Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.648/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_648/2017  
 
 
Urteil vom 2. März 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Viscione. 
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, vertreten durch Rechtsanwältin Pia Dennler-Hager, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin, 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Rentenaufhebung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich 
vom 28. Juni 2017 (IV.2016.00678). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________, geboren 1971, Staatsangehöriger von Bosnien-Herzegowina, reiste am
27. Februar 1994 in die Schweiz ein. In der Folge war er im Gastgewerbe tätig
(letzter effektiver Arbeitstag: 31. Oktober 2006). 1996 heiratete er und wurde
Vater von vier Kindern (geboren 1997, 1998, 2000 und 2002). Im Oktober 2007
meldete er sich wegen psychischer Beschwerden bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Gestützt auf das bidisziplinäre Gutachten (rheumatologisch,
psychiatrisch) des Medizinischen Zentrums Römerhof (MZR), Zürich, vom 14.
August 2009 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Zürich am 24. Dezember 2009 ab
1. Oktober 2007 eine ganze Invalidenrente samt Kinderrenten zu. 2011 wurde ihm
das Schweizer Bürgerrecht zuerkannt. 
Anlässlich der im August 2013 eingeleiteten Revision holte die IV-Stelle ein
polydisziplinäres Gutachten (internistisch, psychiatrisch, neuropsychologisch,
orthopädisch) vom 24. Oktober 2014 bei der MEDAS Bern ein. Am 9. Mai 2016 kam
die IV-Stelle wiedererwägungsweise auf ihre Verfügung vom 24. Dezember 2009
zurück und hob die Invalidenrente per Ende des der Zustellung der Verfügung
folgenden Monats auf. 
 
B.   
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 28. Juni 2017 ab. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, unter Aufhebung von Dispositivziffer 1 des kantonalen
Entscheids sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen; eventualiter sei ihm
unter Aufhebung von Dispositivziffer 1 des vorinstanzlichen Entscheids ab 1.
Juni 2016 eine Invalidenrente, subeventualiter eine Teilrente, samt
Kinderrenten zu gewähren. Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege. 
 
D.   
Im Nachgang zum Erlass der zur Publikation vorgesehenen Urteile 8C_130/2017 und
8C_841/2016 vom 30. November 2017 gewährte das Bundesgericht den Parteien das
rechtliche Gehör zur vorgenommenen Änderung der Rechtsprechung. A.________
äusserte sich mit Eingabe vom 30. Januar 2018. Die IV-Stelle verzichtete
gleichentags auf eine Stellungnahme und beantragte die Abweisung der
Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).  
 
1.2. Gemäss Art. 42 Abs. 1 BGG hat die Beschwerdeschrift die Begehren und deren
Begründung zu enthalten; im Rahmen der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht verletzt, das Grund (
Art. 95 ff. BGG) einer Beschwerde beim Bundesgericht bilden kann (Art. 42 Abs.
2 BGG; BGE 136 I 49 E. 1.4.1 S. 53). Aus der Beschwerdeschrift muss ersichtlich
sein, in welchen Punkten und weshalb der angefochtene Entscheid beanstandet
wird. Der blosse Hinweis auf frühere Rechtsschriften oder auf den angefochtenen
Entscheid genügt den Begründungsanforderungen nicht (BGE 134 I 303 E. 1.3 S.
306; 134 II 244 E. 2.1 S. 245; vgl. BGE 131 II 449 E. 1.3 S. 452; 123 V 335 E.
1a S. 336).  
 
1.3. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat; es kann die Sachverhaltsfeststellung der
Vorinstanz auf entsprechende Rüge hin oder von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den
Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 1
und 2 BGG). Offensichtlich unrichtig bedeutet dabei willkürlich (BGE 133 II 249
E. 1.2.2 S. 252). Sachverhaltsrügen unterliegen deshalb dem qualifizierten
Rügeprinzip (Art. 106 Abs. 2 BGG). Dazu genügt es nicht, einen von den
tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz abweichenden Sachverhalt zu
behaupten oder die eigene Beweiswürdigung zu erläutern (BGE 137 II 353 E. 5.1
S. 356). Dass die von der Vorinstanz gezogenen Schlüsse nicht mit der
Darstellung der beschwerdeführenden Partei übereinstimmen, belegt keine
Willkür. Auf ungenügend begründete Rügen oder bloss allgemein gehaltene
appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid geht das Bundesgericht nicht
ein (BGE 141 IV 249 E. 1.3.1 S. 253; 140 III 264 E. 2.3 S. 266 mit Hinweisen).
 
