Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.847/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_847/2017  
 
 
Urteil vom 27. September 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Wirthlin, 
Gerichtsschreiberin Berger Götz. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Ueli Kieser, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Unfallversicherung Stadt Zürich, Stadelhoferstrasse 33, 8001 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Kausalzusammenhang), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 31. Oktober 2017 (UV.2017.00006). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1958 geborene A.________ war im Betrieb B.________ angestellt und damit bei
der Unfallversicherung Stadt Zürich gegen die Folgen von Unfällen versichert.
Mit Unfallanzeige vom 17. Dezember 2004 liess sie dem Unfallversicherer melden,
sie sei am 24. November 2004 Opfer häuslicher Gewalt geworden. An diesem Tag
wurde sie laut Frageblatt zum Unfallhergang vom 12. Januar 2005 von ihrem
damaligen Ehemann gefesselt, verschleppt und mit dem Tode bedroht. Der
erstbehandelnde Arzt, Dr. med. C.________, Permanence X.________,
diagnostizierte am 26. November 2004 multiple Hämatome und Schürfwunden nach
Tätlichkeit. Gemäss Gutachten des Dr. med. D.________, Facharzt FMH für
Psychiatrie und Psychotherapie, vom 8. September 2005 entwickelte sich in der
Folge eine posttraumatische Belastungsstörung. Der Unfallversicherer erbrachte
die gesetzlichen Leistungen in Form von Heilbehandlung und Taggeld. In der
Folge veranlasste dieser die medizinischen Konsilien der Dres. med. E.________,
Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 23. Dezember 2010 und
F.________, Facharzt FMH für Innere Medizin, speziell Rheumatologie, vom 16.
Juli 2010. Gestützt darauf verneinte die Unfallversicherung Stadt Zürich mit
Verfügung vom    17. Januar 2011 einen natürlichen Kausalzusammenhang zwischen
den noch vorhandenen gesundheitlichen Beschwerden und dem Vorfall vom 24.
November 2004. Sie stellte daher die bisher ausgerichteten temporären
Leistungen auf Ende Dezember 2010 ein. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid
vom 20. Juli 2011 fest. 
 
B.  
 
B.a. Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 27. Juni 2013
ab. Mit Urteil 8C_637/2013 vom 11. März 2014 hob das Bundesgericht den
kantonalen Gerichtsentscheid auf und wies die Sache zu neuer Entscheidung an
die Vorinstanz zurück, damit diese ein psychiatrisches Gerichtsgutachten
einhole und anschliessend über die Beschwerde der Versicherten neu entscheide.
In Bezug auf die somatische Problematik wurde die Leistungseinstellung
bestätigt.  
 
 
B.b. Nach Einholung des Gerichtsgutachtens von Dr. med. G.________, Facharzt
für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 16. Juni 2015 samt Ergänzung vom
20. Juli 2015 hob das kantonale Gericht den Einspracheentscheid vom 20. Juli
2011 in teilweiser Gutheissung der Beschwerde auf und stellte fest, dass
A.________ ab    1. Januar 2011 Anspruch auf eine Invalidenrente, basierend auf
einem Erwerbsunfähigkeitsgrad von 50 %, und auf eine Integritätsentschädigung,
gestützt auf eine Integritätseinbusse von 50 %, habe (Entscheid vom 2. März
2016). Auf Beschwerde der Unfallversicherung Stadt Zürich hin hob das
Bundesgericht diesen Entscheid auf und wies die Sache zur Feststellung der
erheblichen Tatsachen hinsichtlich Beurteilung der Adäquanz und zu neuem
Entscheid an die Vorinstanz zurück (Urteil 8C_298/2016 vom 30. November 2016,
in: SVR 2017 UV Nr. 11 S. 39).  
 
