Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.789/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_789/2017  
 
 
Urteil vom 30. Mai 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiber Grunder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kaspar Saner, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Wiedererwägung; Revision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 25. August 2017 (IV.2016.00667). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1964 geborene A.________ meldete sich am 26. März 2001 wegen eines
chronischen Rückenleidens zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an.
Mit Verfügung vom 26. März 2003 verneinte die IV-Stelle des Kantons Zürich
einen Anspruch auf berufliche Massnahmen. 
 
Der Versicherte ersuchte die Verwaltung am 20. Oktober 2004 wegen des
chronischen Rückenleidens sowie einer Diskushernie auf Höhe des
Lendenwirbelkörpers L4/5 erneut um Ausrichtung von Leistungen der
Invalidenversicherung. Die IV-Stelle klärte den Sachverhalt in beruflicher und
medizinischer Hinsicht ab. Mit Verfügung vom 16. August 2005 verneinte sie
einen Anspruch auf Invalidenrente mangels Erfüllung der einjährigen Wartezeit.
In Gutheissung der hiegegen erhobene Einsprache sprach sie dem Versicherten
gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 64 % ab 1. Februar 2005 eine
Dreiviertelsrente zu (Verfügung vom 23. März 2006). 
 
Im Juli 2010 leitete die IV-Stelle ein Revisionsverfahren ein. Am 25. Februar
2011 teilte sie dem Versicherten mit, sie habe bei der Überprüfung des
Invaliditätsgrades keine Änderung der massgeblichen Verhältnisse festgestellt,
weshalb er weiterhin Anspruch auf die bisherige Invalidenrente habe. 
 
Im Januar 2013 leitete die IV-Stelle ein weiteres Revsionsverfahren ein. Mit
Vorbescheid vom 24. Juni 2013 eröffnete sie dem Versicherten, sie beabsichtige,
die Rente gestützt auf die Schlussbestimmung der Änderung des Bundesgesetzes
über die Invalidenversicherung (IVG) vom 18. März 2011 aufzuheben. Auf die vom
Versicherten erhobenen Einwände hin holte sie das polydisziplinäre Gutachten
der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) Ostschweiz, St. Gallen, vom 19.
August 2014 ein. Mit Vorbescheid vom 17. Dezember 2015 hob sie denjenigen vom
24. Juni 2013 auf und teilte dem Versicherten mit, seit der medizinischen
Begutachtung bestehe revisionsrechtlich betrachtet kein rentenbegründender
Invaliditätsgrad mehr. Auf die Einwände des Versicherten hin erliess die
Verwaltung am 25. Februar 2016 einen neuen Vorbescheid, mit dem sie in Aussicht
stellte, die Revisionsmitteilung vom 25. Februar 2011 wiedererwägungsweise
aufzuheben und die Ausrichtung der Invalidenrente nach Zusendung der zu
eröffnenden Verfügung auf das Ende des folgenden Monats einzustellen. An diesem
Ergebnis hielt sie mit Verfügung vom 9. Mai 2016 fest. 
 
B.   
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich ab (Entscheid vom 25. August 2017). 
 
C.   
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die IV-Stelle
zu verpflichten, ihm weiterhin eine Dreiviertelsrente auszurichten;
eventualiter sei sie zu verpflichten, ihm eine Rente nach IVG zu gewähren. 
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280; vgl. auch BGE 141 V 234 E. 1 S. 236; 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.).  
 
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (
Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt
hat, indem es die Verfügung der IV-Stelle vom 9. Mai 2016 bestätigt hat, wonach
die Wiedererwägungsvoraussetzungen gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG hinsichtlich der
Revisionsmitteilung vom 25. Februar 2011 gegeben seien und die Invalidenrente
daher ex nunc et pro futuro voraussetzungslos neu habe geprüft werden können.
Prozessthema bildet dabei in erster Linie die Frage, ob die Vorinstanz von
einem bundesrechtskonformen Verständnis der zweifellosen Unrichtigkeit
ausgegangen ist. Die Feststellungen, die der Beurteilung dieses unbestimmten
Rechtsbegriffs zugrunde liegen, sind tatsächlicher Natur und folglich nur auf
offensichtliche Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit (vgl. E. 1.2 hievor) hin
überprüfbar (vgl. SVR 2008 IV Nr. 53 S. 177 f., I 803/06 E. 4.2). Dagegen ist
die Auslegung (Konkretisierung) des Begriffs der zweifellosen Unrichtigkeit
nach Art. 53 Abs. 2 ATSG eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht frei beurteilt
(Urteil 9C_994/2010 vom 12. April 2011 E. 2).  
 
