Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.64/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]            
8C_64/2017    {T 0/2}     

Urteil vom 27. April 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Bettina Umhang,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (vorinstanzliches Verfahren),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 25. November 2016.

Sachverhalt:

A. 

A.a. Die 1980 geborene A.________ meldete sich am 18. Oktober 2007 wegen Folgen
verschiedener Unfälle bei der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich
(IV-Stelle) zum Leistungsbezug an. Diese zog die Akten der zuständigen
Unfallversicherung bei. Unter anderem enthielten diese ein Gutachten des
Instituts für Interdisziplinäre Begutachtung vom 16. Juni 2009. Mit Verfügung
vom 22. Februar 2010 wies die IV-Stelle das Leistungsbegehren ab. Das mit
Beschwerde angerufene Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies diese
mit Entscheid vom 18. Oktober 2011 ab.

A.b. Am 23. Dezember 2011 meldete sich A.________ erneut bei der
Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle holte bei der Ärztliches
Begutachtungsinstitut GmbH (ABI) in Basel eine polydisziplinäre Expertise vom
10. Januar 2014 ein. Mit Verfügung vom 4. Februar 2015 wies sie das
Leistungsbegehren wiederum ab.

B. 
A.________ liess dagegen Beschwerde erheben und beantragen, die Verfügung sei
aufzuheben, es sei ihr eine ganze Rente der Invalidenversicherung auszurichten,
das Gutachten der ABI vom 10. Januar 2014 sei einer fachmedizinischen Expertise
zu unterziehen, eventuell sei ein Gerichtsgutachten einzuholen und, falls ihr
keine ganze Rente zugesprochen werden könne, sei eine mündliche
Gerichtsverhandlung mit einer Parteibefragung und der Einvernahme von Zeugen
durchzuführen. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die
Beschwerde mit Entscheid vom 25. November 2016 ab. Eine öffentliche Verhandlung
fand nicht statt.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei ihr eine ganze Rente
der Invalidenversicherung zuzusprechen. Eventuell sei die Sache mit dem
Auftrag, eine öffentliche Gerichtsverhandlung durchzuführen und die notwendigen
Beweise in Form einer Parteibefragung, Zeugenbefragungen und eines
Gerichtsgutachtens abzunehmen, an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die Vorinstanz und das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden.

2. 
Die Beschwerdeführerin rügt vorab, das kantonale Gericht habe Art. 6 Ziff. 1
EMRK verletzt, indem es trotz entsprechendem Antrag keine öffentliche
Gerichtsverhandlung durchführte.

3. 

3.1. Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache
in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem
unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das
über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die
Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden
hat. Die Öffentlichkeit des Verfahrens soll dazu beitragen, dass die Garantie
auf ein "faires Verfahren" tatsächlich umgesetzt wird (BGE 142 I 188).
Vorliegend sind zivilrechtliche Ansprüche im Sinne dieser Norm streitig (BGE
122 V 47 E. 2a S. 50). Das kantonale Gericht, welchem es primär obliegt, die
Öffentlichkeit der Verhandlung zu gewährleisten (BGE 136 I 279 E. 1 S. 281; 122
V 47 E. 3 S. 54), hat bei Vorliegen eines klaren und unmissverständlichen
Parteiantrages grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung durchzuführen (BGE
136 I 279 E. 1 S. 281; SVR 2014 UV Nr. 11 S. 37, 8C_273/2013 E. 1.2 mit
Hinweisen). Ein während des ordentlichen Schriftenwechsels gestellter Antrag
gilt dabei als rechtzeitig (BGE 134 I 331).

3.2. Von einer ausdrücklich beantragten öffentlichen Verhandlung kann dann
abgewichen werden, wenn der Antrag der Partei als schikanös erscheint oder auf
eine Verzögerungstaktik schliessen lässt und damit dem Grundsatz der
Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwiderläuft oder sogar
rechtsmissbräuchlich ist. Gleiches gilt, wenn sich ohne öffentliche Verhandlung
mit hinreichender Zuverlässigkeit erkennen lässt, dass eine Beschwerde
offensichtlich unbegründet oder unzulässig ist. Als weiteres Motiv für die
Verweigerung einer beantragten öffentlichen Verhandlung fällt die hohe
Technizität der zur Diskussion stehenden Materie in Betracht, was etwa auf rein
rechnerische, versicherungsmathematische oder buchhalterische Probleme
zutrifft, wogegen andere dem Sozialversicherungsrecht inhärente Fragestellungen
materiell- oder verfahrensrechtlicher Natur wie die Würdigung medizinischer
Gutachten in der Regel nicht darunterfallen. Schliesslich kann das kantonale
Gericht von einer öffentlichen Verhandlung absehen, wenn es auch ohne eine
solche aufgrund der Akten zum Schluss gelangt, dass dem materiellen
Rechtsbegehren der bezüglich der Verhandlung antragstellenden Partei zu
entsprechen ist (BGE 136 I 279 E. 1 S. 281 mit Hinweis auf BGE 122 V 47 E. 3b/
ee und 3b/ff. S. 57 f.).