B.c. Das kantonale Gericht gab den Parteien Gelegenheit, sich zum
Bundesgerichtsurteil zu äussern. Mit Entscheid vom 31. Oktober 2017 wies es die
Beschwerde der A.________ gegen den Einspracheentscheid vom 20. Juli 2011 ab.  
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erheben
und das Rechtsbegehren stellen, in Aufhebung des kantonalgerichtlichen Urteils
vom 31. Oktober 2017 sei die Unfallversicherung Stadt Zürich zu verpflichten,
die gesetzlichen Leistungen, insbesondere eine Invalidenrente und eine
Integritätsentschädigung, auszurichten. 
Die Unfallversicherung Stadt Zürich schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen). 
 
2.  
 
2.1. Wie das Bundesgericht schon im Rückweisungsurteil 8C_298/2016 vom 30.
November 2016 (SVR 2017 UV Nr. 11 S. 39, E. 4.3) festgehalten hat, ist gestützt
auf die echtzeitlichen medizinischen Unterlagen davon auszugehen, dass die
Beschwerdeführerin als (organische) Folge des Vorfalls vom 24. November 2004
diverse Hämatome und Schürfwunden davontrug. Den somatischen Beeinträchtigungen
kommt im vorliegenden Zusammenhang somit lediglich untergeordnete Bedeutung zu.
Im Vordergrund steht der durch das Schreckereignis an sich erlittene psychische
Stress. Dabei wird von keiner Seite in Frage gestellt, dass von einem
eigentlichen Schreckereignis auszugehen ist.  
 
2.2. Praxisgemäss werden schreckbedingte plötzliche Einflüsse auf die Psyche
(sog. Schreckereignisse; zur Definition: BGE 129 V 177 E. 2.1 S. 179 f.; SVR
2009 UV Nr. 20 S. 75, 8C_533/2008 E. 2.2; SVR 2008 UV Nr. 7 S. 22, U 548/06
2008 E. 2.2) als Einwirkungen auf den menschlichen Körper im Sinne des
Unfallbegriffs (Art. 4 ATSG) anerkannt. Die Adäquanz zwischen einem
Schreckereignis und den nachfolgend aufgetretenen psychischen Störungen ist
nach der allgemeinen Formel (gewöhnlicher Lauf der Dinge und allgemeine
Lebenserfahrung) zu beurteilen (BGE 129 V 177 E. 4.2 S. 184 f.). Dabei ist
gemäss Rechtsprechung nicht allein auf den psychisch gesunden Versicherten,
sondern auf eine weite Bandbreite der Versicherten abzustellen. In diesem
Rahmen bilden auch solche Versicherte Bezugspersonen für die
Adäquanzbeurteilung, welche im Hinblick auf die erlebnismässige Verarbeitung
eines Unfalles zu einer Gruppe mit erhöhtem Risiko gehören, weil sie aus
versicherungsmässiger Sicht auf einen Unfall nicht "optimal" reagieren. Daraus
ergibt sich, dass für die Beurteilung der Frage, ob ein konkretes
Unfallereignis als alleinige Ursache oder als Teilursache nach dem gewöhnlichen
Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet ist, zu einer
bestimmten psychischen Schädigung zu führen, kein allzu strenger, sondern im
dargelegten Sinne ein realitätsgerechter Massstab angelegt werden muss (BGE 129
V 177 E. 3.3 S. 181 ff. Mit Hinweisen).  
 
2.3. Ob zwischen einem Schreckereignis und den psychischen Störungen ein
adäquater Kausalzusammenhang besteht, ist eine Wertungsgesichtspunkten
unterliegende Rechtsfrage, die das Bundesgericht an sich frei prüft (Art. 106
BGG; BGE 132 III 715 E. 2.2 S. 718; SVR 2017 UV Nr. 11 S. 39, 8C_298/2016 E.
5.2). An den - aufgrund der allgemeinen Adäquanzformel zu prüfenden -
Kausalzusammenhang zwischen dem Schreckereignis und den nachfolgenden
psychischen Beschwerden werden hohe Anforderungen gestellt (SVR 2017 UV Nr. 11
S. 39, 8C_298/2016 E. 4.5). Dabei stehen insbesondere der Beweis der Tatsachen,
die das Schreckereignis ausgelöst haben, und die Aussergewöhnlichkeit des
fraglichen Ereignisses sowie der entsprechende psychische Schock im Vordergrund
(SVR 2016 UV Nr. 11 S. 33, 8C_412/2015 E. 2.1).  
 