 
2.   
Streitig ist, ob die Vorinstanz zu Recht die wiedererwägungsweise Aufhebung der
Invalidenrente per Ende Juni 2016 bestätigt hat. 
 
3.   
Die Vorinstanz hat die massgebenden Bestimmungen und Grundsätze über den
Begriff der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG
), namentlich bei psychischen Gesundheitsschäden (BGE 141 V 281; 130 V 396; 127
V 294 E. 4c S. 298), die Rentenrevision (Art. 17 Abs. 1 ATSG) und die
Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG; Urteil 9C_768/2010 vom 10. November 2010
E. 2.1 und 2.2) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für die allgemeinen
beweisrechtlichen Anforderungen an einen ärztlichen Bericht (BGE 134 V 231 E.
5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352). Darauf wird verwiesen. 
 
4.  
 
4.1. Die Vorinstanz legt in E. 3.3 ihres Entscheids das MZR-Gutachten vom 14.
August 2009 und in E. 4.3 das MEDAS-Gutachten vom 24. Oktober 2014 zutreffend
dar. Unter Berufung auf die bei Rentenzusprache geltende Rechtsprechung zu den
posttraumatischen Belastungsstörungen bejahte es einen Wiedererwägungsgrund
nach Art. 53 Abs. 2 ATSG. Die psychiatrische MZR-Expertin habe es entgegen der
Rechtsprechung unberücksichtigt gelassen, dass die Beschwerden in Zusammenhang
mit der diagnostizierten posttraumatische Belastungsstörung erstmals 13 Jahre
nach dem Lageraufenthalt aufgetreten seien. Zudem habe die IV-Stelle die Frage
der Überwindbarkeit der Folgen der posttraumatischen Belastungsstörung nicht
geprüft und so mangels entsprechender Ausführungen im MZR-Gutachten den
massgebenden Sachverhalt nicht weiter abgeklärt, weshalb die Rentenzusprache im
Dezember 2009 auf ungenügenden Sachverhaltsfeststellungen beruhe. In der Folge
bescheinigte es dem MEDAS-Gutachten vom 24. Oktober 2014 volle Beweiskraft.
Daran würden auch die Berichte der behandelnden Ärzte der Zentrum B.________,
nichts ändern, und weitere Beweismassnahmen seien entbehrlich. Gestützt auf das
MEDAS-Gutachten vom 24. Oktober 2014 sei der Versicherte in seiner angestammten
Tätigkeit voll arbeitsfähig, weshalb ein Rentenanspruch für die Zukunft
ausscheide und die Verfügung der IV-Stelle vom 9. Mai 2016 zu bestätigen sei.  
 
