Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.658/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_658/2017  
 
 
Urteil vom 23. Februar 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiberin Durizzo. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 28. Juli 2017 (IV 2015/353). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________, geboren 1952, war seit dem 14. Juli 2000 bei der B.________ AG
als Spritzlackierer beschäftigt. Am 24. Februar 2012 meldete er sich unter
Hinweis auf Fuss- und Rückenbeschwerden bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen holte Berichte der
behandelnden Ärzte sowie eine Stellungnahme des regionalen ärztlichen Dienstes
(RAD) ein und tätigte berufliche Abklärungen. Nach Wiedereingliederung beim
bisherigen Arbeitgeber in eine leidensangepasste Tätigkeit mit einem
50-Prozent-Pensum sprach sie A.________ mit Verfügung vom 24. März 2014 ab dem
1. Oktober 2012 eine halbe Invalidenrente zu.  
 
A.b. Am 15. Januar 2015 wurde die IV-Stelle von der Staatsanwaltschaft des
Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Gossau, darüber unterrichtet, dass
A.________ in einer Strafuntersuchung angegeben habe, neben seiner Tätigkeit
bei der B.________ AG einen Laden ("Shop C.________") zu betreiben und daraus
einen monatlichen Nettolohn von 500 bis 1000 Franken zu erzielen. Die IV-Stelle
tätigte weitere Abklärungen, holte einen Bericht des Hausarztes vom 12. Juni
2015 ein und lud A.________ zu einem Standortgespräch ein. Mit Verfügung vom 6.
Oktober 2015 hob sie die ursprüngliche Rentenverfügung vom 24. März 2014 auf
und wies das Rentengesuch ab.  
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 28. Juli 2017 gut und hob die Verfügung vom 6. Oktober
2015 auf. 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, es seien der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Verfügung
vom 6. Oktober 2015 zu bestätigen. 
A.________ lässt sinngemäss auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
D.   
Mit Verfügung vom 24. November 2017 hat die Instruktionsrichterin dem Gesuch
der IV-Stelle um aufschiebende Wirkung der Beschwerde stattgegeben. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Eine - für den
Ausgang des Verfahrens entscheidende (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) -
vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann das Bundesgericht nur berichtigen
oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die vorinstanzliche Aufhebung der Verfügung der
IV-Stelle mit der Begründung, dass die Voraussetzungen für eine prozessuale
Revision nicht erfüllt seien, vor Bundesrecht standhält. 
 
3.   
Gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG müssen formell rechtskräftige Verfügungen und
Einspracheentscheide in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person
oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen
entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war
(sogenannte prozessuale Revision). Nach Lehre und Rechtsprechung ist der
Sozialversicherungsträger verpflichtet, auf eine formell rechtskräftige
Verfügung zurückzukommen, wenn sich diese aufgrund neuentdeckter Tatsachen oder
Beweismittel als unrichtig erweist (BGE 143 V 105 E. 2.1 S. 106 f.; 108 V 167
E. 2b S. 168). Der Begriff "neue Tatsachen oder Beweismittel" ist bei der
prozessualen Revision eines Verwaltungsentscheides nach Art. 53 Abs. 1 ATSG
gleich auszulegen wie bei der Revision eines kantonalen Gerichtsentscheides
gemäss Art. 61 lit. i ATSG oder bei der Revision eines Bundesgerichtsurteils
gemäss Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG. Neu sind Tatsachen, die sich bis zum
Zeitpunkt, da im Hauptverfahren noch tatsächliche Vorbringen prozessual
zulässig waren, verwirklicht haben, jedoch trotz hinreichender Sorgfalt nicht
bekannt waren. Die neuen Tatsachen müssen ferner erheblich sein, das heisst,
sie müssen geeignet sein, die tatbestandliche Grundlage des zur Revision
beantragten Entscheids zu verändern und bei zutreffender rechtlicher Würdigung
zu einer andern Entscheidung zu führen (BGE 143 V 105 E. 2.3 S. 107 f.; SVR
2012 UV Nr. 17 S. 63, 8C_434/2011 E. 7.1). Betrifft der Revisionsgrund eine
materielle Anspruchsvoraussetzung, deren Beurteilung massgeblich auf Schätzung
oder Beweiswürdigung beruht, auf Elementen also, die notwendigerweise
Ermessenszüge aufweisen, so ist eine vorgebrachte neue Tatsache als solche in
der Regel nicht erheblich. Ein (prozessrechtlicher) Revisionsgrund fällt jedoch
dann in Betracht, wenn bereits im ursprünglichen Verfahren der untersuchende
Arzt und die entscheidende Behörde das Ermessen wegen eines neu erhobenen
Befundes zwingend anders hätten ausüben und infolgedessen zu einem anderen
Ergebnis hätten gelangen müssen (Urteil 8C_18/2013 vom 23. April 2013 E. 3.1). 
 