4. 

4.1. Der Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung im Sinne der
EMRK wurde unbestrittenermassen rechtzeitig in der vorinstanzlichen
Beschwerdeschrift gestellt. Das kantonale Gericht entsprach diesem Begehren
nicht mit der Begründung, die Beschwerdeführerin habe diesen bloss
eventualiter, für den Fall, dass ihr keine ganze Rente zugesprochen werde,
gestellt. Damit fehle es an einem unmissverständlichen Antrag. Darüber hinaus
ergebe sich aus deren Ausführungen, dass es ihr um eine persönliche Anhörung
respektive um die Einvernahme von Zeugen gegangen sei. Damit habe bloss ein
Beweisantrag vorgelegen.

4.2. Von der beantragten öffentlichen Verhandlung hätte das Gericht nur bei
Vorliegen von in Erwägung 3.2 hievor genannten Gründen absehen dürfen. Dass ein
solcher Grund gegeben wäre, hat die Vorinstanz zu Recht nicht erwogen. Aus der
Formulierung des Rechtsbegehrens geht klar hervor, dass die Beschwerdeführerin
nur für den Fall, dass ihr Hauptantrag, die Zusprechung einer ganzen Rente,
gutgeheissen würde, auf die Verhandlung verzichten wollte. Damit liegt ein
klarer und unmissverständlicher Antrag vor. Dass dieser mit dem Zusatz, die
mündliche Gerichtsverhandlung sei mit einer Parteibefragung und
Zeugenbefragungen durchzuführen, versehen wurde, ändert daran nichts. Es liegt
entgegen den Erwägungen des kantonalen Gerichts gerade nicht "bloss", das
heisst ausschliesslich ein Beweisantrag vor. Vielmehr beantragte die
Versicherte eine Verhandlung "mit", das heisst zusätzlichen Befragungen. Es ist
daher nicht davon auszugehen, dass eine öffentliche Hauptverhandlung primär im
Hinblick lediglich auf eine Beweisabnahme angestrebt worden wäre, worauf der
Öffentlichkeitsgrundsatz tatsächlich keinen Anspruch einräumt (Urteil 8C_723/
2016 vom 30. März 2017 E. 3.2 mit Hinweisen). Hätte die Vorinstanz Zweifel an
der Ernsthaftigkeit des Antrages auf eine öffentliche Verhandlung gehabt, wäre
sie nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu einer entsprechenden
Rückfrage bei der Beschwerdeführerin gehalten gewesen (BGE 127 I 44 E. 2e/bb S.
48 und Urteil 2C_370/2010 vom 26. Oktober 2010 E. 2.7).

4.3. Es bestand somit für das kantonale Gericht keine Veranlassung und keine
Rechtfertigung, von der grundsätzlichen Verpflichtung zur Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung ausnahmsweise abzuweichen. Indem die Vorinstanz
dennoch auf eine solche verzichtet hat, wurde der in Art. 6 Ziff. 1 EMRK
gewährleisteten Verfahrensgarantie (vgl. auch Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 61
lit. a ATSG) nicht Rechnung getragen. Es ist daher unumgänglich, die Sache an
das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es diesen Verfahrensmangel behebt
und die von der Beschwerdeführerin verlangte öffentliche Verhandlung
durchführt. Danach wird es über die Beschwerde materiell neu befinden (vgl. BGE
136 I 279 E. 4 S. 284; SVR 2014 UV Nr. 11 S. 37; Urteil 8C_723/2016 vom 30.
März 2017 E. 3.3).

5. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Als unterliegende Partei hat
die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie
hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu entrichten
(Art. 68 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 25. November 2016 wird
aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 27. April 2017

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Schüpfer

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