Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.741/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_741/2017  
 
 
Urteil vom 17. Juli 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiberin Betschart. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch seine Eltern, 
diese vertreten durch Advokat Martin Boltshauser, c/o Procap Schweiz, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung 
(Hilflosenentschädigung; Intensivpflegezuschlag), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St.
Gallen 
vom 11. September 2017 (IV 2016/101). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________, geboren am 4. Juli 2003, leidet an einer
Dandy-Walker-Malformation (Missbildung des Zentralnervensystems,
Geburtsgebrechen [GG] Ziff. 381) mit einer ausgeprägten Kleinhirnhypoplasie,
einer riesigen Cisterna magna und einer internen Hydrozephalie (GG Ziff. 386)
an Epilepsie (St. nach schwerem Status epilepticus) sowie an einem schweren
kognitiven Entwicklungsrückstand. Am 12. Mai 2009 wurde er zum Bezug einer
Hilflosenentschädigung angemeldet. Nach einer Abklärung an Ort und Stelle
(Abklärungsbericht vom 21. Oktober 2009) sprach die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen (nachfolgend: IV-Stelle) A.________ mit Verfügung vom 15. Dezember 2009
ab dem 12. Mai 2009 eine Entschädigung wegen Hilflosigkeit mittleren Grades und
ab dem 1. Oktober 2009 einen Intensivpflegezuschlag bei einem täglichen
invaliditätsbedingten Mehraufwand von 4 Stunden und 14 Minuten zu.  
 
A.b. Auf Ersuchen der Mutter wurde das Revisionsverfahren vorzeitig (2012 statt
2013) durchgeführt. Die Abklärung an Ort und Stelle vom 12. Oktober 2012 ergab
einen behinderungsbedingten zeitlichen Mehraufwand für die Grund- und
Behandlungspflege von 1 Stunde und 40 Minuten bei fortbestehender Hilflosigkeit
mittleren Grades. Hinzu kam eine Pauschale von vier Stunden für die besonders
intensive Überwachung des Versicherten (Abklärungsbericht vom 24. Oktober
2012). Die IV-Stelle wies gestützt darauf am 19. November 2012 das Gesuch um
Erhöhung der Hilflosenentschädigung (bei fortbestehender mittlerer
Hilflosigkeit) und des Intensivpflegezuschlags ab.  
 
A.c. Im Juli 2015 wurde ein weiteres Revisionsverfahren eingeleitet. In dessen
Rahmen fand am 2. November 2015 wiederum eine Abklärung an Ort und Stelle statt
(Abklärungsbericht vom 23. November 2015). Die IV-Abklärungsperson ermittelte
einen täglichen Mehraufwand für Grund- und Behandlungspflege von 1 Stunde und
32 Minuten. Zudem führte sie aus, dass die Überwachungspauschale von vier auf
zwei Stunden reduziert werden könne, weil der Versicherte deutlich ruhiger
geworden und eine ständige Interventionsbereitschaft nicht mehr ausgewiesen
sei. Eine hörende Überwachung mit Kontrollblicken sei jedoch sicherlich noch
notwendig und aufgrund der Diagnose auch nachvollziehbar. Wie im Vorbescheid
angekündigt sprach die IV-Stelle A.________ mit Verfügung vom 16. Februar 2016
(die die unrichtig zugestellte, ansonsten aber gleichlautende Verfügung vom 8.
Februar 2016 ersetzte) weiterhin eine Entschädigung wegen mittlerer
Hilflosigkeit zu, hob jedoch den Intensivpflegezuschlag per 31. März 2016 auf.
 