4.   
Das kantonale Gericht stellte fest, dass der Versicherte nebst seiner Tätigkeit
beim bisherigen Arbeitgeber mit einem 50-Prozent-Pensum entsprechend der
ärztlich attestieren Arbeitsfähigkeit seit Ende des Jahres 2013 ein eigenes
Handelsgeschäft betrieben habe. Nach seinen eigenen Angaben sei er in seinem
Geschäftslokal während rund 30 Stunden pro Woche anwesend gewesen. 
Eine prozessuale Revision gestützt auf Art. 53 Abs. 1 ATSG aufgrund dieser
Tatsachen erachtete die Vorinstanz indessen als ausgeschlossen. Sie ging davon
aus, dass die IV-Stelle davon vor Erlass ihrer ursprünglichen Rentenverfügung
hätte Kenntnis erlangen können, beispielsweise mittels einer Rückfrage beim
Versicherten. Zudem sei für die Bemessung der Invalidität in aller Regel nicht
massgebend, wie hoch das vom Versicherten effektiv erzielte Erwerbseinkommen
sei, sondern was er durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener
Arbeitsmarktlage verdienen könnte. Die Nebenerwerbstätigkeit habe für sich
gesehen den Invaliditätsgrad nicht beeinflussen können und sei daher für die
Beantwortung der Frage, ob die ursprüngliche leistungszusprechende Verfügung
vom 24. März 2014 an einem qualifizierten Mangel im Sinne des Art. 53 Abs. 1
ATSG gelitten habe, nicht massgeblich. Dass der Versicherte neben der vollen
Ausnutzung der damals von den behandelnden Ärzten und vom RAD übereinstimmend
attestierten 50-prozentigen Arbeitsfähigkeit zusätzlich noch ein
Handelsgeschäft betrieben habe und nach eigenen Angaben rund 30 Stunden pro
Woche in seinem Geschäftslokal anwesend gewesen sei, erachtete die Vorinstanz
zwar als starkes Indiz dafür, dass die der ursprünglichen Rentenverfügung
zugrunde liegende Arbeitsfähigkeitsschätzung auf 50 Prozent in einer
leidensangepassten Tätigkeit falsch gewesen sein könnte. Zur diesbezüglichen
Überprüfung wäre jedoch eine weitergehende medizinische Abklärung unabdingbar
gewesen. Selbst damit könne jedoch kein Revisionsgrund im Sinne des Art. 53
Abs. 1 ATSG gefunden werden, denn es handle sich dabei nicht um eine (sowohl
für den Verfügungsadressaten als auch die verfügende Behörde) "qualifiziert
neue" Tatsache. Es stehe der IV-Stelle frei, weitere medizinische Abklärungen
zu veranlassen und die ursprüngliche Rentenverfügung gestützt darauf allenfalls
nach Art. 53 Abs. 2 ATSG in Wiedererwägung zu ziehen. 
 
5.  
 
