Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.746/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_746/2017  
 
 
Urteil vom 22. Dezember 2017  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin, 
Gerichtsschreiberin Schüpfer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Miescher, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
14. September 2017 (VBE.2017.350). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1970 geborene A.________, zuletzt als Bauarbeiter tätig, bezog ab 1. Juni
2002 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze Invalidenrente (Verfügung
der Sozialversicherungsanstalt Aargau, IV-Stelle, vom 26. November 2002). Der
Anspruch auf eine ganze Rente wurde von der IV-Stelle mehrfach bestätigt). 
 
Im Jahr 2011 leitete die IV-Stelle ein weiteres Revisionsverfahren ein. In
dessen Verlauf holte sie verschiedene Berichte der Dr. med. B.________, FMH
Allgemeine Medizin, ein, führte mit dem Versicherten eine Besprechung bezüglich
seines gesundheitlichen und erwerblichen Zustandes durch und liess diesen
bidisziplinär psychiatrisch-orthopädisch begutachten. Gestützt auf die
Expertise der Dres. med. C.________, Fachärztin für allgemeine innere Medizin,
physikalische Medizin und Rehabilitation FMH, und D.________, Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 27./28. Juni 2016 hob sie die Rente
nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 10. März 2017
wiedererwägungsweise per Ende April 2017 auf. 
 
B.   
Die dagegen geführte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 14. September 2017 ab. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihm weiterhin
eine ganze Rente auszurichten. Eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an
die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von 
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht die
wiedererwägungsweise Aufhebung des Rentenanspruchs des Versicherten per Ende
April 2017 zu Recht geschützt hat.  
 
2.2. Im angefochtenen Entscheid wurden die entscheidwesentlichen Bestimmungen
und Grundsätze zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.  
 
Korrekt erwogen hat das kantonale Gericht namentlich, dass der
Versicherungsträger nach Art. 53 Abs. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG auf formell
rechtskräftige Verfügungen zurückkommen kann, wenn diese nach damaliger Sach-
und Rechtslage zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von
erheblicher Bedeutung ist. Zweifellose Unrichtigkeit nach Art. 53 Abs. 2 ATSG
liegt in der Regel vor, wenn die notwendigen fachärztlichen Abklärungen
überhaupt nicht oder nicht mit der erforderlichen Sorgfalt durchgeführt wurden,
oder wenn eine Leistung aufgrund falscher Rechtsregeln bzw. ohne oder in
unrichtiger Anwendung der massgeblichen Bestimmungen zugesprochen wurde. Soweit
ermessensgeprägte Teile der Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund der Sach- und
Rechtslage einschliesslich der Rechtspraxis im Zeitpunkt der rechtskräftigen
Leistungszusprache in vertretbarer Weise beurteilt worden sind, scheidet die
Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus (BGE 141 V 405 E. 5.2 S. 414 f. mit
Hinweisen). Eine auf keiner nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung der
massgeblichen Arbeitsfähigkeit beruhende Invaliditätsbemessung ist nicht
rechtskonform und die entsprechende Verfügung zweifellos unrichtig im
wiedererwägungsrechtlichen Sinne (Urteil 9C_491/2017 vom 26. September 2017 E.
2 mit Hinweisen). 
 
Die Feststellungen, welche der Beurteilung der zweifellosen Unrichtigkeit
zugrunde liegen, sind tatsächlicher Natur und folglich nur eingeschränkt
überprüfbar. Dagegen ist die Auslegung und Konkretisierung dieses unbestimmten
Rechtsbegriffs als Wiedererwägungsvoraussetzung eine Rechtsfrage, die das
Bundesgericht grundsätzlich frei prüft (Art. 95 lit. a BGG; Urteil 9C_309/2017
vom 13. Juli 2017 E. 2.2.2 mit Hinweisen). 
 