2.2. Die Vorinstanz hat die bei der Beurteilung des Streitgegenstands zu
beachtenden Rechtsgrundlagen zutreffend dargestellt. Darauf wird verwiesen. Zu
wiederholen ist, dass nach der Regeste von BGE 140 V 514 (Wiedererwägung einer
Revisionsverfügung) in Verbindung mit E. 5.2 S. 520 der Rentenanspruch einer
versicherten Person, der eine halbe Rente der Invalidenversicherung
zugesprochen wurde und der die Rente in der Folge zweifellos zu Unrecht auf
eine ganze Rente erhöht wurde, für die Zukunft auch dann frei zu prüfen ist,
wenn bezüglich der ursprünglichen Verfügung kein Rückkommenstitel vorliegen
würde.  
 
3.  
 
3.1.  
 
3.1.1. Die Vorinstanz hat erwogen, die IV-Stelle habe im Rahmen des im Juli
2010 eingeleiteten, mit Mitteilung vom 25. Februar 2011 abgeschlossenen
Revisionsverfahrens einen Auszug aus dem Individuellen Konto (IK), zwei
Fragebögen für Arbeitgebende der B.________ AG, vom 20. Dezember 2010 sowie
zwei Arztberichte eingeholt. Gemäss IK-Auszug habe der Versicherte bei der
B.________ AG von Januar bis Juni 2008 ein Einkommen von Fr. 39'000.- erzielt.
Laut Fragebögen der Arbeitgeberin habe der monatliche Lohn ab Januar 2009 Fr.
1'000.- betragen, was mit dem IK-Auszug für dieses Jahr übereinstimme. Die
Entlöhnung für das Jahr 2008 habe die Arbeitgeberin nicht angegeben. Werde vom
IK-Auszug ausgegangen, hätte der Versicherte hochgerechnet im Jahr 2008 ein
Jahreseinkommen von Fr. 72'000.- erzielt, das deutlich über dem bei der
Rentenzusprache ermittelten Invalideneinkommen von Fr. 26'247.- bei einer
Arbeitsunfähigkeit von 50 % liege. Somit hätten in dem ab dem im Juli 2010
durchgeführten Revisionsverfahren klare Hinweise für einen Revisionsgrund
bestanden, welchem die IV-Stelle mittels zusätzlicher Abklärungen hätte
nachgehen müssen. Indem sie davon abgesehen habe, habe sie den
Untersuchungsgrundsatz verletzt. Daher sei die Revisionsmitteilung vom 25.
Februar 2011, mit welcher der Anspruch auf eine Dreiviertelsrente bestätigt
worden sei, als zweifellos unrichtig einzustufen.  
 
3.1.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz verkenne in
Verletzung von Art. 53 Abs. 2 ATSG, weitere Abklärungen hätten kein anderes
Resultat ergeben, weil damit bereits damals nachgewiesen worden wäre, dass der
IK-Auszug bezogen auf das Jahr 2008 fehlerhaft gewesen sei. Damals - wie heute
- hätten die nachträglich beigebrachten Unterlagen, insbesondere die
Lohnabrechnungen der B.________ AG für das Jahr 2008, die Einstellung der Rente
verunmöglicht.  
 
3.1.3. Die IV-Stelle bringt vor, der Beschwerdeführer übersehe, dass bei einer
nachträglich festgestellten, klaren Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes
lediglich zu prüfen sei, ob im Zeitpunkt der fraglichen Verfügung weitere
Abklärungen erforderlich gewesen seien, was in Bezug auf die damalige Sachlage
zu beurteilen sei. Daher sei es entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers
nicht zulässig, aufgrund aktueller Erkenntnisse dazu rückwirkend Schlüsse zu
ziehen.  
 
3.2.  
 