3.   
Als das Bundesgericht die Sache an das kantonale Gericht zurückgewiesen hatte,
damit es die erheblichen Tatsachen zur Beurteilung der Adäquanz feststelle (SVR
2017 UV Nr. 11 S. 39, 8C_298/2016), war nicht mehr streitig, dass bezüglich der
somatischen Beeinträchtigungen der rechtserhebliche Kausalzusammenhang
weggefallen, die Leistungseinstellung unter diesem Gesichtspunkt rechtens und
der auf Ende Dezember 2010 erfolgte Fallabschluss mit Prüfung der Rentenfrage
und der Integritätseinbusse nicht verfrüht erfolgt waren. Es stand auch fest,
dass die noch bestehenden psychischen Probleme natürlich kausal auf den Vorfall
vom 24. November 2004 zurückzuführen sind, dieser zudem als den Unfallbegriff
erfüllendes, aussergewöhnliches Schreckereignis zu qualifizieren ist, die
Beschwerdeführerin als Folge dieses Schreckereignisses unter anderem natürlich
kausal an einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung leidet
und ab Leistungseinstellung nur noch zu 50 % arbeitsfähig sowie im Umfang von
50 % in ihrer Integrität beeinträchtigt war. 
 
4.   
Im angefochtenen Entscheid werden die Tatumstände als Grundlage der
Adäquanzprüfung nun - soweit überhaupt nachträglich eruierbar - umfassend
dargelegt und einer eingehenden Würdigung unterzogen. 
 
4.1. Gestützt auf die Strafakten geht die Vorinstanz von dem nachfolgend
zusammengefassten Geschehensablauf aus:  
Die Versicherte wurde am 24. November 2004 aufgrund der Zuspitzung eines
Beziehungsstreits von ihrem damaligen Ehemann geschlagen, gefesselt,
verschleppt und über mehrere Stunden mit dem Tod bedroht. Der Konflikt
eskalierte am Vormittag, nachdem die Versicherte ihm eröffnet hatte, sie wolle
sich endgültig von ihm trennen. Dieser war damit nicht einverstanden und drohte
ihr während der folgenden Stunden wiederholt, er werde zuerst sie und
anschliessend sich selbst töten. Als sie die Balkontüre öffnete, um nach Hilfe
zu rufen, riss er ihren Kopf nach hinten, hielt ihr den Mund zu und fesselte
ihre Hände mit Handschellen. Er wollte sie in den Keller hinunter schleifen,
sie wehrte sich mit Füssen und Armen. Nachdem sie beide (nach ungefähr 20
Minuten) vom Kampf erschöpft waren, befahl er ihr, sie müsse sich anziehen und
mit ihm ins Auto kommen. Sie befolgte seine Befehle und setzte sich halb
apathisch, von Todesangst geprägt, auf den Beifahrersitz des in der Garage
parkierten Autos. Da sie von den zwei Suizidversuchen des Täters, einer davon
durch versuchte Vergasung in diesem Fahrzeug, wusste, stellte sie sich vor, er
würde sie nun fesseln oder in eine Mauer fahren, auf jeden Fall würde sie jetzt
umkommen. Der Täter liess sie mehrmals im Auto zurück, welches er jeweils mit
der Zentralverriegelung schloss, um für sie nicht identifizierbare Dinge zu
holen und im Kofferraum oder auf dem Rücksitz zu verstauen. Auf der Fahrt
wiederholte er die Todesdrohungen und erklärte ihr, dass er eine falsche Fährte
gelegt habe, damit man sie frühestens 24 Stunden später finden werde. Ihrem
Handy entnahm er den Akku und die SIM-Karte und zerstreute diese Dinge im Auto.
Die Versicherte redete während der Fahrt konstant auf den Täter ein und bot ihm
an, er könne alles, das Haus und das Geld, haben, er solle ihr einfach ihr
Leben wieder geben. Als er in einem Wald hielt, stiegen sie aus, er liess sie
in kurzer Entfernung unter Beobachtung ihre Notdurft verrichten und dann
setzten sie sich auf den Waldboden. Von einer Sekunde auf die andere brach der
Täter dort schliesslich zusammen und fing an zu weinen. Nachdem sie ihm
versichert hatte, dass sie keine Anzeige machen und alles in Frieden abwickeln
werde und dies - weil er erwiderte, sie sei eine Lügnerin - unzählige Male
wiederholt hatte, setzten sie sich ins Auto und fuhren zurück an den Wohnort.
Die Freiheitsberaubung dauerte insgesamt 3 Stunden und 20 Minuten. Der damalige
Ehemann der Beschwerdeführerin wurde vom Obergericht des Kantons Zürich mit
Entscheid vom........ der Drohung im Sinne von Art. 180 StGB sowie der
Freiheitsberaubung und Entführung gemäss Art. 183 Ziff. 1 StGB für schuldig
befunden. Die bei ihm beschlagnahmten Gegenstände, darunter ein
Pump-Action-Gewehr samt Munition und ein Elektroschockgerät wurden an das
Statthalteramt überwiesen. Beim Täter lag zur Zeit der Straftat eine
rezidivierende depressive Störung und eine emotional instabile
Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus vor. Schon in den Jahren zuvor
befand sich dieser in einer Krise, wobei es zu Selbstschädigungen und
Suizidialität gekommen war. In den Jahren 1998 und 2002 wurden ebenfalls
Strafuntersuchungen (wegen häuslicher Gewalt) durchgeführt und die Versicherte
hatte in jenem Rahmen angegeben, sie habe Angst vor ihrem Ehemann, da er Waffen
besitze. 
 