4.2. Was der Versicherte dagegen vorbringt, vermag zu keinem anderen Ergebnis
zu führen.  
 
4.2.1. Im Zeitpunkt der rentenzusprechenden Verfügung vom 24. Dezember 2009
hielt die Rechtsprechung fest, eine posttraumatische Belastungsstörung müsse
sich innert sechs Monaten seit dem schwerwiegenden Trauma manifestieren
(Urteile 8C_103/2007 vom 17. August 2007 E. 3.3 und 9C_955/2008 vom 8. Mai 2009
E. 4.3.1; Urteile des damaligen Eidg. Versicherungsgerichts I 894/06 vom 16.
Oktober 2007 E. 4, I 203/06 vom 28. Dezember 2006 E. 4.3 und I 715/05 vom 27.
Januar 2006 E. 6.2; vgl. auch Urteil des damaligen Eidg. Versicherungsgerichts
I 270/06 vom 8. Juni 2007 E. 3.1) und eine Ausnahme von dieser Latenz von
höchstens sechs Monaten gelte nur, sofern die klinischen Merkmale typisch seien
und keine andere Diagnose gestellt werden könne (vgl. Urteil 8C_103/2007 vom
17. August 2007 E. 3.3 und Urteil des damaligen Eidg. Versicherungsgerichts I
715/05 vom 27. Januar 2006 E. 6.2). In E. 4.2 von BGE 142 V 342 führte das
Bundesgericht aus, in den dort zitierten früheren Entscheiden in Zusammenhang
mit posttraumatischen Belastungsstörungen sei verschiedentlich die
Anwendbarkeit der Überwindungskriterien bejaht worden.  
Die Zeit zwischen dem Aufenthalt im Kriegsgefangenenlager 1992/93 und der
psychischen Dekompensation nach Erhalt der Kündigung 2006 ist auffallend lang,
jedenfalls länger als die gemäss ICD-10 als Regel statuierten sechs Monate. Die
psychiatrische MZR-Gutachterin zog dennoch keine anderen Diagnosen in ihre
Beurteilung mit ein; so erwähnte sie zwar die von den behandelnden Ärzten in
ihren Berichten angeführten weiteren psychiatrischen Diagnosen (anhaltende
somatoforme Schmerzstörung [ICD-10: F 45.4]; mittelgradige depressive Episode
ohne somatisches Syndrom [ICD-10: F 32.10]), setzte sich aber nicht weiter
damit auseinander. Diese Unterlassung ist umso unverständlicher, klagte der
Versicherte doch anlässlich der orthopädischen Begutachtung über Kopfschmerzen
sowie Schmerzen an der Schläfe und der LWS, so dass die orthopädische
MZR-Gutachterin auf ein chronisches generalisiertes Schmerzsyndrom mit/bei
Fehlhaltung, diskreter Fehlstatik, myostatischer Insuffizienz, Status nach
thorakalem und lumbalem Morbus Scheuermann, ohne weiteres nachweisbares
pathologische-anatomisches Korrelat und am ehestem im Rahmen der
psychiatrischen Diagnose schloss. Somit erfüllt die Beurteilung der
psychiatrischen MZR-Gutachterin nicht die Anforderungen der damals geltenden
Rechtsprechung zur Diagnose einer erst lange nach dem schwerwiegenden Trauma
sich manifestierenden posttraumatischen Belastungsstörung. Die Vorinstanz ist
demnach im Ergebnis zu Recht von einem unzureichend abgeklärten Sachverhalt
ausgegangen und hat ebenfalls zu Recht einen Wiedererwägungsgrund nach Art. 53
Abs. 2 ATSG bejaht. Bei diesem Ergebnis braucht nicht weiter geklärt zu werden,
ob die fehlende Beurteilung der Überwindungskriterien allein ausgereicht hätte,
um eine Wiedererwägung zu rechtfertigen. 
 
4.2.2. Was die Einwände des Versicherten gegen die vorinstanzliche Prüfung
seines Rentenanspruchs per Ende Juni 2016 gestützt auf das MEDAS-Gutachten vom
24. Oktober 2014 betrifft, erschöpfen sich diese weitgehend in appellatorischer
Kritik, auf welche das Bundesgericht grundsätzlich nicht eingeht (vgl. E. 1.3).
Wo der Versicherte an eine Aussage im vorinstanzlichen Entscheid anknüpft, legt
er nicht dar, inwiefern und welche bundesrechtlichen Normen verletzt sein
sollen (vgl. E. 1.2). Ebenso wenig vermögen seine Beanstandungen des
MEDAS-Gutachtens den Anforderungen der Rügepflicht nach BGG zu genügen, da er
auch hier nicht ausführt, inwiefern der kantonale Entscheid Bundesrecht
verletzen soll (vgl. E. 1.2). Bezüglich der vorinstanzlichen
Sachverhaltsfeststellungen (z.B. volle zumutbare Arbeitsfähigkeit in der
angestammten Tätigkeit gemäss MEDAS-Gutachten) wird in der Beschwerde nicht
rechtsgenüglich dargelegt, weshalb diese willkürlich sein sollen (vgl. E. 1.3).
 
 
4.2.3. Abschliessend bleibt festzuhalten, dass angesichts der rechtsgenüglich
erhobenen Rügen und der somit zu beurteilenden Fragen die geänderte
Rechtsprechung zu den psychischen Gesundheitsschäden (in der Amtlichen Sammlung
noch nicht publizierte Urteile 8C_130/2017 und 8C_841/2016 vom 30. November
2017) keinen Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens hat.  
 
5.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Der unterliegende Versicherte hat die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Infolge Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG) werden diese jedoch
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen und seiner Anwältin wird eine
Entschädigung aus der Gerichtskasse bezahlt. Der Versicherte hat jedoch Ersatz
zu leisten, wenn er später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwältin Pia Dennler-Hager wird als unentgeltliche Anwältin bestellt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 2. März 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Riedi Hunold 

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