3.   
Die Vorinstanz stellte fest, die Rentenzusprache gemäss Verfügung vom 26.
November 2002 sei aufgrund des psychischen Gesundheitszustandes des
Versicherten erfolgt. Dr. med. E.________, Oberarzt beim externen
psychiatrischen Dienst (EPD) F.________, habe in seinem Bericht vom 21. Mai
2002 eine volle Arbeitsunfähigkeit in der angestammten Tätigkeit bescheinigt,
sich aber bezüglich jener in einer angepassten Tätigkeit nicht geäussert. Zudem
habe der Arztbericht in verschiedener Hinsicht Unstimmigkeiten aufgewiesen. Er
habe die beweisrechtlichen Anforderungen klar nicht erfüllt. Der Sachverhalt
sei vor der Rentenzusprache ungenügend abgeklärt worden. Zudem habe diese auf
einem rechtlich falschen Invaliditätsbegriff basiert. Die gestützt auf den
Bericht von Dr. med. E.________ vom 21. Mai 2002 erlassene Rentenverfügung habe
sich als zweifellos unrichtig erwiesen. 
 
Das im Revisionsverfahren eingeholte bidisziplinäre Gutachten der Dres.
C.________ und D.________ vom 27. Juni 2016 erfülle alle beweisrechtlichen
Anforderungen und es sei darauf abzustellen. Demnach konnten keine Diagnosen
mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit gestellt werden. Da den
Experten sämtliche Berichte der Dr. med. B.________ vorgelegen hätten, sei
nicht ersichtlich, weshalb weitere Stellungnahmen der behandelnden Ärztin
hätten eingeholt werden müssen. Mangels Erkrankungen mit Auswirkungen auf die
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit seien keine invaliditätsbedingte
Rehabilitationshindernisse ersichtlich und damit auch keine
Eingliederungsmassnahmen erforderlich. 
 
4.   
 
4.1. Die Vorbringen in der Beschwerde sind nicht geeignet, die Rechtmässigkeit
dieser vorinstanzlichen Betrachtungsweise ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Das
kantonale Gericht stellte - nicht offensichtlich unrichtig und daher für das
Bundesgericht verbindlich - fest, die Erwerbsunfähigkeit des Beschwerdeführers
sei bei der Rentenzusprache ungenügend abgeklärt gewesen. Die Verfügung vom 26.
November 2002 habe auf einer ungenügenden materiellen Grundlage beruht, weshalb
sie sich als zweifellos unrichtig erwiesen habe. Es ist nicht ersichtlich,
inwiefern das Einholen von aktuellen Stellungnahmen der Dr. med. B.________,
beziehungsweise des damals behandelnden Psychiaters Dr. med. E.________ - wie
dies der Beschwerdeführer fordert - an dieser Sachlage etwas zu ändern
vermöchte. Er übersieht, dass eine fachärztlich festgestellte psychische
Krankheit nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit dem Vorliegen einer
Invalidität ist. In jedem Einzelfall muss eine Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit unabhängig von der Diagnose und grundsätzlich unbesehen der
Ätiologie ausgewiesen und in ihrem Ausmass bestimmt sein (BGE 127 V 294 E. 4c
S. 298). Die IV-Stelle hatte im Jahre 2002 einzig zwei kurze Berichte der
Hausärztin und des Dr. med. E.________ eingeholt. Weiter führte eine
Berufsberaterin ein viertelstündiges Gespräch mit dem Versicherten. Laut
Protokoll vom 28. Juni 2002 sei der Versicherte kaum ansprechbar gewesen, habe
Blickkontakt vermieden und schon bald gebeten, wieder gehen zu können.
Entsprechend beurteilte die Sachbearbeiterin den Beschwerdeführer mangels
Kommunikations- und Handlungsfähigkeit als "beruflich nicht integrierbar". Ohne
weitere interne oder externe Abklärungen, insbesondere ohne fachärztliche
Begutachtung, wurde dem Versicherten in der Folge eine ganze Invalidenrente
zugesprochen. Auf eine solch dürftige Grundlage durfte aber bereits im
Zeitpunkt der Rentenzusprache nicht abgestellt werden (BGE 125 V 351 E. 3b/cc
S. 353; Urteil 9C_121/2014 vom 3. September 2014 E. 3.3.2 und 3.3.3, in: SVR
2014 IV Nr. 39 S. 137; je mit Hinweisen). Damit hat das kantonale Gericht die
Verfügung vom 26. November 2002 mangels vollständig erfolgter Abklärung des
Sachverhalts zu Recht als qualifiziert unrichtig beurteilt und diese in
Wiedererwägung gezogen. Dass es dabei seinerseits den entscheidwesentlichen
Sachverhalt offensichtlich unrichtig oder sonstwie in bundesrechtswidriger
Weise festgestellt hätte, trifft entgegen der Vorbringen in der Beschwerde
nicht zu.  
 