5.1. Die vorinstanzliche Schlussfolgerung, dass die Voraussetzungen für eine
prozessuale Revision nach Art. 53 Abs. 1 ATSG nicht erfüllt seien, obwohl die
der Rentenverfügung vom 24. März 2014 zugrunde liegende übereinstimmende
ärztliche Bescheinigung einer 50-prozentigen Arbeitsunfähigkeit unter
Berücksichtigung der subjektiven Angaben des Beschwerdeführers, er könne sein
Pensum nicht steigern, aber ohne Kenntnis der tatsächlich in beträchtlichem
Umfang ausgeübten Nebenerwerbstätigkeit erfolgt ist, erweist sich als
bundesrechtswidrig. Vorliegend beruhten die Einschätzungen der Arbeitsfähigkeit
auf einer falschen Tatsachengrundlage betreffend das ausgeübte und damit
zumutbare Tätigkeitsfeld. Die fehlende Kenntnis der Ärzte und der IV-Stelle
über die Tätigkeit des Beschwerdegegners in seinem Handelsgeschäft lässt die
ursprünglich getätigte - massgeblich von den subjektiven Schilderungen des
Versicherten geleitete - medizinische Einschätzung zur Restarbeitsfähigkeit als
erheblich mangelhaft erscheinen. Die Voraussetzungen für eine prozessuale
Revision im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG sind nach der bundesgerichtlichen
Praxis insbesondere dann gegeben, wenn dem Arzt beziehungsweise der IV-Stelle,
die auf seinen Bericht abstellt, eine vom Versicherten tatsächlich ausgeübte
Aktivität verborgen geblieben ist (Urteil 8C_18/2013 vom 23. April 2013 E.
3.1). Entgegen den vorinstanzlichen Präzisierungen zum angefochtenen Entscheid
in der Vernehmlassung ist nach dem klaren Wortlaut von Art. 53 Abs. 1 ATSG
nicht erforderlich, dass die neue Tatsache sowohl für die verfügende Behörde
als auch für den Verfügungsadressaten neu sein muss.  
Es stand der IV-Stelle daher nicht frei, die Arbeitsfähigkeit weiter abzuklären
und die Rentenverfügung gegebenenfalls gestützt auf Art. 53 Abs. 2 ATSG in
Wiedererwägung zu ziehen. Da die Verfügung vom 24. März 2014 wegen fehlender
Kenntnis auf einer falschen Tatsachengrundlage betreffend das ausgeübte
Arbeitspensum beruhte und diese neu entdeckte Tatsache geeignet ist, bei
zutreffender rechtlicher Würdigung zu einer andern Entscheidung zu führen, war
die IV-Stelle nach Art. 53 Abs. 1 ATSG vielmehr verpflichtet, sie einer
Revision zu unterziehen. Der Vorinstanz ist jedoch insoweit beizupflichten, als
die blosse Anwesenheit im Ladenlokal allein nicht auf die zumutbare (volle)
Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit schliessen lässt,
sondern dass dazu eine weitergehende medizinische Abklärung unabdingbar ist.
Die Sache ist zu diesem Zweck an die IV-Stelle zurückzuweisen. Gestützt darauf
wird sie über den Rentenanspruch neu zu befinden haben. 
 
5.2. Die übrigen Revisionsvoraussetzungen sind nicht streitig. Sie geben keinen
Anlass zu Weiterungen.  
 
6.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Rückweisung der Sache an
das kantonale Gericht oder an den Versicherungsträger zur erneuten Abklärung
(mit noch offenem Ausgang) gilt praxisgemäss für die Frage der Auferlegung der
Gerichtskosten als volles Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68
Abs. 1 und 2 BGG (BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235; Urteil 8C_715/2016 vom 6. März
2017 E. 6). Die Gerichtskosten werden daher dem unterliegenden Beschwerdegegner
auferlegt. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 28. Juli 2017 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 6. Oktober 2015 werden
aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
zurückgewiesen, damit sie über den Rentenanspruch ab dem 1. Oktober 2012 neu
verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 23. Februar 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo 

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