Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.673/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_673/2017  
 
 
Urteil vom 27. März 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin. 
Gerichtsschreiberin Durizzo. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung 
(Invalidenrente; Integritätsentschädigung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 16. August 2017 (VBE.2016.522). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________, geboren 1952, war seit dem 1. Januar 1980 als
Produktionsmitarbeiter bei der B.________ AG angestellt und bei der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) für die Folgen von Berufs-
und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Am 10. Juni 2008
verunfallte er an seinem Arbeitsplatz mit dem Gabelstapler. Er klemmte sich den
linken Fuss ein und zog sich eine Trümmerfraktur am Unterschenkel zu. Der Bruch
musste im Spital C.________ sowie im Spital D.________ mehrfach operiert
werden. Nach einem Aufenthalt in der Klinik E.________ vom 16. März bis zum 29.
April 2009 begann A.________ am 11. Mai 2009 einen Arbeitsversuch an einem für
ihn geschaffenen Schonarbeitsplatz an der bisherigen Stelle, wo er sein Pensum
bis auf 100 Prozent steigern konnte. Es erfolgte eine weitere Operation
(Korrekturosteotomie) am 14. Januar 2010. Suva-Kreisarzt Dr. med. F.________,
Chirurgie FMH, erachtete die Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit
nach seiner Untersuchung vom 16. August 2010 als nicht mehr erreichbar.
Wechselbelastende Tätigkeiten (50 Prozent sitzend, 25 Prozent gehend, 25
Prozent stehend) insbesondere ohne das Heben und Tragen von Lasten seien
vollzeitlich zumutbar (Bericht vom 17. August 2010). Im Juli 2010 begann
A.________ erneut einen Arbeitsversuch bei seinem angestammten Arbeitgeber im
Tagdienst Pulverbetrieb (Bereitstellung von Rohmaterialien). Nachdem dieser
gescheitert war, führte Dr. med. F.________ am 1. Februar 2011 die
kreisärztliche Abschlussuntersuchung durch und bestätigte das am 16. August
2010 formulierte Zumutbarkeitsprofil im Wesentlichen. 
Die IV-Stelle des Kantons Aargau gewährte ab dem 1. November 2009 eine ganze
und ab dem 1. August 2010 bis zum 31. Dezember 2011 eine halbe Invalidenrente
(Verfügung vom 14. Februar 2012). Die Suva sprach A.________ mit Verfügung vom
5. April 2012 eine Invalidenrente bei einer Erwerbsunfähigkeit von 32 Prozent
zu, hob diese jedoch am 5. April 2013 gestützt auf die orthopädische
Beurteilung ihrer Abteilung Versicherungsmedizin, PD Dr. med. G.________,
orthopädische Chirurgie FMH, vom 14. Januar 2012 wieder auf und liess den
Versicherten im Zentrum H._________ abklären (Bericht vom 13. November 2013).
Sie holte zudem Aktenberichte ihrer Abteilung Versicherungsmedizin, Frau Dr.
med. I.________, Fachärztin für Neurologie FMH, und PD Dr. med. G.________
sowie Dr. med. J.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 26.
September 2014, vom 21. Oktober 2014 und vom 26. Oktober 2015 ein. Mit
Verfügung vom 11. Dezember 2015 und Einspracheentscheid vom 19. Juli 2016
sprach sie A.________ ab dem 1. März 2012 eine Invalidenrente bei einer
Erwerbsunfähigkeit von 32 Prozent sowie eine Integritätsentschädigung bei einer
Integritätseinbusse von 5 Prozent zu. 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 16. August 2017 ab. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, es sei ihm eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von
100 Prozent und eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von
100 Prozent zuzusprechen; eventualiter sei die Sache an das kantonale Gericht
zur Einholung eines Gutachtens zurückzuweisen. 
Das Bundesgericht hat die vorinstanzlichen Akten eingeholt. Ein
Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).  
 
1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).  
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die vorinstanzliche Bestätigung der Zusprechung
einer Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 32 Prozent und einer
Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 5 Prozent gestützt
auf die Aktenberichte der Suva-Ärzte vor Bundesrecht standhält. Umstritten ist,
ob - unter zusätzlicher Berücksichtigung der von den behandelnden Ärzten
gestellten Diagnose eines chronischen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS II) -
von einer höheren Arbeitsunfähigkeit beziehungsweise einer höheren
Integritätseinbusse hätte ausgegangen werden müssen. 
 
3.   
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zu den Ansprüchen auf
eine Invalidenrente (Art. 19 UVG) und eine Integritätsentschädigung (Art. 24 f.
UVG) sowie zum Beweiswert insbesondere von Berichten versicherungsinterner
medizinischer Fachpersonen (BGE 139 V 225 E. 5.2 S. 229; 135 V 465 E. 4.4 S.
469 f.; 125 V 351 E. 3a und b [insb. ee] S. 352 ff.) und von Aktenberichten
(SVR 2010 UV Nr. 17 S. 63, 8C_239/2208 E. 7.2; SZS 2008 S. 393, I 1094/06 E.
3.1.1 in fine; Urteil U 10/87 vom 29. April 1988 E. 5b, nicht publ. in: BGE 114
V 109, aber in: RKUV 1988 Nr. U 56 S. 366; Urteil 8C_780/2016 vom 24. März 2017
E. 6.1) zutreffend dargelegt. Es wird darauf verwiesen. 
 
4.   
Nach der Vorinstanz sind die versicherungsmedizinischen Stellungnahmen der
Suva-Ärzte voll beweiskräftig und ist gestützt darauf von einer vollzeitlichen
Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit auszugehen. Der
Beschwerdeführer macht geltend, dass darauf nicht abzustellen sei, weil die von
den behandelnden Ärzten - Dr. med. K.________, Anästhesiologie FMH, und Frau
Dr. med. L.________, Neurologie FMH - gestellte Diagnose eines CRPS II zu
Unrecht unberücksichtigt geblieben sei. 
 
