Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.806/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_806/2017  
 
 
Urteil vom 28. März 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Wirthlin. 
Gerichtsschreiberin Kopp Käch. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
 A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Kathrin Hässig, 
Beschwerdegegnerin, 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 28. August 2017 (IV.2016.00370). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________ war erstmals im Jahr 1999 zum Leistungsbezug bei der
Invalidenversicherung angemeldet worden. Wegen des Geburtsgebrechens Nr. 390
(angeborene cerebrale Lähmungen) wurden ihr medizinische Massnahmen und -
aufgrund einer weiteren Anmeldung mit dem Verweis auf eine geistige Behinderung
im Jahr 2002 - Kostengutsprache für Sonderschulung und für eine Anlehre zur
Konditorei-Confiserie-Mitarbeiterin gewährt.  
 
Mit Verfügung vom 3. September 2012 sprach die IV-Stelle des Kantons Thurgau
A.________ nach Einholung einer psychiatrischen Abklärung vom 10. Dezember 2011
und nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren eine abgestufte ausserordentliche
Invalidenrente (von September bis November 2010 eine halbe, von Dezember 2010
bis Mai 2011 eine ganze und ab Juni 2011 eine unbefristete Dreiviertelsrente)
zu. 
 
A.b. Nach der Geburt zweier Kinder (Jg. 2013 und 2015) sowie Wohnsitznahme der
Versicherten im Kanton Zürich leitete die nunmehr zuständige IV-Stelle des
Kantons Zürich im Juli 2015 ein Revisionsverfahren ein. Sie liess eine
Abklärung der beeinträchtigten Arbeitsfähigkeit in Beruf und Haushalt
durchführen (Bericht vom 22. Dezember 2015). Nach entsprechendem Vorbescheid
und dagegen erhobenen Einwänden der Versicherten verfügte die IV-Stelle am 22.
Februar 2016 die Aufhebung der Invalidenrente auf Ende des der
Verfügungszustellung folgenden Monats. Sie ging davon aus, A.________ würde
auch ohne Gesundheitsschaden keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen und weise
im Aufgabenbereich Haushalt eine Einschränkung von 20% auf.  
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 28. August 2017 teilweise gut, hob die
Verfügung vom 22. Februar 2016 auf und stellte fest, dass A.________ weiterhin
Anspruch auf die bisherige Dreiviertelsrente zuzüglich Kinderrenten habe. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und die Bestätigung
ihrer Verfügung. Ferner sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu
gewähren. 
 
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen, das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) beantragt deren Gutheissung. Mit Eingabe vom 1. März
2018 lässt A.________ an ihrem Standpunkt festhalten. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kann es
auf Rüge hin oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG
). 
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem
sie die renteneinstellende Verfügung vom 22. Februar 2016 aufhob. Im Zentrum
der Beurteilung steht die Frage, ob sich die revisionsweise Rentenaufhebung mit
Art. 8 und 14 EMRK bzw. mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (EGMR) Di Trizio gegen die Schweiz vom 2. Februar 2016 (7186/09)
sowie mit der Folgerechtsprechung des Bundesgerichts vereinbaren lässt. Dies
wiederum ist abhängig von der invalidenversicherungsrechtlichen Statusfrage,
mithin davon, ob die Beschwerdegegnerin als ausschliesslich im Aufgabenbereich
Tätige oder als Teilerwerbstätige zu qualifizieren ist.  
 
2.2. Im angefochtenen Entscheid sind die Bestimmungen und Grundsätze zu den
Begriffen der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1
ATSG) und Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), zum Umfang des Rentenanspruchs (
Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie zur Beurteilung der sog. Statusfrage und damit zur
anwendbaren Invaliditätsbemessungsmethode (bei erwerbstätigen Versicherten nach
der Einkommensvergleichsmethode [Art. 28a Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 16
ATSG]; bei teilerwerbstätigen Versicherten nach der gemischten Methode [Art.
28a Abs. 3 IVG] und bei nicht erwerbstätigen Versicherten nach der spezifischen
Methode [Betätigungsvergleich; Art. 28a Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 27
IVV]) zutreffend dargelegt worden. Darauf wird verwiesen. Richtig sind auch die
Ausführungen zur Revision einer Invalidenrente (Art. 17 Abs. 1 ATSG; BGE 134 V
131 E. 3 S. 132). Diesbezüglich hat das kantonale Gericht zu Recht darauf
hingewiesen, dass ein Revisionsgrund unter anderem auch in einer wesentlichen
Änderung hinsichtlich des für die Methodenwahl massgeblichen (hypothetischen)
Sachverhalts bestehen kann (vgl. BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349 f.; 117 V 198 E.
3b S. 199 mit Hinweisen).  
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz hat erwogen, die IV-Stelle habe die revisionsweise
Renteneinstellung einzig deshalb vorgenommen, weil die Versicherte nach der
Geburt von zwei Söhnen in den Jahren 2013 und 2015 nicht mehr als
vollerwerbstätig, sondern als vollzeitig im Haushaltsbereich tätig zu
qualifizieren sei. Die Herabsetzung wie auch die Aufhebung einer Invalidenrente
allein aus familiären Gründen sei gemäss EGMR-Urteil Di Trizio vom 2. Februar
2016 sowie gemäss Folgerechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 143 I 50; 143 I
60) EMRK-widrig. Dies gelte - so das kantonale Gericht - nicht nur für
Sachverhalte, bei denen ein Statuswechsel von vollzeitiger zu teilzeitiger
Erwerbstätigkeit mit Aufgabenbereich erfolge, sondern auch bei einem Wechsel
von vollzeitiger Erwerbstätigkeit zu vollzeitiger Tätigkeit im
Haushaltsbereich. Mangels eines anderen Revisionsgrundes, namentlich mangels
einer gesundheitlichen Veränderung, habe die Versicherte weiterhin Anspruch auf
die bisherige Dreiviertelsrente zuzüglich Kinderrenten. Die Vorinstanz liess
bei diesem Verfahrensausgang offen, ob die Beschwerdegegnerin aufgrund ihrer
Aussagen in der Haushaltabklärung tatsächlich als vollzeitig im
Haushaltsbereich tätig zu qualifizieren wäre und ob hinsichtlich der
Einschränkungen im Haushalt allein auf den entsprechenden Abklärungsbericht
abgestellt werden könne.  
 