4.2. Das kantonale Gericht prüft anhand dieses Ablaufs die vom Bundesgericht im
Urteil 8C_298/2016 vom 30. November 2016 (SVR 2017 UV Nr. 11 S. 39) genannten
"Kriterien" und gelangt zur Auffassung dass diese "in unterschiedlicher Form"
erfüllt seien. Die Detailbetrachtung der Abläufe ergebe, dass das Ereignis vom
24. November 2004 zwar von traumatisierendem Charakter gewesen sei, die Gewalt
sich indes - abgesehen von den keine gravierenden Verletzungen zeitigenden
Handgreiflichkeiten zu Beginn - hauptsächlich in stereotyp vorgetragenen
Tötungsdrohungen erschöpft habe. Die Aggressionsintensität des Ehemannes sei
schwankend und nicht stetig auf hohem Niveau gelegen, die Problematik habe im
weiteren Verlauf einzig in der andauernden Angst der Beschwerdeführerin
bestanden, bald zu sterben. Eine Möglichkeit zur Flucht habe sie nicht genutzt.
Der Täter sei zudem kein Fremder, sondern der damalige Ehemann gewesen, mit
welchem sie immer wieder heftige Auseinandersetzungen gehabt habe, die den
Beizug der Polizei erfordert und zu dessen strafrechtlicher Verurteilung
geführt hätten. Insgesamt würden die vom Bundesgericht definierten "Kriterien"
zwar allesamt als erfüllt erscheinen (im Sinne der potenziell traumatisierenden
Wirkung), indessen nicht in ausgeprägter Weise. Die Unterschiede zu den wenigen
Konstellationen, in denen das Bundesgericht eine adäquate Kausalität bejaht
habe, würden unter anderem im Umstand liegen, dass Fremde überraschend und
unvorhergesehen zur Tat geschritten seien (u.a. Urteile 8C_522/2007 vom 1.
September 2008 und U 193/06 vom 20. Oktober 2006). Angesichts der Kasuistik
ergebe sich beim Vorgefallenen kein Bild, das nach dem gewöhnlichen Lauf der
Dinge und gemessen an der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet erscheine, mehr
als sechs Jahre später noch anhaltende, die Arbeitsfähigkeit massiv
beeinträchtigende psychische Störungen zu verursachen. Die "Kriterien" seien
nicht in einer erdrückenden Weise gegeben, weshalb die adäquate Kausalität
zwischen dem Ereignis vom 24. November 2004 und den ab 1. Januar 2011
bestehenden psychischen Einschränkungen zu verneinen sei.  
 