5.   
Mit den Begriffen CRPS, komplexes beziehungsweise chronisches regionales
Schmerzsyndrom, Algodystrophie oder Morbus Sudeck, wird in der Medizin ein
posttraumatisches Krankheitsbild beschrieben, das sich, von einem blanden
Trauma ausgelöst, schnell zu heftigen Schmerzen von brennendem und
invalidisierendem Charakter wandelt, dem sich motorische, trophische und
sensomotorische Funktionseinschränkungen zugesellen; typisch ist, dass eine
ganze Extremität oder eine grosse Körperregion betroffen ist. Auslösende
Ursachen können unter anderem Gelenksdistorsionen aber auch beispielsweise ein
Herzinfarkt sein. Die Diskrepanz zwischen dem eigentlichen, als Bagatelle
anzusehenden auslösenden Trauma und den sich daran anschliessenden Folgen ist
als dramatisch zu bezeichnen. Ätiologie und Pathogenese der CRPS sind unklar
(SVR 2010 UV Nr. 18 S. 69, 8C_384/2009 E. 4.2.1). Praxisgemäss ist
erforderlich, dass anhand echtzeitlich erhobener medizinischer Befunde der
Schluss gezogen werden kann, die betroffene Person habe innerhalb der
Latenzzeit von sechs bis acht Wochen nach dem Unfall zumindest teilweise an den
für ein CRPS typischen Symptomen gelitten (Urteile 8C_714/2016 vom 16. Dezember
2016 E. 4.1; 8C_177/2016 vom 22. Juni 2016 E. 4.3). 
 
6.   
Das kantonale Gericht stellte fest, dass sich die Suva-Ärztin Dr. med.
I.________ in ihren neurologischen Stellungnahmen vom 26. September 2014 und
vom 26. Oktober 2015 auf die Ergebnisse der neurologischen Untersuchung im
Zentrum H.________ (Bericht vom 13. November 2013) gestützt, aber auch die
später von Frau Dr. med. L.________ erhobenen Befunde berücksichtigt habe
(Bericht vom 22. Mai 2015). Die Kriterien für die Diagnose eines CRPS seien
nach der versicherungsinternen Stellungnahme nicht erfüllt. Zudem seien die
nach dem Unfall geklagten Sensibilitätsstörungen bereits im Spital D.________
neurologisch untersucht worden. Es habe sich damals jedoch nach dem Bericht vom
1. September 2009 kein pathologischer Befund ergeben. Dr. med. K.________ habe
erstmals im Bericht des Medizinischen Zentrums M.________ vom 14. Mai 2012
ausgeführt, es sei nicht verständlich, dass keine CRPS-Therapie erfolgt sei.
Der von ihm später für die neurologische Untersuchung beigezogene Dr. med.
N.________, Neurologie FMH, habe in seinem Bericht vom 24. April 2013 jedoch
keine entsprechende Diagnose gestellt. 
 
7.   
In den echtzeitlichen Berichten fehlte es an Hinweisen dafür, dass
CRPS-typische Symptome innerhalb der praxisgemäss zu beachtenden Latenzzeit von
sechs bis acht Wochen nach dem Unfall vom 10. Juni 2008 aufgetreten wären.
Insbesondere auch aus diesem Grund schloss Frau Dr. med. I.________ eine
unfallkausale Nervenläsion beziehungsweise ein CRPS mit eingehender Begründung
aus. Demgegenüber empfahl Dr. med. K.________ zwar am 14. Mai 2012 die Therapie
eines CRPS, ohne dass diese Diagnose jedoch im entsprechenden Bericht über die
interdisziplinäre Beurteilung durch fünf Fachärzte des Medizinischen Zentrums
M.________ aufgeführt worden wäre. Gleiches gilt für den Bericht des Dr. med.
N.________ vom 24. April 2013. Frau Dr. med. L.________ listete in ihrem
Bericht vom 22. Mai 2015 bei den Diagnosen zwar ein CRPS II auf. Nähere
Erläuterungen zu dieser Diagnosestellung finden sich in ihrer Beurteilung
jedoch nicht. In den Berichten des Dr. med. K.________ vom 29. April 2015 und
der Frau Dr. med. L.________ vom 22. Mai 2015, auf die sich der
Beschwerdeführer beruft, finden sich zudem keine Angaben darüber, inwiefern die
Diagnose eines CRPS II die Ausübung einer leichten wechselbelastenden,
vorwiegend sitzenden Tätigkeit gemäss kreisärztlichem Zumutbarkeitsprofil nicht
zuliesse beziehungsweise eine höhere Integritätsentschädigung rechtfertigte.
Dass das kantonale Gericht in den Berichten der behandelnden Ärzte keine auch
nur geringen Zweifel an den eingehend begründeten versicherungsmedizinischen
Stellungnahmen der Frau Dr. med. I.________ zu erkennen vermochte, ist nicht zu
beanstanden. Es besteht kein Anspruch auf Einholung eines Gerichtsgutachtens,
woran die in der Beschwerde angerufene Verfahrensfairness und Waffengleichheit
unter den gegebenen Umständen nichts zu ändern vermögen. Eine weitere
Auseinandersetzung mit der Bedeutung der so genannten "Budapester Kriterien"
erübrigt sich. Damit hat es mit der vorinstanzlich bestätigten Zusprechung
einer Invalidenrente bei einer Erwerbsunfähigkeit von 32 Prozent sowie einer
Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 5 Prozent sein
Bewenden. 
 
8.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem
unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 27. März 2018 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo 

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