Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.800/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_800/2017  
 
 
Urteil vom 21. Juni 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiberin Durizzo. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Kantonale IV-Stelle Wallis, 
Bahnhofstrasse 15, 1950 Sitten, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch SYNA die Gewerkschaft, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Wallis vom 11. Oktober 2017
(S1 16 207). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________, geboren 1966, arbeitete seit 1987 als Maurer mit Saisonnierstatus
(beziehungsweise Kurzaufenthaltsbewilligung L) bei der B.________ AG. Bei einem
Sturz am Arbeitsplatz brach er sich am 28. Juni 2011 das rechte Handgelenk.
Gemäss Bericht des Spitals C.________ trat in der Folge ein komplexes
regionales Schmerzsyndrom (CRPS) auf. Vom 29. November bis zum 16. Dezember
2011 und vom 15. Mai bis zum 20. Juni 2012 hielt er sich in der Klinik
D.________ auf. Er wurde im Schweizer Paraplegiker-Zentrum, sowie im Spital
E.________ abgeklärt (Berichte vom 12. Dezember 2012 und vom 5. März 2013).
Gemäss Bericht des Paraplegiker-Zentrums vom 3. August 2013 wurde ihm eine
Elektrode zur SCS-Therapie (Rückenmarkstimulation) implantiert. Vom 11. Februar
bis zum 18. März 2014 folgte ein weiterer Aufenthalt in der Klinik D.________. 
Am 23. Februar 2012 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die kantonale IV-Stelle Wallis holte die Gutachten der Dres.
med. F.________, Innere Medizin und Rheumaerkrankungen FMH, und G.________,
Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 11. beziehungsweise 16. November 2014
ein. Sie gewährte Eingliederungsmassnahmen mit einer beruflichen sowie einer
Arbeits- und Leistungsabkärung (Berichte des Zentrums H._______ vom 30.
September 2015 und der Eingliederungsstätte I.________ vom 10. Dezember 2015).
Danach liess sie den Versicherten durch den Regionalen Ärztlichen Dienst
abklären (Berichte des Dr. med. K.________, Physikalische Medizin und
Rehabilitation FMH, vom 24. Juni 2016 und der Frau Dr. med. L.________, Innere
Medizin FMH, vom 9. August 2016). Mit Verfügung vom 6. Oktober 2016 lehnte sie
den Anspruch auf eine Invalidenrente ab. 
Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) sprach A.________ mit
Verfügung vom 27. Februar 2017 eine Invalidenrente bei einer Erwerbsunfähigkeit
von 44 % sowie eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von
50 % zu. 
 
B.   
Mit Entscheid vom 11. Oktober 2017 hiess das Kantonsgericht Wallis die gegen
die Verfügung vom 6. Oktober 2016 erhobene Beschwerde gut. Sie sprach
A.________ ab dem 1. September 2012 eine Viertelsrente zu und wies die Sache an
die IV-Stelle zurück, damit sie über befähigende berufliche
Eingliederungsmassnahmen neu entscheide. 
 
C.   
Die kantonale IV-Stelle Wallis führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheides,
soweit dem Versicherten damit eine Invalidenrente zugesprochen wird. 
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
D.   
Mit Verfügung vom 22. Januar 2018 hat der Instruktionsrichter dem Gesuch der
IV-Stelle um aufschiebende Wirkung der Beschwerde stattgegeben. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Eine - für den
Ausgang des Verfahrens entscheidende (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) -
vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann das Bundesgericht nur berichtigen
oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
2.   
Streitig ist, ob die Rentenzusprechung durch das kantonale Gericht vor
Bundesrecht standhält. Umstritten ist dabei die Ermittlung des
Invalideneinkommens. 
 
3.   
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Invalidität
(Art. 8 ATSG), den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie
zum Beweiswert und zur Beweiswürdigung medizinischer Berichte und Gutachten (
BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3 S. 352) zutreffend dargelegt. Es
wird darauf verwiesen. 
 
4.  
 
