer mehr Führungs- und Kontrollarbeiten übertragen
erhalten hatte; dies spreche klar dafür, dass die Versicherte 2016 bei ihrer
Arbeitgeberin (weiterhin auch) als Vorarbeiterin eingesetzt und entlöhnt worden
wäre; zwar sehe der GAV für Vorarbeiterinnen nicht ausdrücklich einen
Mindestlohn vor, indessen müsse dieser ungeachtet dessen, ob die Vorarbeiterin
über einen eidg. Fachausweis oder ein eidg. Fähigkeitszeugnis verfüge,
mindestens jenem der Berufsgruppe "SpezialreinigerIn III" entsprechen.  
 
3.2. Die Auskünfte der Arbeitgeberin von 16. und 31. August 2016 stehen in der
Tat im offenen Widerspruch zum anlässlich der Standortsbesprechung vom 18.
November 2013 von deren Geschäftsführerin gegenüber der Suva noch Ausgeführten,
wonach der Lohn der Versicherten gemäss GAV angepasst werden musste, nämlich
neu auf Fr. 46'600.-). Wenn die Vorinstanz daraus ableitet, die Arbeitgeberin
hätte die Beschwerdegegnerin im Jahr 2016 wahrscheinlich dem Mindestlohn nach
GAV entsprechend entschädigen wollen, ist dies nur folgerichtig.  
 
3.3. Unzutreffend ist hingegen die Annahme, gemäss GAV hätte die Versicherte
als auch Führungs- und Kontrollarbeiten übernehmende Reinigungskraft zwingend
mindestens so entschädigt werden müssen, wie eine "SpezialreinigerIn III".
Diese Kategorie dient nach dem klaren Wortlaut lediglich als Verhandlungsbasis
für das individuell zu vereinbarende Entgelt für Angestellte, die nicht nur
selbst Reinigungsarbeiten ausführen sondern zusätzlich mit Führungs- und
Kontrollaufgaben betraut sind. Dies ergibt durchaus auch Sinn, sind doch
Ausmass und Komplexität dieser Zusatzaufgaben je nach Betrieb und konkreter
Situation sehr unterschiedlich ausgestaltet.  
 
3.4. Die Beschwerdegegnerin war bei der GPK Gebäudereinigungen AG zunächst ein
Jahr im Stundenlohn, danach in einem festen Vollzeitpensum angestellt, ehe sie
rund ein halbes Jahr später am 27. Juni 2012 verunfallte. Davon ausgehend hätte
sie sich 2016 im fünften Dienstjahr befunden, womit ihr gemäss GAV als mit
vollendetem vierten Dienstjahr zur "SpezialreinigerIn II" Aufgestiegenen (Ziff.
4.2 GAV in Verbindung mit Anhang 5, 2. Kategorie Spezialreinigung) ein
Mindeststundenlohn von Fr. 23.05 hätte ausgerichtet werden müssen. Nichts
anderes ergäbe sich im Übrigen, wenn die Tätigkeit bei der vormaligen
Arbeitgeberin als Dienstzeit mit gerechnet würde. Über die in der Kategorie
"SpezialreinigerIn III" vorausgesetzte berufliche Qualifikation eines eidg.
Fachausweises bzw. eidg. Fähigkeitszeugnisses verfügt die Beschwerdegegnerin
hingegen unbestrittenermassen nicht.  
Auf das Jahr umgerechnet ergibt dies Fr. 54'536.30 (<http://www.gav-service.ch,
unter Auswahl nach Branche -> GAV Reinigungsbranche Deutschschweiz ->
GAV-Mindestlohn, Jahr 2016, Anstellungsverhältnis: mehr als 3 Monate,
Arbeitnehmerkategorie: Spezialreinigung II, Alter: 43; Fr. 4195.10 x 13,
besucht am xxx<Urteilsdatum>). 
 
3.5. Bleibt die Frage zu beantworten, ob die Versicherte die Stelle gewechselt
hätte, um sich so einen höheren Verdienst zu sichern (dazu siehe etwa: Urteile
9C_192/2014 vom 23. September 2014 E. 3.4 und 9C_414/2011 vom 11. Juli 2011 E.
2.2 und 4.3, beide mit Hinweis auf Urteil U 66/02 vom 2. November 2004 E.
4.1.1, in: RKUV 2005 Nr. U 538 S. 122).  
 
Weder wird Derartiges geltend gemacht noch sind entsprechende Anhaltspunkte
ersichtlich. Nicht nur, dass die Versicherte bereits bei der
Vorgängerunternehmung der Ende 2010 gegründeten B.________ AG angestellt
gewesen war und damit schon mehrere Jahre mit denselben hinter der Unternehmung
stehenden Personen zusammengearbeitet hat. Es kommt hinzu, dass der GAV bei
einem allfälligen Stellenwechsel keine Lohngarantie vorsieht, sondern er
schreibt dem neuen Arbeitgeber lediglich den Minimallohn derjenigen Lohnstufe
vor, in welcher sich der Arbeitnehmer nachgewiesenermassen bei seinem
vorhergehenden Arbeitgeber aufgrund seiner Dienstjahre befunden hat (Ziff. 4.4
GAV). Sodann sind Betriebe mit weniger als 600 Stellenprozenten dem GAV erst
gar nicht unterstellt. Mit anderen Worten führt ein Stellenwechsel nicht ohne
weiteres zu einem höheren Einkommen. 
 
4.   
Die Gegenüberstellung des Validenverdienstes von Fr. 54'536.30 und des
Invalideneinkommens von Fr. 49'068.- führt zu einem Invaliditätsgrad von 10 %.
Damit ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen. 
 
5.   
Bei diesem Verfahrensausgang rechtfertigt es sich, die Gerichtskosten (Art. 65
Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG) den Parteien je zur Hälfte aufzuerlegen (Art. 66
Abs. 1 BGG). Der Beschwerdegegnerin steht gegenüber der Suva eine entsprechend
reduzierte Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Die
Parteientschädigung des vorinstanzlichen Verfahrens bleibt hingegen
unverändert. 
Die unentgeltliche Rechtspflege kann der Versicherten, soweit sie unterliegt,
gewährt werden, da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht von
vornherein aussichtslos und die Vertretung notwendig war (Art. 64 BGG). Sie hat
der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er später dazu in der Lage ist (Art.
64 Abs. 4 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Luzern vom 23. Oktober 2017 und der Einspracheentscheid der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (Suva) vom 7. Oktober 2016 werden insoweit
abgeändert, als der Beschwerdegegnerin ab September 2016 eine Invalidenrente
auf der Grundlage eines Invaliditätsgrads von 10 % zugesprochen wird. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Dominique Chopard wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden zu Fr. 400.- der Beschwerdeführerin und
zu Fr. 400.- der Beschwerdegegnerin auferlegt. Der Anteil der
Beschwerdegegnerin wird vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Die Beschwerdeführerin hat den Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1400.- zu entschädigen. 
 
5.   
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 1400.- ausgerichtet. 
 
 
6.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. Juni 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünvogel 

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