Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.69/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_69/2017         

Urteil vom 18. August 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
Bundesrichterin Viscione,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ronald E. Pedergnana,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 6. Dezember 2016.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1975, arbeitete seit dem 1. August 2006 als Maschinenführer
bei der B.________ AG. Am 6. Februar 2014 meldete er sich unter Hinweis auf
Depressionen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die
behandelnde Ärztin Frau Dr. med. C.________, Psychiatrie und Psychotherapie
FMH, bescheinigte am 19. Februar 2014 eine 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit
seit dem 18. September 2013 bei schwerem depressivem Zustandsbild. Vom 27.
Februar bis zum 10. April 2014 war A.________ in der Klinik D.________ für
Psychiatrie und Psychotherapie hospitalisiert. Dr. med. E.________, Psychiatrie
und Psychotherapie FMH, Klinik F.________, welcher am 6. August 2014 ein
Gutachten zuhanden des Krankenversicherers erstattete, attestierte eine
100-prozentige Arbeitsunfähigkeit. Die Therapieoptionen seien nicht
ausgeschöpft. Es handle sich um eine reaktive beziehungsweise
Erschöpfungsdepression ohne genetische Vulnerabilität und
Persönlichkeitsfaktoren für die Entwicklung depressiver Störungen. In
prognostischer Hinsicht könne davon ausgegangen werden, dass sich die Symptome
vollständig zurückbildeten. Vom 1. bis zum 30. Oktober 2014 hielt sich
A.________ erneut in der Klinik D.________ auf und konnte in stabilisiertem
Zustand wieder entlassen werden.

Am 18. März 2015 gab die IV-Stelle des Kantons St. Gallen die Überwachung des
Versicherten in Auftrag, nachdem sie eine Internetrecherche (Einträge auf
"Facebook") durchgeführt hatte. Die G.________ GmbH erstattete ihren
Ermittlungs- und Observationsbericht am 16. Mai 2015. In der Folge holte die
IV-Stelle ein Gutachten des Dr. med. H.________, Psychiatrie und Psychotherapie
FMH, vom 21. September 2015 ein. Er ging von einer Remission des depressiven
Leidens und einer vollen Arbeitsfähigkeit aus. Mit Verfügung vom 5. April 2016
lehnte die IV-Stelle den Anspruch auf eine Invalidenrente ab.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher A.________ eine ganze Rente der
Invalidenversicherung für die Zeit von Oktober 2014 bis Dezember 2015,
eventualiter bis Juli 2015 beantragte, hiess das Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 6. Dezember 2016 teilweise gut. Es hob die
angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zu weiteren Abklärungen an die
IV-Stelle zurück. Es ordnete in den Erwägungen die Entfernung der
Observationsergebnisse aus den Akten an. Soweit Eingliederungsmassnahmen
beantragt wurden, trat es auf die Beschwerde nicht ein.

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und ihre Verfügung vom 5.
April 2016 sei zu bestätigen.

A.________ lässt auf Nichteintreten, eventualiter auf Abweisung der Beschwerde
schliessen, das Bundesamt für Sozialversicherungen BSV beantragt deren
Gutheissung. Der Beschwerdeführer hat sich dazu in einer weiteren Eingabe
geäussert.

Erwägungen:

1. 
Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich, da das Verfahren noch
nicht abgeschlossen wird und die Rückweisung auch nicht einzig der Umsetzung
des oberinstanzlich Angeordneten dient (SVR 2008 IV Nr. 39 S. 131, 9C_684/2007
E. 1.1), um einen - selbstständig eröffneten - Vor- oder Zwischenentscheid im
Sinne von Art. 93 BGG (BGE 133 V 477 E. 4.2 S. 481 f. mit Hinweisen). Die
Zulässigkeit der Beschwerde setzt somit - alternativ - voraus, dass der
Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit.
a) oder dass die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid
herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein
weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Abs. 1 lit. b).

Grundsätzlich ist nur das Dispositiv, nicht aber die Begründung eines
Entscheides anfechtbar. Dispositiv-Ziffer 1 des vorinstanzlichen Entscheids
weist die Sache an die IV-Stelle "zur Vornahme weiterer Abklärungen im Sinn der
Erwägungen" zurück. Mit diesem Verweis bezieht sich der Entscheid auch auf die
in den Erwägungen angeordnete Entfernung der Observationsergebnisse aus den
Akten. Das kantonale Gericht erachtete diese ebenso wie das in der Folge
erstellte Gutachten des Dr. med. H.________ (sowie eine Stellungnahme der
IV-Ärztin vom 1. Oktober 2015 und den Vorbescheid vom 17. Februar 2016) als
unrechtmässig erlangtes Beweismaterial. Mit der vorinstanzlichen Ausschliessung
der Verwertung des Observationsmaterials ist die Eintretensvoraussetzung von
Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG erfüllt, denn die IV-Stelle wäre damit gezwungen, das
von ihr als entscheidwesentlich angesehene Beweismaterial ausser Acht zu lassen
und damit eine ihres Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen. Darin liegt
ein nicht wieder gutzumachender Nachteil (Urteil 8C_272/2011 vom 11. November
2011 E. 1, nicht publ. in: BGE 137 I 327, aber in: SVR 2012 IV Nr. 26 S. 107).