 
B.   
Mit Entscheid vom 11. September 2017 hiess das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen die dagegen erhobene Beschwerde gut und hob die Verfügung vom 16.
Februar 2016 auf. Es ging davon aus, dass A.________ weiterhin einer besonders
intensiven behinderungsbedingten Überwachung bedürfe und setzte eine
Überwachungspauschale von vier Stunden ein. Folglich sprach es ihm ab dem 1.
April 2016 weiterhin - zusätzlich zur Entschädigung bei mittelschwerer
Hilflosigkeit - einen Intensivpflegezuschlag bei einem invaliditätsbedingten
Betreuungsaufwand von wenigstens vier, aber weniger als sechs Stunden zu und
wies die Sache zur Festsetzung des konkreten Leistungsanspruchs an die
IV-Stelle zurück. 
 
C.   
Die IV-Stelle erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei ihre Verfügung vom 16.
Februar 2016 zu bestätigen. Der Versicherte, der durch seine Eltern gesetzlich
vertreten wird, und das Versicherungsgericht schliessen auf Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch
prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (
Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls
allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE
138 I 274 E. 1.6 S. 280; vgl. auch BGE 141 V 234 E. 1 S. 236). 
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (
Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung ist nicht mehr umstritten. Zu
prüfen bleibt, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie dem
Beschwerdegegner zur Hilflosenentschädigung einen Intensivpflegezuschlag
zusprach. Dabei ist einzig streitig, ob sie zu Recht eine Überwachungspauschale
von vier anstatt zwei Stunden anrechnete. 
 
3.  
 
3.1. Gemäss Art. 42ter Abs. 3 IVG wird die Hilflosenentschädigung für
Minderjährige, die zusätzlich eine intensive Betreuung brauchen, um einen
Intensivpflegezuschlag erhöht. Dieser Zuschlag wird nicht gewährt beim
Aufenthalt in einem Heim. Der monatliche Intensivpflegezuschlag beträgt bei
einem invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand von mindestens acht Stunden pro
Tag 60 Prozent, bei einem solchen von mindestens sechs Stunden pro Tag 40
Prozent und bei einem solchen von mindestens vier Stunden pro Tag 20 Prozent
des Höchstbetrags der Altersrenten nach Art. 34 Abs. 3 und 5 AHVG. Der Zuschlag
berechnet sich pro Tag. Der Bundesrat regelt im Übrigen die Einzelheiten. Nach 
Art. 39 IVV liegt eine intensive Betreuung im Sinn von Art. 42ter Abs. 3 IVG
bei Minderjährigen vor, wenn diese im Tagesdurchschnitt infolge
Beeinträchtigung der Gesundheit zusätzliche Betreuung von mindestens vier
Stunden benötigen (Abs. 1). Anrechenbar als Betreuung ist der Mehrbedarf an
Behandlungs- und Grundpflege im Vergleich zu nichtbehinderten Minderjährigen
gleichen Alters. Nicht anrechenbar ist der Zeitaufwand für ärztlich verordnete
medizinische Massnahmen, die durch medizinische Hilfspersonen vorgenommen
werden sowie für pädagogisch-therapeutische Massnahmen (Abs. 2). Bedarf eine
minderjährige Person infolge Beeinträchtigung der Gesundheit zusätzlich einer
dauernden Überwachung, so kann diese als Betreuung von zwei Stunden angerechnet
werden. Eine besonders intensive behinderungsbedingte Überwachung ist als
Betreuung von vier Stunden anrechenbar (Abs. 3).  
 
3.2. Die richtige Auslegung des Rechtsbegriffs der "besonders intensiven
behinderungsbedingten Überwachung" (Art. 39 Abs. 3 Satz 2 IVV) bildet eine frei
überprüfbare Rechtsfrage (Art. 95 lit. a BGG; vgl. Urteil 9C_608/2007 vom 31.
Januar 2008 E. 2.2). Gleiches gilt für die Abgrenzung dieses Begriffs von der
"dauernden Überwachung" gemäss Art. 39 Abs. 3 Satz 1 IVV. Mithin kann das
Bundesgericht frei prüfen, welche Tatbestandselemente erfüllt sein müssen,
damit eine besonders intensive behinderungsbedingte Überwachungsbedürftigkeit
zu bejahen ist und inwiefern sich diese von der dauernden
Überwachungsbedürftigkeit unterscheidet. Tatfrage ist hingegen, ob sich ein
Sachverhalt verwirklicht hat, der unter die Tatbestandselemente der besonders
intensiven Überwachung fällt (vgl. Urteile 9C_831/2017 vom 3. April 2018 E.
1.2; 9C_598/2014 vom 21. April 2015 E. 5.2.2 in: SVR 2015 IV Nr. 30 S. 92;
9C_825/2014 vom 23. Juni 2015 E. 4.12; je mit Hinweisen).  
 
