Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.813/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_813/2017  
 
 
Urteil vom 6. Juni 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiberin Durizzo. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
 Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG, Litigation Hauptbranchen, Postfach, 8085
Zürich Versicherung, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Unfallbegriff), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 27. Oktober 2017 (VSBES.2013.322). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________ unterzog sich am 27. September 2010 einer Herzoperation
(Aortenklappenersatz). Nachdem er aus der Narkose erwacht war, wurde ein
irreversibler kompletter Sehverlust an beiden Augen festgestellt
(Optikusneuropathie). Mit Verfügung vom 31. August 2011 und Einspracheentscheid
vom 26. Oktober 2011 lehnte die Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG
(nachfolgend: Zürich), bei welcher A.________ für die Folgen von Berufs- und
Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert war, ihre
Leistungspflicht ab mit der Begründung, dass der ärztliche Eingriff nicht als
Unfall im Rechtssinne zu qualifizieren sei. Die dagegen erhobene Beschwerde
wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 16.
November 2012 ab. 
 
Das Bundesgericht wies die Sache mit Urteil 8C_999/2012 vom 28. Oktober 2013 zu
neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück. Es stellte fest, dass der kausale
Zusammenhang zwischen dem chirurgischen Eingriff und dem Sehverlust gemäss dem
vom Unfallversicherer eingeholten Gutachten medizinisch gesichert sei. Die
anlässlich des Aortenklappenersatzes gesetzte Ursache der Gesundheitsschädigung
und der genauere Verlauf des Eingriffs seien indessen nicht bekannt. Die Frage
nach der Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors lasse sich daher
nicht zuverlässig beurteilen. Es seien weitere herzchirurgische,
anästhesiologische und ophthalmologische Abklärungen erforderlich. 
 
B.   
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn holte ein Gutachten des
Universitätsspitals B.________, vom 4. August 2016 mit Ergänzung vom 11. Juli
2017 ein. Mit Entscheid vom 27. Oktober 2017 wies es die Beschwerde erneut ab. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und die Zusprechung der gesetzlichen Leistungen aus Unfallversicherung
beantragen. 
 
Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).  
 
1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).  
 
2.   
Streitig ist, ob die vorinstanzlich bestätigte Ablehnung von Leistungen für die
nach dem operativen Eingriff vom 27. September 2010 festgestellte Erblindung
vor Bundesrecht standhält. Umstritten ist, ob die dabei erfolgte Verletzung der
Arteria mammaria als Unfall zu qualifizieren sei. 
 
3.  
 
3.1. Unfall ist nach Art. 4 ATSG die plötzliche, nicht beabsichtigte
schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den
menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder
psychischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat (BGE 142 V 219 E. 4.3.1 S.
221; 134 V 72 E. 2.2 S. 74).  
 
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist der äussere Faktor
ungewöhnlich, wenn er - nach einem objektiven Massstab - nicht mehr im Rahmen
dessen liegt, was für den jeweiligen Lebensbereich alltäglich und üblich ist (
BGE 142 V 219 E. 4.3.1 S. 221; 134 V 72 E. 4.1 S. 76; 118 V 283 E. 2a S. 284).
Dies gilt auch, wenn zu beurteilen ist, ob ein ärztlicher Eingriff den
gesetzlichen Unfallbegriff erfüllt (BGE 118 V 283 E. 2b S. 284). Es ist
indessen nach der Praxis mit dem Erfordernis der Aussergewöhnlichkeit streng zu
nehmen, wenn eine medizinische Massnahme in Frage steht (BGE 121 V 35 E. 1b S.
38; 118 V 283 E. 2b S. 284). Die Vornahme des medizinischen Eingriffs muss
unter den jeweils gegebenen Umständen vom medizinisch Üblichen ganz erheblich
abweichen und zudem, objektiv betrachtet, entsprechend grosse Risiken in sich
schliessen. Im Rahmen einer Krankheitsbehandlung, für welche der
Unfallversicherer nicht leistungspflichtig ist, kann ein Behandlungsfehler
ausnahmsweise den Unfallbegriff erfüllen, wenn es sich um grobe und
ausserordentliche Verwechslungen und Ungeschicklichkeiten oder sogar um
absichtliche Schädigungen handelt, mit denen niemand rechnet noch zu rechnen
braucht. Ob ein Unfall im Sinne des obligatorischen Unfallversicherungsrechts
vorliegt, beurteilt sich unabhängig davon, ob der beteiligte Mediziner einen
Kunstfehler begangen hat, der eine (zivil- oder öffentlich-rechtliche) Haftung
begründet. Ebenso wenig besteht eine Bindung an eine allfällige strafrechtliche
Beurteilung des ärztlichen Verhaltens (BGE 121 V 35 E. 1b S. 38; 118 V 283 E.
2b S. 284; SVR 2018 UV Nr. 2 S. 6, 8C_656/2016 E. 3.2; SVR 2015 UV Nr. 17 S.
63, 8C_858/2014 E. 2.2; RKUV 1999 Nr. U 333 S. 195 E. 4a; RKUV 1988 Nr. U 36 S.
42 E. 3a). Wie das Bundesgericht in seinem Urteil 8C_999/2012 vom 28. Oktober
2013 festgehalten hat, bietet der vorliegende Fall keinen Anlass, von dieser
Rechtsprechung abzuweichen. 
 