2. 
Die Vorinstanz hat die Observation und die Verwertung der
Überwachungsergebnisse - und auch des in Kenntnis davon ergangenen Gutachtens
des Dr. med. H.________ - als unzulässig erachtet. Streitig ist, ob diese
Beurteilung vor Bundesrecht standhält.

3. 
Das kantonale Gericht hat festgestellt, dass für die heimliche Überwachung mit
technischen Überwachungsgeräten keine gesetzliche Grundlage bestehe. Das
beschaffte Datenmaterial, konkret die der IV-Stelle am 16. Mai 2015
überlassenen Ermittlungs- und Observationsberichte samt separater Daten-CD, sei
aus den Akten zu entfernen. Ebenfalls zu entfernen seien das Gutachten des Dr.
med. H.________ vom 21. September 2015 sowie die Stellungnahme der IV-Ärztin
vom 1. Oktober 2015, denn sie stützten sich bei ihrer Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit auf das Observationsmaterial. Die übrige medizinische
Aktenlage beruhe weder auf einer umfassenden Würdigung des Gesundheitsverlaufs
bis zum massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses vom 5. April 2016 noch
auf einer kritischen Prüfung der Leidensangaben des Beschwerdeführers. Die
Vorinstanz wies die Sache an die IV-Stelle zurück zur Vornahme einer
neuerlichen psychiatrischen Begutachtung. Zur Beweiskraft des Gutachtens des
Dr. med. H.________ sowie zu der vom Versicherten geltend gemachten
Voreingenommenheit des Gutachters hat sie sich nicht näher geäussert.

Die beschwerdeführende IV-Stelle macht geltend, dass die Überwachung
rechtmässig gewesen und das dabei erhobene Beweismaterial verwertbar sei. Ihre
leistungsablehnende Verfügung sei zu bestätigen.

4.

4.1. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem Urteil
vom 18. Oktober 2016 in Sachen Vukota-Bojic gegen die Schweiz (61838/10) über
die EMRK-Konformität einer Observation, die im Auftrag eines (sozialen)
Unfallversicherers durch einen Privatdetektiv erfolgt war, befunden. Er
erkannte, dass eine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine Observation
nicht besteht, weshalb er auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf
Achtung des Privatlebens) schloss. Hingegen verneinte er eine Verletzung von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Gebot eines fairen Verfahrens) durch die erfolgte
Verwendung der Observationsergebnisse.

Das Bundesgericht hat unter Berücksichtigung der betreffenden Erwägungen des
EGMR entschieden, dass es trotz Art. 59 Abs. 5 IVG ("Zur Bekämpfung des
ungerechtfertigten Leistungsbezugs können die IV-Stellen Spezialisten
beiziehen") auch im Bereich der Invalidenversicherung an einer ausreichenden
gesetzlichen Grundlage fehlt, die die Observation umfassend klar und
detailliert regelt. Folglich verletzen solche Handlungen, seien sie durch den
Unfallversicherer oder durch eine IV-Stelle veranlasst, Art. 8 EMRK
beziehungsweise den einen im Wesentlichen gleichen Gehalt aufweisenden Art. 13
BV (Urteil 9C_806/2016 vom 14. Juli 2017, zur Publikation vorgesehen).

4.2. Was die Verwendung des im Rahmen der widerrechtlichen Observation
gewonnenen Materials anbelangt, richtet sich diese allein nach schweizerischem
Recht. Das Bundesgericht hat in seinem Urteil 9C_806/2016 im Wesentlichen
erkannt, dass die Verwertbarkeit der Observationsergebnisse (und damit auch der
gestützt darauf ergangenen weiteren Beweise) grundsätzlich zulässig ist, es sei
denn, bei einer Abwägung der tangierten öffentlichen und privaten Interessen
würden diese überwiegen (E. 5.1.1). Mit Blick auf die gebotene
Verfahrensfairness hat es sodann in derselben Erwägung (mit Hinweisen) eine
weitere Präzisierung angebracht: Eine gegen Art. 8 EMRK verstossende
Videoaufnahme ist verwertbar, solange Handlungen des "Beschuldigten"
aufgezeichnet werden, die er aus eigenem Antrieb und ohne äussere Beeinflussung
machte, und ihm keine Falle gestellt worden war. Ferner hat es erwogen, dass
von einem absoluten Verwertungsverbot wohl immerhin insoweit auszugehen ist,
als es um Beweismaterial geht, das im nicht öffentlich frei einsehbaren Raum
zusammengetragen wurde (E. 5.1.3; Urteile 8C_735/2016 vom 27. Juli 2017 E.
5.3.6; 8C_45/2017 vom 26. Juli 2017 E. 4; vgl. zum öffentlich einsehbaren Raum:
BGE 137 I 327).