4.2. Bezüglich der Prüfung der Anspruchsberechtigung ex nunc et pro futuro
bringt der Beschwerdeführer vor, es sei unrichtig beziehungsweise willkürlich,
wenn die Vorinstanz sein Verhalten als unkooperativ beurteilt und auf eine
(volle) Arbeitsfähigkeit geschlossen habe. Er weist dabei auf Erwägung 4 des
angefochtenen Entscheides hin. Den vorinstanzlichen Ausführungen ist indessen
insgesamt keine entsprechende Feststellung zu entnehmen. Soweit sich der
Beschwerdeführer mit seinen Rügen gegen einzelne Beobachtungen und
Schlussfolgerungen der Gutachter C.________ und D.________ wendet, ist darauf
hinzuweisen, dass das kantonale Gericht verbindlich feststellte, auf das
Gutachten vom 27. Juli 2016 sei abzustellen. Es liegen demnach keine Diagnosen
mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit vor. Eigene
Erklärungsversuche betreffend das Verhalten während der gutachterlichen
Untersuchungen können die bundesrechtskonformen Feststellungen im angefochtenen
Entscheid nicht relativieren.  
 
4.3. Schliesslich verlangt der Beschwerdeführer sinngemäss, es seien vor
Aufhebung der Rente Eingliederungsmassnahmen durchzuführen.  
 
Nach ständiger Rechtsprechung ist im Regelfall eine medizinisch attestierte
Verbesserung der Arbeitsfähigkeit auf dem Weg der Selbsteingliederung zu
verwerten. Bei Versicherten, die bei der revisions- oder wiedererwägungsweisen
Herabsetzung oder Aufhebung der Invalidenrente das 55. Altersjahr vollendet
haben oder die eine Rentenbezugsdauer von mindestens 15 Jahren aufweisen, ist -
von Ausnahmen abgesehen - eine Selbsteingliederung grundsätzlich nicht zumutbar
(Urteil 9C_228/2010 vom 26. April 2011 E. 3 mit Hinweisen, in: SVR 2011 IV Nr.
73 S. 220; Urteil 9C_231/2015 vom 7. September 2015 E. 2; Zusammenstellung der
Rechtsprechung in: PETRA FLEISCHANDERL, Behandlung der Eingliederungsfrage im
Falle der Revision einer langjährig ausgerichteten Invalidenrente, in: SZS 2012
S. 360 ff.). 
 
Auch diesbezüglich hat die Vorinstanz verbindlich festgestellt, dass die beiden
genannten Kriterien beim Beschwerdeführer nicht erfüllt sind. Zudem besteht
gemäss Expertise eine uneingeschränkte Arbeits- (und Erwerbs) fähigkeit.
Medizinisch besteht daher keine Notwendigkeit für Eingliederungsmassnahmen.
Damit ist der angefochtene Entscheid zu bestätigen. 
 
5.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 22. Dezember 2017 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Schüpfer 

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