3.3.  
 
3.3.1. Der Anspruch auf einen pauschalen Intensivpflegezuschlag im Sinn von 
Art. 39 Abs. 3 IVV entsteht gemäss den bundesrätlichen Erläuterungen zur
Verordnungsänderung vom 21. Mai 2003 nicht bereits dann, wenn ein Kind bloss
während bestimmter Stunden am Tag pflegerische Unterstützung benötigt.
Abgegolten werden soll vielmehr die für die Eltern extrem belastende Tatsache,
dass das Kind darüber hinaus rund um die Uhr invaliditätsbedingt überwacht
werden muss - sei es aus medizinischen Gründen (z.B. Gefahr epileptischer
Anfälle), sei es infolge spezifischer geistiger Behinderung oder bei Autismus.
Der "gewöhnliche" Überwachungsbedarf (wie er für den Anspruch auf eine leichte
Hilflosenentschädigung definiert ist [Art. 37 Abs. 3 lit. b IVV]), ist mit zwei
Stunden Pflege zu gewichten. Eine besonders grosse, mit vier Stunden zu
gewichtende Überwachungsintensität ist beispielsweise anzunehmen in schweren
Fällen von Autismus, bei denen ein Kind keine fünf Minuten aus den Augen
gelassen werden kann und die Eltern permanent intervenieren müssen. Die
Abgrenzung zwischen gewöhnlichem und besonders intensivem Überwachungsbedarf
ist auf der Ebene Kreisschreiben noch weiter zu präzisieren (vgl. AHI 2003 S.
330; vgl. auch Urteile 9C_666/2013 vom 25. Februar 2014 E. 8.2.2.1; I 684/05
vom 19. Dezember 2006 E. 4.4). Dies erfolgte im Kreisschreiben des Bundesamts
für Sozialversicherungen über Invalidität und Hilflosigkeit in der
Invalidenversicherung (KSIH; zur Tragweite von Weisungen der Aufsichtsbehörde
vgl. Urteil 8C_902/2017 vom 12. Juni 2018, E. 4.2 [zur Publikation vorgesehen];
BGE 138 V 346 E. 6.2 S. 362; 137 V 1 E. 5.2.3 S. 8 f.; 133 V 257 E. 3.2 S. 258;
132 V 121 E. 4.4. S. 125).  
 
3.3.2. Eine dauernde persönliche Überwachungsbedürftigkeit darf angenommen
werden, wenn die versicherte Person infolge ihres physischen und/oder
psychischen Gesundheitszustands ohne Überwachung mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit sich selbst oder andere Personen gefährden würde (vgl. Ziff.
8035 i.V.m. Ziff. 8078 KSIH; auch zum Folgenden). Die Überwachung ist z.B.
erforderlich, wenn eine versicherte Person wegen geistiger Absenzen nicht
während des ganzen Tages allein gelassen werden kann oder wenn eine Drittperson
mit kleineren Unterbrüchen bei der versicherten Person anwesend sein muss, da
sie nicht allein gelassen werden kann (BGE 107 V 136 E. 1b S. 139; 106 V 153 E.
2a S. 158; Urteil 9C_831/2017 vom 3. April 2018 E. 3.1 mit Hinweisen). Um als
anspruchsrelevant zu gelten, muss die persönliche Überwachung ein gewisses Mass
an Intensität aufweisen. "Dauernd" heisst nicht rund um die Uhr, sondern ist
als Gegensatz zu "vorübergehend" zu verstehen. Dies kann nach der
Rechtsprechung erfüllt sein, wenn bei einer versicherten Person z.B. Anfälle
zuweilen nur alle zwei bis drei Tage auftreten, diese aber unvermittelt und oft
auch täglich oder täglich mehrmals erfolgen, sodass tägliche Überwachung
vonnöten ist (Urteil 9C_598/2014 vom 21. April 2015 E. 5.2.1, in: SVR 2015 IV
Nr. 30 S. 92). Das Erfordernis der Dauer bedingt auch nicht, dass die
betreuende Person ausschliesslich an die überwachte Person gebunden ist. Ob
Hilfe und persönliche Überwachung notwendig sind, ist objektiv nach dem Zustand
der versicherten Person zu beurteilen (Urteil 9C_608/2007 vom 31. Januar 2008
E. 2.2.1; vgl. zum Ganzen Urteil 9C_598/2014 vom 21. April 2015 E. 5.2.1, in:
SVR 2015 IV Nr. 30 S. 92).  
 