4.1. Nach Art. 16 ATSG wird für die Bestimmung des Invaliditätsgrades das
Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und
nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger
Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener
Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen,
das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre.  
Für die Festsetzung des Invalideneinkommens ist nach der Rechtsprechung primär
von der beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in der die versicherte
Person konkret steht. Übt sie nach Eintritt der Invalidität eine
Erwerbstätigkeit aus, bei der - kumulativ - besonders stabile
Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie die ihr
verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und
erscheint zudem das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht
als Soziallohn, gilt grundsätzlich der tatsächlich erzielte Verdienst als
Invalidenlohn. Ist kein solches tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen gegeben,
namentlich weil die versicherte Person nach Eintritt des Gesundheitsschadens
keine oder jedenfalls keine ihr an sich zumutbare neue Erwerbstätigkeit
aufgenommen hat, so können nach der Rechtsprechung entweder die Tabellenlöhne
der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Lohnstrukturerhebung (LSE) oder
die sogenannten DAP-Zahlen (Arbeitsplatz-Dokumentation der Suva) herangezogen
werden (BGE 135 V 297   E. 5.2 S. 301; SVR 2014 IV Nr. 37 S. 130, 8C_7/2014 E.
7.1). 
Die korrekte Anwendung der LSE-Tabellen ist eine Rechtsfrage, die vom
Bundesgericht ohne Einschränkung der Kognition frei überprüft wird (BGE 143 V
295 E. 2.4 S. 297; 132 V 393 E. 3.3 S. 399). 
 
4.2. Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage der LSE ermittelt, ist der
entsprechende Ausgangswert allenfalls zu kürzen. Ohne für jedes zur Anwendung
gelangende Merkmal separat quantifizierte Abzüge vorzunehmen, ist der Einfluss
aller Merkmale auf das Invalideneinkommen (leidensbedingte Einschränkung,
Alter, Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad)
unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen
gesamthaft zu schätzen. Der Abzug darf 25 % nicht übersteigen (BGE 135 V 297 E.
5.2 S. 301 mit Hinweisen). Ob und in welcher Höhe statistische Tabellenlöhne
herabzusetzen sind, hängt von sämtlichen persönlichen und beruflichen Umständen
des Einzelfalles ab, die nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen
sind.  
Ob ein (behinderungsbedingter oder anderweitig begründeter) Abzug vom
hypothetischen Invalideneinkommen vorzunehmen sei, ist eine Rechtsfrage.
Demgegenüber stellt die Höhe des Abzuges eine typische Ermessensfrage dar
(Urteil 8C_312/2017 vom 22. November 2017 E. 3.1). Sie ist angesichts der dem
Bundesgericht zukommenden Überprüfungsbefugnis letztinstanzlicher Korrektur nur
mehr dort zugänglich (Art. 95 und 97 BGG), wo das kantonale Gericht sein
Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also bei Ermessensüberschreitung oder
-unterschreitung beziehungsweise bei Ermessensmissbrauch als Formen
rechtsfehlerhafter (Art. 95 lit. a BGG) Ermessensbetätigung (BGE 132 V 393 E.
2.2 S. 396 und E. 3.3 S. 399). Im Gegensatz zur Kognition des Bundesgerichts
ist diejenige der Vorinstanz in diesem Zusammenhang nicht auf Rechtsverletzung
(einschliesslich Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung)
beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die Beurteilung der Angemessenheit
der Verwaltungsverfügung (BGE 137 V 73 E. 5.2 S. 73). Bei der Angemessenheit
geht es um die Frage, ob der zu überprüfende Entscheid, den die Behörde nach
dem ihr zustehenden Ermessen im Einklang mit den allgemeinen Rechtsprinzipien
in einem konkreten Fall getroffen hat, nicht zweckmässigerweise anders hätte
ausfallen sollen. Allerdings darf das kantonale Gericht sein Ermessen nicht
ohne triftigen Grund an die Stelle desjenigen der Verwaltung setzen; es muss
sich somit auf Gegebenheiten abstützen können, die seine abweichende
Ermessensausübung als naheliegender erscheinen lassen (BGE 137 V 71 E. 5.2 S.
73 mit Hinweis; Urteil 8C_744/2017 vom 14. Mai 2018 E. 3.2 und 3.3). 
 