3.2. Der angefochtene Entscheid hält vor Bundesrecht nicht stand:  
 
3.2.1. Wie das Bundesgericht im zur Publikation bestimmten Urteil 8C_429/2017
vom 20. Dezember 2017 entschieden hat, betreffen das EGMR-Urteil Di Trizio vom
2. Februar 2016 wie auch die Folgerechtsprechung des Bundesgerichts allein die
wegen eines Statuswechsels zu Teilerwerbstätigkeit (mit Aufgabenbereich)
anwendbare gemischte Methode der Invaliditätsbemessung. Diese Methode hat der
EGMR im erwähnten Urteil mehrfach in Bezug auf die Auswirkungen hinsichtlich
Organisation des Familien- und Berufslebens kritisiert und auf
methodeninhärente Mängel hingewiesen. Für die spezifische Methode, bei der die
Invalidität der versicherten Person danach ermittelt wird, in welchem Ausmass
sie unfähig ist, sich im Aufgabenbereich zu betätigen (vgl. Art. 28 Abs. 2 IVG
in Verbindung mit Art. 8 Abs. 3 ATSG), besteht entgegen der Auffassung der
Vorinstanz keine Relevanz der erwähnten Rechtsprechung. In dieser Hinsicht gibt
es im Anwendungsbereich der spezifischen Methode von vornherein keine
Erschwernisse bezüglich Vereinbarkeit von Familienleben und Wahrnehmung
beruflicher Interessen. Ebenso wenig wirken hier die für die gemischte Methode
typischen nachteiligen Folgen, die nunmehr mit der per 1. Januar 2018 in Kraft
getretenen Änderung von Art. 27 und 27bis IVV beseitigt werden sollen.  
 
3.2.2. Nach Gesagtem können entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts die
Fragen, ob die Versicherte im Gesundheitsfall noch einer (Teil-)
Erwerbstätigkeit nachgehen würde und ob hinsichtlich der Einschränkungen im
Haushaltsbereich allein auf den Abklärungsbericht abgestellt werden könne,
nicht offen gelassen werden. Die Vorinstanz hat sich diesbezüglich nicht
festgelegt. Sie äusserte indes Zweifel daran, ob die Beschwerdeführerin
anlässlich der Haushaltsabklärung die Frage nach der hypothetischen
Erwerbstätigkeit, die sie zunächst immerhin mit 40% beziffert habe, erfasst und
zuverlässig habe beantworten können. Zudem wies das kantonale Gericht
hinsichtlich der Einschränkungen im Haushalt auf die Notwendigkeit einer
fachmedizinischen Einschätzung hin. Der Abklärungsbericht sei seiner Natur nach
in erster Linie auf die Ermittlung des Ausmasses physisch bedingter
Beeinträchtigungen zugeschnitten und seine grundsätzliche Massgeblichkeit könne
bei einer Person mit psychischen Beschwerden unter Umständen Einschränkungen
erfahren. Beide Punkte liess das kantonale Gericht offen. Aus
Rechtsschutzgründen (kein Verlust der ersten und einzigen Instanz mit freier
Beweiswürdigung) ist die Sache zum Entscheid über die Statusfrage und über die
Einschränkungen im Haushaltsbereich an das kantonale Gericht zurückzuweisen.  
 
4.   
Das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde wird mit dem heutigen Urteil
in der Hauptsache gegenstandslos. 
 
5.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 4 lit. a BGG). Die Rückweisung
der Sache an die Vorinstanz (mit noch offenem Ausgang) gilt für die Frage der
Auferlegung der Gerichtskosten praxisgemäss als Obsiegen der Beschwerde
führenden Partei (vgl. SVR 2013 IV Nr. 26 S. 75, 8C_54/2013 E. 6), weshalb die
Gerichtskosten grundsätzlich von der unterliegenden Beschwerdegegnerin zu
tragen wären (Art. 66 Abs. 1 BGG). In Anwendung von Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG
kann indes ausnahmsweise auf die Erhebung von Gerichtskosten verzichtet werden.
Eine Parteientschädigung ist bei diesem Verfahrensausgang nicht zuzusprechen (
Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 28. August 2017 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 28. März 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kopp Käch 

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