Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.666/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_666/2017  
 
 
Urteil vom 24. Mai 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin, 
Gerichtsschreiber Hochuli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Saskia Lieb, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 21. August 2017 (200 14 1098 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________, geboren 1965, arbeitete zuletzt seit 2004 mit einem 70%-Pensum als
Pflegefachfrau für die B.________. Ab 9. Mai 2011 blieb sie infolge
verschiedener Beschwerden voll arbeitsunfähig. Am 11. Oktober 2011 meldete sie
sich wegen seit 2001 bekannter psychischer Beschwerden mit anhaltender
Arbeitsunfähigkeit seit Mai 2011 bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Vom 28. Januar bis 21. März 2013 weilte sie zwecks
stationärer Behandlung einer rezidivierenden depressiven Störung (gegenwärtig
schwere Episode) in der Klinik C.________. Nach umfangreichen Abklärungen
sprach die IV-Stelle Bern der Versicherten für die Dauer vom 1. Mai 2012 bis
31. August 2013 bei einem Invaliditätsgrad von 70% eine befristete ganze
Invalidenrente zu. Ab dem Untersuchungszeitpunkt vom 7. Mai 2013 sei gestützt
auf das beweiskräftige bidisziplinäre (psychiatrisch-rheumatologische)
Gutachten der Dres. med. D.________ und E.________, vom 4. Juli 2013
(nachfolgend: bidisziplinäres Gutachten) von einer vollen Arbeitsfähigkeit in
der angestammten Tätigkeit als Pflegefachfrau (ohne körperlich starke
Belastungen) auszugehen. Deshalb sei die Rente auf einen Zeitpunkt drei Monate
nach der Exploration vom 7. Mai 2013 per 31. August 2013 zu befristen
(Verfügung vom 21. Oktober 2014). 
 
B.   
Dagegen beantragte A.________ beschwerdeweise, die IV-Stelle habe ihr unter
Aufhebung der Verfügung vom 21. Oktober 2014 die gesetzlichen Leistungen zu
erbringen. Zudem sei das bidisziplinäre Gutachten aus den Akten zu entfernen
und eine polydisziplinäre Begutachtung zu veranlassen. 
Mit Verfügung vom 21. April 2017 drohte das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
der Versicherten eine reformatio in peius an und gewährte ihr eine Frist zum
Beschwerderückzug. Nachdem A.________ an der Beschwerde festhielt, wies das
kantonale Gericht diese ab. Zudem hob es androhungsgemäss die Verfügung vom 21.
Oktober 2014 auf und verneinte auch für die Dauer der befristeten
Rentenzusprache einen Rentenanspruch (Entscheid vom 21. August 2017). 
 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ unter
Aufhebung des angefochtenen Gerichtsentscheids und der Verfügung vom 21.
Oktober 2014 beantragen, ihr seien die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen.
Eventuell sei die Sache zur neuen Abklärung und Beurteilung an die IV-Stelle,
subeventuell an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Während die IV-Stelle auf Beschwerdeabweisung schliesst, verzichten das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BAG) und die Vorinstanz auf eine
Vernehmlassung. Im Rahmen der Gewährung des rechtlichen Gehörs zu den während
der Rechtshängigkeit ergangenen Urteilen 8C_841/2016 und 8C_130/2017 vom 30.
November 2017 (BGE 143 V 409 und 418) halten die Parteien an ihren Standpunkten
fest. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen). 
 
2.   
Strittig ist, ob die Vorinstanz zu Recht einen Rentenanspruch verneint hat.
Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob das kantonale Gericht gestützt auf das
bidisziplinäre Gutachten bzw. die entsprechenden rheumatologischen und
psychiatrischen Teilgutachten vom 30. Juni und 1. Juli 2013 bundesrechtskonform
einen invalidisierenden Gesundheitsschaden ausgeschlossen hat. 
 
 
3.   
 