5.  
 
5.1. Es muss an dieser Stelle zur Klärung darauf hingewiesen werden, dass die
Gesichtspunkte, die in SVR 2017 UV Nr. 11 S. 39 (Urteil 8C_298/2016 vom 30.
November 2016) genannt wurden, lediglich als Hilfestellung aufzufassen sind.
Sie sollten als Richtmarken für das kantonale Gericht dienen, auf die bei der
Feststellung des Sachverhalts zu achten war. Die Aufzählung war auch nicht
abschliessend zu verstehen und schon gar nicht als Katalog von
Adäquanzkriterien, die es im Einzelnen abzuhaken gilt, und bei denen am Schluss
die erfüllten Kriterien addiert oder auf ihre besondere Ausprägung hinterfragt
werden.  
 
5.2. Entscheidend und nach vorinstanzlicher Sachverhaltsergänzung klar ist,
dass die Versicherte einer über drei Stunden anhaltenden Todesangst ausgesetzt
war. Dass es nur zu Beginn des Ablaufs zu ausgeprägterer physischer Gewalt kam,
spielt angesichts der klaren Todesdrohung, die während der ganzen Zeit im Raum
stand, keine entscheidende Rolle. Auf dem Balkon, als die Beschwerdeführerin um
Hilfe rufen wollte, wurde ihr Kopf grob nach hinten gerissen, so dass sie
befürchtete, der Täter würde ihr das Genick brechen. Durch vorherige
Grenzüberschreitungen wusste sie um die unkontrollierte Aggressivität ihres
Ehemannes, was die Eindrücklichkeit noch verstärkte. Im Gegensatz zu früher,
als Drohungen dazu dienten, die Versicherte zu einer bestimmten Handlung,
Unterlassung oder Duldung zu zwingen, blieb ihr am 24. November 2004 keine
Handlungsoption, um ihn versöhnlich zu stimmen. Er vermittelte ihr vielmehr den
Eindruck, der Tod sei beschlossene Sache und es gäbe nichts, was sie tun
könnte, um dieses Ende abzuwenden. Ihre Angebote (Haus, Geld) interessierten
ihn nicht. Damit unterscheidet sich die Situation auch von den meisten von der
Vorinstanz zu Vergleichszwecken dargelegten Konstellationen. Anders als bei den
ins Feld geführten Raubüberfällen ging es hier nicht um die Aushändigung von
Geld oder Wertgegenständen. Dass die Beschwerdeführerin anlässlich eines
Zwischenhalts auf einem Baustellen-Parkplatz keinen Fluchtversuch unternahm,
lässt die Entführung ebenfalls nicht als weniger gefährlich erscheinen. Im
Gegenteil zeigt es, dass die Versicherte angesichts des massiven Übergriffs an
der Balkontür, des anschliessenden Gerangels in der Wohnung und der
wiederholten Drohung, sie würden heute zusammen sterben, zu eingeschüchtert und
verängstigt war, um sich dem zudem kräftemässig klar überlegenen Täter zu
widersetzen. Dazu kommt, dass ihr der Waffenbesitz ihres damaligen Ehemannes
bekannt war, sie also mit dem Einsatz von Waffengewalt stets rechnen musste. Es
ist der Beschwerdeführerin beizupflichten, dass die emotionale Beziehung, das
Wissen um die psychische Erkrankung des Ehemannes (Borderline) und seine
Suizidversuche in der Vergangenheit die Ernsthaftigkeit seiner Todesdrohungen
noch zu unterstreichen vermochten. Erschwerend bei der Verarbeitung des
Ereignisses fällt zudem ins Gewicht, dass der eigene Ehemann, eine ehemals nahe
und vertraute Person, die Todesdrohungen ausgestossen hat. Auch wenn die am 26.
November 2004 ärztlich dokumentierten somatischen Verletzungen der
Beschwerdeführerin eher leichtgradig waren, deuten sie doch auf die Heftigkeit
und Ernsthaftigkeit der Drohungen des Ehemannes hin. Sein Aggressionspotenzial
zeigte sich an jenem Novembertag zudem nicht nur in tätlichen Übergriffen und
den ausgestossenen Todesdrohungen, sondern es wurde noch untermauert durch die
Fahrt an einen unbekannten Ort im Wald. Dabei waren vom Ehemann zuvor
Gegenstände im Kofferraum des Personenwagens verstaut worden, welche die
Versicherte nicht zu erkennen vermochte. Dazu kam die Unbrauchbarmachung des
Mobiltelefons während der Fahrt, womit er sie daran hinderte, mit einer
Drittperson Kontakt aufzunehmen, und - wie er der Versicherten erklärte - auch
die Ortung des Geräts vereiteln wollte. Indem er dazu noch zum Ausdruck
brachte, er habe eine falsche Fährte gelegt und wolle an einen Ort fahren, an
dem sie nicht innert 24 Stunden gefunden würden, musste sie den Eindruck
gewinnen, ihr Tod sei beschlossen und unausweichlich. Diese insgesamt sehr
bedrohliche und als lebensgefährdend wahrnehmbare Situation, in welcher der
Ehemann aufgrund einer ihm bescheinigten Persönlichkeitsstörung (emotional
instabil, Borderline-Typus) bei niedriger Frustrationstoleranz und erhöhter
Impulsivität mit verminderter Steuerungsfähigkeit agierte, versetzte die
Versicherte in nachhaltiger Weise in Angst und Schrecken. Mit der
Beschwerdeführerin ist deshalb davon auszugehen, dass die akute Bedrohungslage
ohne Ausweichmöglichkeit, die zudem über mehrere Stunden hinweg angedauert
hatte, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung
geeignet war, langjährige, die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigende psychische
Beschwerden auszulösen. Der adäquate Kausalzusammenhang zwischen den
psychischen Beschwerden der Versicherten und dem Ereignis vom 24. November 2004
ist daher nach der allgemeinen Adäquanzformel zu bejahen. Die
Beschwerdegegnerin trifft folglich über Ende 2010 hinaus eine Leistungspflicht.
 