3.3.3. Demgegenüber liegt eine besonders intensive dauernde Überwachung nach
Ziff. 8079 KSIH vor, wenn von der Betreuungsperson eine überdurchschnittlich
hohe Aufmerksamkeit und ständige Interventionsbereitschaft gefordert wird. Zur
Bejahung einer besonders intensiven Überwachung stellt die Nachtwache keine
Voraussetzung dar. Das KSIH illustriert dies zunächst mit dem Beispiel eines
autistischen Kinds, das erhebliche Probleme habe, seine Umwelt wahrzunehmen und
mit ihr zu kommunizieren. Dies zeige sich in seinem alltäglichen Umgang mit
Gegenständen (z.B. Ausleeren von Behältern, Herumwerfen beliebiger Gegenstände,
Beschädigung von Möbeln etc.). Auch könne das Kind keine Gefahren erkennen: So
könne es z.B. unvermittelt aus dem Fenster steigen. Es sei allenfalls auch
nicht in der Lage, auf verbale Rufe oder Warnungen entsprechend zu reagieren.
In bestimmten Situationen könne es beispielsweise zu selbstverletzendem oder
fremdagressivem Verhalten kommen. Die Betreuungsperson müsse deshalb dauernd
mit erhöhter Aufmerksamkeit in unmittelbarer Nähe des Kindes bleiben und
jederzeit bereit sein einzugreifen. Als zweites Beispiel nennt das KSIH ein
Kind, das an einer schweren Form von Epilepsie leide und das täglich mehrere
Serienanfälle habe, die plötzlich auftreten und bei denen jeweils die Atmung
unterbreche. Die Betreuungsperson müsse deshalb dauernd mit erhöhter
Aufmerksamkeit in unmittelbarer Nähe des Kindes bleiben und jederzeit bereit
sein, eingreifen zu können.  
 