3.1. Die Beschwerdeführerin rügt, Verwaltung und Vorinstanz hätten bisher kein
strukturiertes Beweisverfahren im Sinne von BGE 141 V 281 durchgeführt. Ein
solches sei gemäss Praxisänderung nach BGE 143 V 418 bei allen psychischen
Erkrankungen unerlässlich. Die Sache sei deshalb zu ergänzenden Abklärungen und
Neuverfügung über das Leistungsgesuch vom 11. Oktober 2011 an die
Beschwerdegegnerin zurück zu weisen.  
 
3.2. Die IV-Stelle schliesst auf Beschwerdeabweisung und Bestätigung des
angefochtenen Entscheides. Auf das bidisziplinäre Gutachten sei abzustellen.
Die 30%-ige Einschränkung der Leistungsfähigkeit werde gemäss bidisziplinärem
Gutachten einzig mit einer Dysthymie (F34.1 nach ICD-10) und einer
posttraumatischen Verbitterungsstörung (keine ICD-10 konforme Diagnose)
begründet. Zudem hätten die Gutachter auf psychosoziale Belastungsfaktoren
hingewiesen. Die genannten ursächlichen Faktoren würden praxisgemäss keine
invalidisierende Einschränkung der Leistungsfähigkeit begründen, weshalb die
30%-ige Leistungsverminderung gemäss bidisziplinärem Gutachten nicht zu
berücksichtigen sei.  
 
4.  
 
4.1. Laut angefochtenem Entscheid, welcher noch vor der Praxisänderung gemäss
BGE 143 V 409 und 418 erging, liegt kein invalidisierender Gesundheitsschaden
vor. Nach vorinstanzlicher Sachverhaltsfeststellung ist hinsichtlich des
Gesundheitszustandes von den Diagnosen des bidisziplinären Gutachtens
auszugehen. Diesem komme volle Beweiskraft zu. Demnach leide die Versicherte
unter anderem an einer Dysthymia (F34.1), einer rezidivierenden depressiven
Störung, gegenwärtig mittelgradige depressive Episode (F33.1), einer
Hyperprolaktinämie (D44.3), einem chronisch-rezidivierenden zervikozephalen/
zervikobrachialen Schmerzsyndrom links sowie einem Status nach
Roux-Y-Magenbypass seit September 2006. Die Gutachter schätzten die dadurch
bedingte Einschränkung der Leistungsfähigkeit auf 30% und begrenzten die
Gültigkeit ihrer entsprechenden Einschätzung auf den Zeitraum ab Exploration
der Beschwerdeführerin am 7. Mai 2013.  
 
 
4.2. Das kantonale Gericht folgte der früheren Rechtsprechung (BGE 140 V 193 E.
3.3 S. 197 mit Hinweis; vgl. dazu auch BGE 143 V 409 E. 4.1 S. 412), wonach
depressive Störungen leicht- bis mittelgradiger Natur, seien sie im Auftreten
rezidivierend oder episodisch, einzig dann als invalidisierende Krankheiten in
Betracht fielen, wenn sie erwiesenermassen therapieresistent waren. Deshalb
verneinte es eine invalidenversicherungsrechtliche Relevanz der 30%-igen
Leistungsfähigkeitseinschränkung laut bidisziplinärem Gutachten. Obwohl die
Gutachter den Anteil psychosozialer Einflussfaktoren nicht quantifizierten und
der Psychiater Dr. med. F.________ vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) der
Invalidenversicherung in Bern gemäss Beurteilung vom 23. Januar 2014 immerhin
den mehrfachen, schwer depressiven Episoden (F33.2) eine Auswirkung auf die
Arbeitsfähigkeit beimass, verneinte die Vorinstanz eine invalidisierende
Gesundheitsstörung. Für den Zeitraum vor der gutachterlichen Exploration
verwies das kantonale Gericht ebenfalls auf das bidisziplinäre Gutachten,
wonach die ab Mai 2011 vollständige "Arbeitsunfähigkeit der Vergangenheit [...]
im Rahmen eines bio-psychischen Krankheitsmodells" attestiert worden und
folglich nicht relevant sei. Daher verneinte es durchgehend ab
Gesuchseinreichung - auch für die Dauer der befristeten Rentenzusprache vom 1.
Mai 2012 bis 31. August 2013 im Sinne der Verfügung der IV-Stelle vom 21.
Oktober 2014 - einen Rentenanspruch.  
 