 
6.   
In masslicher Hinsicht wurden weder der Erwerbsunfähigkeitsgrad von 50 % noch
die Integritätseinbusse von 50 %, bestätigt im vorangegangenen Entscheid des
kantonalen Gerichts vom 2. März 2016 (aufgehoben mit Urteil des Bundesgerichts
8C_298/2016 vom 30. November 2016 zufolge lückenhaft festgestellten
Sachverhalts zur Prüfung der Adäquanz) in Frage gestellt. Im vorliegend
angefochtenen Entscheid werden diese Einschränkungen ausdrücklich bestätigt und
in der Folge auch von der Beschwerdegegnerin nicht mehr aufgegriffen. Darauf
ist für die Bemessung der Leistungen abzustellen. 
 
7.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die obsiegende
Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1
BGG) zulasten der Beschwerdegegnerin, welche überdies die Gerichtskosten zu
tragen hat (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 31. Oktober 2017 und der Einspracheentscheid der
Unfallversicherung Stadt Zürich vom 20. Juli 2011 werden aufgehoben. Die
Unfallversicherung Stadt Zürich wird verpflichtet, der Beschwerdeführerin mit
Wirkung ab 1. Januar 2011 eine Invalidenrente, basierend auf einem
Erwerbsunfähigkeitsgrad von 50 %, sowie eine Integritätsentschädigung, gestützt
auf eine Integritätseinbusse von 50 %, auszurichten. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens und der Kosten des Gerichtsgutachtens an das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 27. September 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz 

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