3.3.4. Im Urteil 9C_666/2013 vom 25. Februar 2014 wurde eine besonders
intensive Überwachung bejaht bei einem sechsjährigen autistischen Mädchen.
Dieses dürfe im Alltag nie aus den Augen gelassen werden, weil es ansonsten
blitzschnell Sachen zerstörte oder durcheinander bringe, nicht in der Lage sei,
Gefahren und das Geschehen um sich herum einzuschätzen. Auch müsse es
ausserhalb der Wohnung oder der Schule stets an der Hand geführt werden, weil
es keine Berührungsängste gegenüber Fremden kenne und mit diesen auch mitgehen
würde. Wo es nicht möglich und auch nicht sinnvoll sei, das Kind an der Hand zu
nehmen, etwa auf Spielplätzen, müsse die Begleitperson besonders aufmerksam und
ständig bereit sein einzugreifen, um zu verhindern, dass es weglaufe, sich bei
der Benutzung von Spielgeräten verletze oder Sachen Dritter beschädige (Urteil
9C_666/2013 vom 25. Februar 2014 E. 8.2.2.2, in: SVR 2014 IV Nr. 14 S. 55).  
Demgegenüber erachtete das Bundesgericht im Urteil I 684/05 vom 19. Dezember
2006 einen dauernden Überwachungsbedarf von zwei Stunden als angemessen bei
einem rund fünfjährigen Versicherten, der an einer angeborenen cerebralen
Lähmung und angeborenen Herz- und Gefässmissbildungen litt und von den Eltern
rund um die Uhr überwacht wurde. Die Überwachung sei notwendig wegen
epileptischer Anfälle und weil der Versicherte seinen jüngeren Bruder dauernd
plage, ihn umstosse und ihm mit den Fingern in die Augen greife. Zudem höre er
nicht auf Verbote und weise einen Entwicklungsstand eines zweieinhalb- bis
dreijährigen, nichtbehinderten Kinds auf. Die Eltern müssten sich daher stets
in Sicht- und Hörkontakt aufhalten (Urteil I 684/05 vom 19. Dezember 2006 E.
4.3). 
 
4.  
 
4.1. Die IV-Stelle verneinte in der Verfügung vom 16. Februar 2016 die
Anrechnung der höheren Überwachungspauschale von vier Stunden und damit den
Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag. Zur Begründung verwies sie zunächst
auf das Ergebnis der Abklärungen im Jahr 2012: Damals habe der Versicherte
teilweise sehr gereizt reagiert und bei jeder Gelegenheit einen Unsinn
angestellt. Sobald er wach gewesen sei, habe sich immer eine Betreuungsperson
in seiner unmittelbaren Nähe befunden, damit er keinen Unsinn anstellen könne.
Sämtliche Schränke und Türen hätten abgeschlossen werden müssen, da er alles
ausgeräumt habe. Zudem sei der Bewegungsradius der Familie deutlich
eingeschränkt gewesen, weil man wegen seines schwierigen Verhaltens z.B. kein
Restaurant habe besuchen können. Im Vergleich dazu habe sich gemäss der
aktuellen Abklärung die Situation zu Hause etwas entspannt, was von der Familie
nicht abgestritten worden sei. Der Versicherte fühle sich nicht mehr
automatisch von gefährlichen Gegenständen (Messer, Feuerzeuge) angezogen. Die
Schränke in Küche und Badezimmer sowie die Türen innerhalb des Hauses müssten
nicht mehr zusätzlich verriegelt werden. Schliesslich sei es während der
Abklärung möglich gewesen, dass der Junge selbstständig ins Wohnzimmer gegangen
sei, um eine Sendung im Fernseher zu schauen. Die Mutter habe zwischendurch
nach ihrem Sohn geschaut, danach aber wieder ohne Unterbrechung dem
Abklärungsgespräch in der offenen Küche folgen können. Zwar sei der Versicherte
weiterhin auf eine hörende Überwachung angewiesen, doch sei eine stetige
Interventionsbereitschaft nicht mehr notwendig.  
 