5.   
Die Vorinstanz stellte fest, dass gestützt insbesondere auf die voll
beweiskräftige Stellungnahme der RAD-Ärztin Dr. med. L.________ vom 9. August
2016 funktionell praktisch eine Einhändigkeit bestehe. Dem Versicherten sei
eine Tätigkeit ohne schwere Hebe- und Tragebelastung, ohne jegliche
Anforderungen an die Feinmotorik, ohne besondere Anforderungen an die
Belastungsfähigkeit der rechten Hand, ohne Besteigen von Leitern und Gerüsten,
ohne häufige Überkopfarbeiten und ohne längere Zwangshaltungen ganztags
zumutbar. Sie bestätigte den Einkommensvergleich der IV-Stelle insoweit, als
diese zur Ermittlung des Invalideneinkommens die LSE 2010 herangezogen hatte
und dabei von einem möglichen Einsatz in allen Wirtschaftszweigen (Tabelle TA1,
Total, Anforderungsniveau 4) ausgegangen war. Indessen gewährte sie einen Abzug
von 20 % anstelle der von der IV-Stelle berücksichtigten Reduktion um 10 %. 
 
 
6.   
Bei der Bemessung der Höhe des Abzugs orientierte sich das kantonale Gericht an
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach eine faktische Einhändigkeit
oder Beschränkung der dominanten Hand als Zudienhand einen Abzug von 20 bis 25
% zu rechtfertigen vermag (Urteile 8C_744/2017 vom 14. Mai 2018 E. 5.2; 8C_527/
2012 vom 21. November 2012 E. 4.2.2.3; 9C_418/2008 vom 17. September 2008 E.
3.3.2 und 3.3.3). Zu bedenken ist allerdings, dass das Bundesgericht bei
funktioneller Einarmigkeit oder Einhändigkeit auch schon Abzüge von 10 % als
angemessen bezeichnet hat (Urteile 9C_783/2015 vom 7. April 2016 E. 4.6 und
8C_971/2008 vom          23. März 2009 E. 4.2.6.2; vgl. ferner Urteil 8C_471/
2017 vom 16. April 2018 E. 5). Entscheidend sind die gesamten Umstände des
konkreten Falles, wobei die IV-Stelle beschwerdeweise darlegt, wieso sie keinen
Anlass hatte, den gewährten Abzug von 10 % schon früher eingehender zu
begründen und weshalb sie diese Höhe als angemessen erachtete. Dabei kann ihr
nicht schon deshalb rechtsfehlerhafte Ermessensausübung vorgeworfen werden,
weil in anderen ähnlich gelagerten Fällen ein Abzug von 20 bis 25 % anerkannt
wurde. Wie es sich im Einzelnen damit verhält, kann hier jedoch offen bleiben,
da der angefochtene Entscheid - wie sogleich darzulegen ist - selbst bei
Annahme eines 20%igen Abzugs vom Tabellenlohn nicht zu schützen ist. 
 
7.   
Die Vorinstanz hat darüber hinaus den Einkommensvergleich der IV-Stelle
bestätigt, insbesondere auch das von ihr gestützt auf die LSE 2010 ermittelte
Invalideneinkommen. Zu Recht macht die IV-Stelle letztinstanzlich geltend, dass
jeweils die im Verfügungszeitpunkt (hier: 6. Oktober 2016) aktuellste
LSE-Tabelle zur Anwendung zu gelangen hat (BGE 143 V 295 E. 2.3 mit Hinweisen).
Die Zahlen der LSE 2012 - die hier mit Blick auf den hypothetischen
Rentenbeginn am 1. September 2012 massgeblich sind (BGE 128 V 174; 129 V 222) -
waren im Oktober 2014 veröffentlicht worden (vgl. IV-Rundschreiben Nr. 328 vom
22. Oktober 2014). Gemäss Tabelle TA1 der LSE 2012, Zeile "Total Privater
Sektor", Kompetenzniveau 1, betrug das entsprechende monatliche Einkommen 5'210
Franken. Umgerechnet auf die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit von 41,7
Stunden ergibt sich ein Jahreseinkommen von 65'177 Franken. Selbst unter
Berücksichtigung eines 20%igen leidensbedingten Abzuges ergäbe der Vergleich
des so ermittelten Invalideneinkommens von 52'142 Franken mit dem hier nicht
weiter zu hinterfragenden Valideneinkommen von 82'593 Franken einen
rentenausschliessenden Invaliditätsgrad von 37 %. Das reicht zur Begründung
eines Rentenanspruchs nicht aus (Art. 28 Abs. 2 IVG), womit der angefochtene
Entscheid im Ergebnis vor Bundesrecht nicht stand hält. 
 
8.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem
unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts Wallis vom
11. Oktober 2017 wird aufgehoben, soweit dem Versicherten damit eine
Invalidenrente zugesprochen wird. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Kantonsgericht Wallis zurückgewiesen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Wallis und dem Bundesamt
für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. Juni 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo 

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