5. 
Mit Rücksicht auf diese jüngste Rechtsprechung steht mit dem kantonalen Gericht
fest, dass die Observation unzulässig war, weshalb eine Verletzung von Art. 8
EMRK und Art. 13 BV festzustellen ist. Hingegen erweist sich der angefochtene
Entscheid insoweit als bundesrechtswidrig, als er die Verwertbarkeit der
Observationsergebnisse betrifft und ohne Weiteres deren Entfernung aus den
Akten angeordnet wurde. Es bleibt zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine
Verwertung erfüllt sind.

5.1. Gestützt auf die vom Versicherten auf "Facebook" gezeigten Fotos bestanden
hinreichende Zweifel daran, dass ein schweres, zu gänzlicher Arbeitsunfähigkeit
führendes depressives Leiden vorliege, welches insbesondere auch einen sozialen
Rückzug erwarten liesse (BGE 137 I 327 E. 5.4.2.1 S. 332 f.). Ein
Anfangsverdacht war damit gegeben. Dies ist insoweit unbestritten geblieben.

5.2. Dass es sich bei der von der Detektei überwachten Person nicht um den
Versicherten handeln könnte, wurde nicht geltend gemacht. Es bestehen dafür
auch keine Hinweise angesichts der Angaben im Observationsbericht zur
Identifikation und zur Wohnsituation.

5.3. Die Observation erfolgte an insgesamt zehn Tagen. Die ersten drei Tage
dienten dabei im Wesentlichen einer Abklärung und Kontrolle der Wohnsituation,
des benutzten Fahrzeuges und der Gepflogenheiten des Versicherten. An weiteren
fünf Tagen konnte der Versicherte nicht beobachtet werden. Am 20. April und am
4. Mai 2015 erfolgte eine eigentliche Überwachung über mehrere Stunden. Der
Versicherte war jeweils mit seinem Auto unterwegs und wurde im Wesentlichen bei
Einkäufen in verschiedenen Geschäften, in Restaurants, bei Gesprächen mit
Bekannten, auf einer Abfallentsorgungsstelle, in einer Autogarage, bei einem
Bancomaten sowie beim Waschen seines Autos beobachtet.

5.4. Die Detektei hat ausschliesslich alltägliche Verrichtungen im öffentlich
einsehbaren Raum aufgezeichnet. Sie erfolgten aus eigenem Antrieb. Der
zeitliche Umfang beschränkte sich auf zwei Tage. Die Privatsphäre des
Versicherten war dadurch nur geringfügig betroffen. Es kann daher nicht von
einer schweren Verletzung der Persönlichkeit ausgegangen werden. Dem
gegenüberzustellen gilt es das Interesse des Versicherungsträgers und der
Versichertengemeinschaft, unrechtmässige Leistungsbezüge abzuwenden. Dieses ist
unter den hier gegebenen Umständen höher zu gewichten als das Interesse des
Versicherten an einer unbehelligten Privatsphäre.
Damit können im vorliegenden Fall die ohne ausreichende gesetzliche Grundlage
erhobenen Observationsergebnisse in Form des entsprechenden Berichts sowie der
Foto- und Videoaufnahmen verwertet werden, zumal der Kerngehalt von Art. 13 BV
bei der hier gegebenen Überwachung und der damit verbundenen geringen
Eingriffsschwere ebenfalls unangetastet blieb (Urteile 9C_806/2016 vom 14. Juli
2017 E. 5.1.2; 8C_735/2016 vom 27. Juli 2017 E. 5.3.5 und E. 5.3.6.3). Gleiches
gilt auch für die danach ergangenen weiteren Beweise. Insbesondere ist es daher
bundesrechtswidrig, das Gutachten des Dr. med. H.________ von vornherein
unberücksichtigt zu lassen.

5.5. Die Sache ist an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es die
übrigen Einwände des Versicherten, insbesondere zum Beweiswert des Gutachtens
des Dr. med. H.________ vom 21. September 2015, prüfe und über die Beschwerde
neu befinde.

6. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem
unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 6. Dezember 2016 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. August 2017
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Durizzo

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