4.2. Das kantonale Gericht stellte zwar ebenfalls fest, dass gegenüber der
letzten Abklärung eine Verbesserung eingetreten sei, indem sich der Versicherte
eine Zeit lang selber beschäftigen könne und die Eltern weniger oft
intervenieren müssten. Der Überwachungsbedarf sei daher nicht mehr so intensiv,
dass der Versicherte keine Sekunde aus den Augen gelassen werden könnte oder
die Eltern sich jederzeit unmittelbar neben ihm befinden müssten. Der
betreuende Elternteil könne sich also neben der Überwachung kurzzeitig auch
anderen Aufgaben wie dem Haushalt oder der Betreuung der beiden anderen Kinder
widmen. Die Vorinstanz führte jedoch weiter aus, dass die Beobachtungen der
Abklärungsperson insofern relativiert werden müssten, als bekanntlich auch
gesunde Kinder mit dem Fernseher "ruhig gestellt" werden könnten. Zudem hätten
die Eltern während der Abklärung vom 2. November 2015 erklärt, dass ihr Sohn
Gefahren immer noch nicht einschätzen könne und ihm die Folgen seines Handelns
nicht bewusst seien. Auch hätten die Eltern in einem Schreiben vom 6. März 2016
die Defizite des Versicherten anhand von Beispielen illustriert: So sei dieser
bereit, aus dem Fenster zu steigen, wenn er einen Rasenmäher höre oder sehe;
fühle er sich bedroht, zerre er seine Schwester an den Haaren, verkrampfe sich
und lasse nicht mehr los; auch forme er aus einem Taschentuch Kügelchen und
stecke sie sich in die Ohren. Unbestrittene Fortschritte des Beschwerdegegners
im Schuljahr 2014/2015 sind gemäss der Vorinstanz mit Blick auf die
Zielsetzungen der Ergotherapie (z.B. vermehrt selbstständiges Planen und
Ausführen einzelner Teilschritte von Alltagshandlungen wie An- und Auskleiden)
zu relativieren. Aufgrund seines Entwicklungsstands leuchte es ein, dass er
Gefahren sowie die Folgen seines Handelns nur ungenügend einschätzen könne,
weshalb trotz der Verbesserungen eine hörende Überwachung mit Kontrollblicken
weiterhin notwendig sei. Der betreuende Elternteil sei bei der Erledigung
anderer Aufgaben durch die Überwachung weiterhin stark eingeschränkt, müsse
sich in Hörweite des Beschwerdegegners aufhalten und alle paar Minuten
kontrollieren, was dieser mache, um bei Bedarf sofort intervenieren zu können.
Auch die Kinderärztin, Dr. med. B.________, Spezialärztin FMH für Kinder- und
Jugendmedizin, habe in ihrem Bericht vom 28. August 2015 bestätigt, dass sich
der behinderungsbedingte Mehraufwand an Hilfeleistung und persönlicher
Überwachung nicht geändert habe. Zusammenfassend habe sich der
Überwachungsbedarf nicht geändert und bedürfe der Beschwerdegegner weiterhin
einer besonders intensiven Überwachung im Sinn von Art. 39 Abs. 3 Satz 2 IVV.  
 
4.3. Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz sei zu Unrecht vom
beweiskräftigen Abklärungsbericht vom 23. November 2015 abgewichen und habe
damit Bundesrecht verletzt sowie den rechtserheblichen Sachverhalt
offensichtlich unrichtig festgestellt.  
 
5.  
 