3.2. Die Leistungspflicht eines Unfallversicherers gemäss UVG setzt unter
anderem voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden
(Krankheit, Invalidität, Tod) ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht.
Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne
deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder nicht
als in der gleichen Weise beziehungsweise nicht zur gleichen Zeit eingetreten
gedacht werden kann. Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung des
natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass ein Unfall die
alleinige oder unmittelbare Ursache gesundheitlicher Störungen ist; es genügt,
dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die körperliche
oder geistige Integrität der versicherten Person beeinträchtigt hat, der Unfall
mit andern Worten nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretene
gesundheitliche Störung entfiele (BGE 142 V 435 E. 1 S. 438; 129 V 177 E. 3.1
S. 181).  
 
3.3. Der Sozialversicherungsprozess ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht.
Danach hat das Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Die Verwaltung als
verfügende Instanz und - im Beschwerdefall - das Gericht dürfen eine Tatsache
nur dann als bewiesen annehmen, wenn sie von ihrem Bestehen überzeugt sind. Im
Sozialversicherungsrecht hat das Gericht seinen Entscheid, sofern das Gesetz
nicht etwas Abweichendes vorsieht, nach dem Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse Möglichkeit eines bestimmten
Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen nicht. Der Richter und die
Richterin haben vielmehr jener Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die sie von
allen möglichen Geschehensabläufen als die wahrscheinlichste würdigen (BGE 138
V 218 E. 6 S. 221).  
 
4.   
Dem kantonalen Gericht stand zur Beurteilung nunmehr das Gutachten vom 4.
August 2016 mit Ergänzung vom 11. Juli 2017 zur Verfügung. Nach Würdigung auch
der neuen Beweismittel stellte es fest, dass diese voll beweiskräftig seien.
Gestützt darauf sei der Sehverlust durch eine Summe von Faktoren verursacht
worden: die Vorerkrankungen des Versicherten (Adipositas, Diabetes, arterieller
Bluthochdruck), die überdurchschnittlich lange Dauer der Operation
beziehungsweise Zeit an der Herz-Lungen-Maschine und Zeit der Abklemmung der
Aorta, eine Verletzung der Arteria mammaria (thoracica interna) beziehungsweise
eines ihrer Seitenäste und schliesslich die deswegen zusätzlich erforderlichen
kreislaufstützenden Medikamente. 
 