3.2.1. Den Vorbringen der IV-Stelle ist beizupflichten. Gemäss Urteil 9C_19/
2008 vom 29. April 2008 E. 2.1 mit Hinweis kann eine zweifellose Unrichtigkeit
der ursprünglichen Rentenverfügung auch bei unrichtiger Feststellung im Sinne
der Würdigung des Sachverhalts gegeben sein. Darunter fällt insbesondere eine
unvollständige Sachverhaltsabklärung aufgrund einer klaren Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes (vgl. Art. 43 Abs. 1 ATSG und Art. 61 lit. c ATSG).
Trifft dies zu, erübrigt es sich, den damals rechtserheblichen Sachverhalt
weiter abzuklären und auf dieser nunmehr hinreichenden tatsächlichen Grundlage
den Invaliditätsgrad zu ermitteln. Abgesehen davon, dass einen weiter
zurückliegenden Zeitraum betreffende Abklärungen häufig keine verwertbaren
Ergebnisse zu liefern vermögen, geht es im Kontext darum, mit Wirkung ex nunc
et pro futuro einen rechtskonformen Zustand herzustellen.  
 
3.2.2. Nach dem Gesagten ist der vorinstanzliche Entscheid zu bestätigen,
wonach die IV-Stelle mit Verfügung vom 9. Mai 2016 bezogen auf die
Revisionsmitteilung vom 25. Februar 2011 zu Recht einen Wiedererwägungsgrund
angenommen und den Invaliditätsgrad und damit den Anspruch auf Invalidenrente
voraussetzungslos ex nunc et pro futuro neu geprüft hat.  
 
4.  
 
4.1. Streitig ist weiter, ob das kantonale Gericht das bei der Bestimmung des
Invaliditätsgrades gemäss Art. 16 ATSG festzustellende hypothetische
Invalideneinkommen bundesrechtskonform ermittelt hat. Dabei ist unbestritten,
dass zur Beurteilung des Gesundheitszustands und der Arbeitsfähigkeit vom
polydisziplinären Gutachten der MEDAS vom 19. August 2014 auszugehen ist.
Danach war der Explorand für körperlich leichte, rückenadaptierte Tätigkeiten,
die kein regelmässiges Bücken oder Heben von Lasten über zirka 8 bis 10
Kilogramm und auch keine vorgeneigten Zwangshaltungen erforderten, zu 80 %
arbeitsfähig.  
 
4.2. Die Vorinstanz hat anhand der standardisierten Bruttolöhne der
Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) 2012 des Bundesamtes für Statistik,
Tabelle TA1, Total, Kompetenzniveau 1, Männer, bezogen auf das Jahr 2013 ein
hypothetisches Invalideneinkommen von Fr. 52'927.- ermittelt (Fr. 66'158.-
herabgesetzt um die Arbeitsunfähigkeit von 20 % gemäss Gutachten der MEDAS vom
19. August 2014). Der Beschwerdeführer bringt einzig vor, das kantonale Gericht
habe in Verletzung von Bundesrecht davon keinen Abzug gemäss BGE 126 V 76
gewährt. Wohl trifft zu, dass das Bundesgericht nach ständiger Rechtsprechung
diese Frage frei prüft (vgl. BGE 137 V 71 E. 5.1 S. 72; 132 V 393 E. 3.3 S.
399), indessen hat die Vorinstanz zu sämtlichen im bundesgerichtlichen
Verfahren vorgebrachten Einwänden in nicht zu beanstandender Weise Stellung
genommen, weshalb auf die Vorbringen des Beschwerdeführers in diesem Punkt
nicht näher einzugehen ist.  
 
4.3. Insgesamt ergibt sich aufgrund der vorinstanzlich festgestellten
Vergleichseinkommen kein den Schwellenwert erreichender Invaliditätsgrad von 40
%, der ex nunc et pro futuro einen Anspruch auf eine Invalidenrente begründen
würde, weshalb die Beschwerde abzuweisen ist.  
 
5.   
Dem Gesuch des unterliegenden Beschwerdeführers um Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ist
stattzugeben, da die Bedürftigkeit aktenkundig, die Beschwerde nicht als
aussichtslos zu bezeichnen und die Verbeiständung durch einen Rechtsanwalt
geboten ist (Art. 64 Abs. 1 - 3 BGG). Er wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG
hingewiesen; danach hat er der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er
später dazu in der Lage ist. 
 Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Dr. Kaspar Saner wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 30. Mai 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Grunder 

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