5.1. Gemäss Art. 69 Abs. 2 IVV kann die IV-Stelle zur Prüfung eines
Leistungsanspruchs unter anderem Abklärungen an Ort und Stelle vornehmen. Nach
der Rechtsprechung hat ein Abklärungsbericht unter dem Aspekt der Hilflosigkeit
(Art. 9 ATSG) oder des Pflegebedarfs folgenden Anforderungen zu genügen: Als
Berichterstatterin oder Berichterstatter wirkt eine qualifizierte Person,
welche Kenntnis der örtlichen und räumlichen Verhältnisse sowie der aus den
seitens der Mediziner gestellten Diagnosen sich ergebenden Beeinträchtigungen
und Hilfsbedürftigkeiten hat. Bei Unklarheiten über physische oder psychische
Störungen und/oder deren Auswirkungen auf alltägliche Lebensverrichtungen sind
Rückfragen an die medizinischen Fachpersonen nicht nur zulässig, sondern
notwendig. Weiter sind die Angaben der Hilfe leistenden Personen zu
berücksichtigen, wobei divergierende Meinungen der Beteiligten im Bericht
aufzuzeigen sind. Der Berichtstext schliesslich muss plausibel, begründet und
detailliert bezüglich der einzelnen alltäglichen Lebensverrichtungen sowie den
tatbestandsmässigen Erfordernissen der dauernden Pflege, der persönlichen
Überwachung und der lebenspraktischen Begleitung sein. Schliesslich hat er in
Übereinstimmung mit den an Ort und Stelle erhobenen Angaben zu stehen. Das
Gericht greift, sofern der Bericht eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage im
eben umschriebenen Sinne darstellt, in das Ermessen der die Abklärung
tätigenden Person nur ein, wenn klar feststellbare Fehleinschätzungen
vorliegen. Das gebietet insbesondere der Umstand, dass die fachlich kompetente
Abklärungsperson näher am konkreten Sachverhalt ist als das im Beschwerdefall
zuständige Gericht (BGE 140 V 543 E. 3.2.1 S. 547 mit Hinweisen; Urteil 8C_756/
2011 vom 12. Juli 212 E. 3.2, in: SVR 2012 IV Nr. 54 S. 195). Diese Grundsätze
gelten entsprechend auch für die Abklärung der Hilflosigkeit unter dem Aspekt
des Intensivpflegezuschlags (Urteil 8C_308/2016 vom 6. September 2016 E. 5.1;
Urteil 8C_756/2011 vom 12. Juli 2012 E. 3.2, in: SVR 2012 IV Nr. 54 S. 195).
Festzuhalten ist sodann, dass es beim erwähnten "Ermessen der die Abklärung
tätigenden Person" nicht um Ermessen im Sinn der verwaltungsrechtlichen
Terminologie, mithin um die Abgrenzung der Entscheidsbefugnis des Gerichts
gegenüber der Zuständigkeit der Verwaltung unter dem Gesichtspunkt der
Zweckmässigkeitsprüfung, sondern um eine Frage der Beweiswürdigung geht (Urteil
8C_756/2011 vom 12. Juli 2012 E. 4.4 mit Hinweisen, in: SVR 2012 IV Nr. 54 S.
195). Weicht ein Gericht von der Einschätzung der Abklärungspersonen ab, ohne
Fehleinschätzungen im erwähnten Sinn festzustellen, verletzt dies sodann eine
Beweiswürdigungsregel und den Untersuchungsgrundsatz. Das wird als Rechtsfrage
vom Bundesgericht frei überprüft (statt vieler: SVR 2016 IV Nr. 6 S. 18, 8C_461
/2015 E. 1 mit Hinweisen; Urteil 9C_457/2014 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 141 V
405, aber in: SVR 2016 BVG Nr. 11 S. 47; vgl. auch Urteil 8C_756/2011 vom 12.
Juli 2012 E. 1 mit Hinweisen, in: SVR 2012 IV Nr. 54 S. 195).  
 
5.2.  
 
5.2.1. Die Abklärungen an Ort und Stelle vom 2. November 2015 wurden von einer
qualifizierten IV-Abklärungsperson vorgenommen. Im Bericht vom vom 23. November
2015 wurden die Angaben der Mutter sowie ihre Stellungnahme zu einzelnen
Positionen berücksichtigt. Sodann anerkannte die Mutter ihre Angaben mit ihrer
Unterschrift. Auch ist der Berichtstext plausibel und enthält eine detaillierte
Begründung zu den einzelnen alltäglichen Lebensverrichtungen sowie den
tatbestandsmässigen Erfordernissen der dauernden Pflege und der persönlichen
Überwachung. Mit der Beschwerdeführerin ist daher davon auszugehen, dass dem
Abklärungsbericht voller Beweiswert zukommt. Daran vermögen auch die Einwände
des kantonalen Gerichts in der Vernehmlassung vom 23. Mai 2018 nichts zu
ändern. Denn es verweist lediglich auf seine langjährige Erfahrung, wonach die
Abklärungsberichte oft mangelhaft seien. Jedoch zeigt es weder auf, inwiefern
der hier massgebliche Bericht vom 23. November 2015 auf einer unvollständigen
Protokollierung beruhen würde, noch nennt es einen Grund, der Anlass gäbe, an
der Kompetenz der mit dem Versicherten befassten Abklärungsperson zu zweifeln.
 