Hinsichtlich der operationsbedingten Faktoren im Einzelnen stellte die
Vorinstanz gestützt auf die gutachtliche Einschätzung des Weiteren fest, dass
beim minimalinvasiven Zugang durch Mini-Sternotomie mit einer längeren
Operationsdauer zu rechnen gewesen sei. Diese Vorgehensweise sei deshalb
gewählt worden, weil bei einer vollständigen Sternotomie wegen dem Diabetes ein
erhöhtes Risiko einer Wundheilungsstörung bestanden habe und wegen der
Adipositas die Gefahr einer nachfolgenden Instabilität des Brustkorbs. Ein
Nachteil der Ministernotomie sei indessen zusätzlich - neben der längeren
Operationsdauer - auch die geringere Übersichtlichkeit während der Operation.
Wegen allfälliger perioperativer Herzrhythmusstörungen werde bei
Aortenklappen-Ersatzoperationen routinemässig, also immer, ein temporärer
Herzschrittmacher eingesetzt. Dabei sei es im Fall des Versicherten durch einen
Draht wegen fehlender Sicht zur Verletzung der Arteria mammaria gekommen. Es
sei dabei von einer kleineren Verletzung auszugehen, die zu einer langsam
voranschreitenden Blutung geführt habe. Das kantonale Gericht vermochte keine
groben und ausserordentlichen Verwechslungen und Ungeschicklichkeiten oder gar
absichtliche Schädigungen durch die Ärzte anlässlich der Operation erkennen.
Ein vom medizinisch Üblichen ganz erheblich abweichendes Vorgehen sei nicht
erstellt. 
 
5.   
Der Beschwerdeführer rügt, dass die Verletzung der Arteria mammaria - in den
Aufzeichnungen des Inselspitals zur Operation nur lückenhaft dokumentiert - auf
eine grobe Ungeschicklichkeit zurückzuführen und damit als ungewöhnlicher
äusserer Faktor zu qualifizieren sei, zumal sich damit das extrem seltene
Risiko einer Erblindung verwirklicht habe. 
 
6.   
Die Gutachter erläuterten bezüglich der Gefässverletzung, dass der fragliche
Draht des Herzschrittmachers von innen - mit einer Nadel, die durch die
Brustkorbwand gestochen werde - nach aussen zu ziehen sei. Dieser operative
Schritt erfolge in Einklang mit der Anatomie. Jedoch könnten Abweichungen von
der Anatomie vorkommen. Bei der Ministernotomie seien die Arteria mammaria und
deren Verlauf nicht zu sehen. Die Gutachter gingen von einer eher kleineren
Verletzung aus, dass also nur ein Seitenast der Arterie und/oder die Vene
betroffen gewesen sei. Dies schlossen sie daraus, dass es lediglich zu einer
langsam voranschreitenden Blutung - zwischen der Einsetzung des
Herzschrittmachers, bei welcher die Verletzung erfolgt sein müsse, zum
Zeitpunkt des Abgangs von der Herz-Lungen-Maschine um 11.34 Uhr und einem
Blutdruckabfall um etwa 12.10 Uhr - gekommen sei. Die wegen des
Blutdruckabfalls erforderlichen medikamentösen Massnahmen seien getroffen, die
Blutung lege artis versorgt worden. Das Risiko für die Minderdurchblutung des
Sehnervs wäre bei einer Behebung der Blutung innert kürzerer Zeit nicht
massgeblich reduziert worden. 
 
7.   
Dass das kantonale Gericht in der Verletzung eines Seitenastes der Arteria
mammaria bei der Einsetzung des Herzschrittmachers eine grobe
Ungeschicklichkeit eines der an der Operation beteiligten Ärzte nicht zu
erkennen vermochte, lässt sich nicht beanstanden, zumal dieses Gefäss bei der
hier angewendeten - und nach Einschätzung der Gutachter angezeigten -
Ministernotomie für den Chirurgen nicht sichtbar war. 
 
Die weitere Klärung der Verlaufs des Eingriffs durch die Gutachter ergab auch
sonst keine Anhaltspunkte für grobe Ungeschicklichkeiten beziehungsweise dafür,
dass die Operation vom medizinisch Üblichen ganz erheblich abgewichen wäre.
Dass ein Sehverlust nach einer solchen Herzoperation äusserst selten vorkommt,
vermag an dieser Beurteilung nichts zu ändern. Die vorinstanzlich bestätigte
Leistungsablehnung durch den Unfallversicherer ist nicht bundesrechtswidrig. 
 
8.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem
unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 6. Juni 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo 

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