4.3. Dem angefochtenen Entscheid sind keine verbindlichen Feststellungen zu den
Ursachen, dem Ausmass und dem Verlauf der ab Mai 2011 attestierten
Arbeitsunfähigkeit zu entnehmen. Auch die Gutachter Dres. med. D.________ und
E.________ haben sich rückblickend ab dem Zeitpunkt der Exploration im Mai 2013
nicht zuverlässig und nachvollziehbar dazu geäussert. Der Kardiologe Dr. med.
G.________, welcher am 27. November 2011 im Auftrag des zuständigen
Krankentaggeldversicherers zur Arbeitsfähigkeit Stellung zu nehmen hatte,
empfahl dringend, dass angesichts des "therapeutisch anspruchsvollen
Managements" ein Facharzt die Fallführung übernehmen sollte. Nach Aktenlage
steht fest, dass jedenfalls nicht nur psychische, sondern auch somatische
Beschwerden behandlungsbedürftig waren, wobei die medikamentösen
Behandlungsansätze wegen Unverträglichkeiten teilweise zu erheblichen - auch
psychosomatischen - Nebenwirkungen führten. Dass die von behandelnden Ärzten
zwischen Mai 2011 und der Exploration vom 7. Mai 2013 zahlreich attestierten
Arbeitsunfähigkeiten allesamt irrelevant gewesen wären, wie die Dres. med.
D.________ und E.________ im bidisziplinären Gutachten zum Ausdruck brachten,
ist offensichtlich unrichtig und aktenwidrig. So musste sich die Versicherte
nach der Magenbypassoperation 2006 unter anderem im Juni 2011 wegen
rezidivierenden zunehmenden Abdominalbeschwerden bei morbider Adipositas
stationär einer Koloskopie unterziehen. Auch die idiopathische
Hyperprolaktinämie erforderte umfangreiche - teils auch stationäre -
endokrinologische Abklärungen. Gleichzeitig musste sich die Beschwerdeführerin
wegen depressiver Störungen auch psychiatrisch - teilweise stationär -
behandeln lassen.  
 
4.4. Schlüssige medizinische Ausführungen, die eine zuverlässige und
nachvollziehbare Beurteilung der Arbeitsfähigkeit im nunmehr anzuwendenden
strukturierten Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 ab Mai 2011 erlauben würden,
liegen nicht vor. Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben und die Sache
an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie ein den Grundsätzen von BGE 141 V
281 entsprechendes polydisziplinäres Gutachten einhole, wobei auf die Fragen
nach Therapieerfolg bzw. -resistenz und nach invaliditätsfremden psychosozialen
und soziokulturellen Faktoren ein besonderes Augenmerk zu richten sein wird.
Gestützt auf dieses Gutachten wird sie in Berücksichtigung des gesundheitlichen
Verlaufs erneut über den Rentenanspruch verfügen.  
 
5.   
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung oder an die Vorinstanz zu erneuter
Abklärung (mit noch offenem Ausgang) gilt für die Frage der Auferlegung der
Gerichtskosten als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 sowie 
Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie beantragt oder ob das
entsprechende Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 141
V 281 E. 11.1 S. 312 mit Hinweisen). Damit wird die Beschwerdegegnerin im
vorliegenden Verfahren kostenpflichtig. Mithin hat sie die Gerichtskosten zu
tragen und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten. Diese
wird gemäss Honorarnote der Rechtsvertreterin auf Fr. 4'797.05 festgesetzt. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 21. August 2017 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 21.
Oktober 2014 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die
IV-Stelle Bern zurückgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 4'797.05 zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 24. Mai 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Hochuli 

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