 
5.2.2. Eine unvollständige Protokollierung lässt sich namentlich nicht aus dem
Schreiben vom 6. März 2016 ableiten, in dem die Eltern des Versicherten geltend
machen, dass sich die Situation hinsichtlich der Überwachung nicht wesentlich
verbessert habe. Denn zum einen fällt auf, dass die Mutter die Angaben der
Abklärungsperson zur Überwachung (Punkt 4.3) in ihrer Stellungnahme vom 17.
November 2015 nicht beanstandete, während sie sich zu den übrigen Positionen
ausführlich äusserte. Zum andern widerspricht die spätere Darstellung den
unbefangenen, spontanen Aussagen der ersten Stunde gegenüber der
Abklärungsperson. Diesen kommt grösseres Gewicht zu, weil sie noch nicht
(bewusst oder unbewusst) von versicherungsrechtlichen Überlegungen beeinflusst
wurden (vgl. BGE 121 V 45 E. 2a S. 47; Urteile 9C_141/2014 vom 26. November
2014 E. 4.2.1, in: SVR 2015 BVG Nr. 37 S. 138; 8C_678/2017 vom 12. März 2018 E.
4.4). Der Abklärungsbericht vom 23. November 2015 stellt damit eine
zuverlässige Entscheidgrundlage dar.  
 
5.3. Es ist aufgrund dieses Berichts davon auszugehen, dass der Versicherte
ruhiger geworden ist und sich nicht mehr durch jeden gefährlichen Gegenstand
angezogen fühlt. Auch müssen Türen und Schränke nicht mehr zusätzlich
verriegelt werden. Der Beschwerdegegner kann im Zimmer nebenan spielen oder
fernsehen, während sich die Eltern in der Küche aufhalten. Eine hörende
Überwachung mit Kontrollblicken ist ausreichend. Ferner kann auf die
Ausführungen der Mutter abgestellt werden, wonach sich die Situation seit der
letzten Abklärung in Bezug auf die ständige Interventionsbereitschaft deutlich
verbessert habe und sie mit ihrem Sohn wieder unter die Leute gehen könne. Im
Übrigen ergibt sich auch aus dem Bericht der Ergotherapeutin vom 22. Mai 2015,
dass der Versicherte inzwischen in der Lage ist, sich mit grösserer Ausdauer
auf eine Handlung zu konzentrieren und sich besser an Abmachungen halten kann.
 
 
5.4. Zwar trifft es zu, dass die Eltern den Versicherten grundsätzlich
weiterhin ständig hörend und mit Kontrollblicken überwachen müssen. Dennoch hat
sich die Situation beruhigt. Dies ergibt sich letztlich auch aus den
Ausführungen der Vorinstanz, die ebenfalls zum Schluss kam, dass sich der
Beschwerdegegner besser mit sich selber beschäftigen könne und die Eltern
weniger oft intervenieren müssten. Schliesslich ist mit der Beschwerdeführerin
zu ergänzen, dass auch der Gesundheitszustand des Beschwerdegegners keine
permanente Interventionsbereitschaft der Eltern erfordert. Dieser hatte seinen
letzten epileptischen Anfall im Jahr 2014 und nimmt seine Medikamente
regelmässig ein. Die aktuell erforderliche Überwachung vermag die
Voraussetzungen einer besonders intensiven dauernden Überwachung, bei der der
Betroffene nicht aus den Augen gelassen werden darf und die Eltern permanent
intervenieren müssen, somit nicht mehr zu erfüllen. Indem die Vorinstanz
dennoch auf eine besonders intensive invaliditätsbedingte Überwachung schloss,
verletzte sie im Ergebnis Bundesrecht. Die Beschwerde ist damit gutzuheissen.  
 
6.   
Bei diesem Verfahrensausgang hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 11. September 2017 wird aufgehoben und die Verfügung der
IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 16. Februar 2016 wird bestätigt. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 17. Juli 2018 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Betschart 

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