Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.594/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_594/2017  
 
 
Urteil vom 14. Februar 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiberin Berger Götz. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, vertreten durch Rechtsanwältin Regula Aeschlimann Wirz, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (falsche Unfallmeldung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 4. Juli 2017 (5V
16 178). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1992 geborene A.________ war seit 9. Juni 2014 als temporäre
Betriebsmitarbeiterin bei der B.________ SA angestellt und in dieser
Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) gegen die
Folgen von Unfällen versichert. Gemäss Schadenmeldung UVG vom 10. Oktober 2014
löste sich im Einsatzbetrieb C.________ AG während des Bedienens einer Maschine
ein Teil, welches auf A.________ gefallen sei und sie eingeklemmt habe. Die
Suva erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Nach Abklärung der genauen Umstände
des gemeldeten Ereignisses stellte sie mit Verfügung vom 13. Oktober 2015 fest,
der von A.________ geschilderte Unfallhergang treffe nicht zu, weshalb ein
Anspruch auf Versicherungsleistungen nicht bestehe und die bereits
ausgerichteten Leistungen in der Höhe von Fr. 12'485.55 zurückgefordert werden
müssten. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 20.
April 2016). 
 
B.   
Das Kantonsgericht Luzern wies die dagegen erhobene Beschwerde ab (Entscheid
vom 4. Juli 2017). 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, die Suva sei zu verpflichten, die gesetzlichen Leistungen zu
bezahlen, insbesondere Taggelder auszurichten und die Heilbehandlungskosten zu
übernehmen. 
Das Bundesgericht hat die vorinstanzlichen Akten eingeholt. Ein
Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).  
 
1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). Im vorliegenden Fall fordert die Suva
Taggelder und Kosten für die Heilbehandlung zurück. Bei den Taggeldern geht es
um eine Geldleistung und bei der Heilbehandlung um eine Sachleistung der
Unfallversicherung. Rechtsprechungsgemäss prüft das Bundesgericht den
Sachverhalt bei einer derartigen Konstellation frei, soweit er für beide
Rechtsverhältnisse erheblich ist. Die eingeschränkte Kognition gilt in solchen
Fällen nur, soweit Tatsachen ausschliesslich die Sachleistung betreffen (SVR
2017 UV Nr. 40 S. 138, 8C_43/2017 E. 1.1.2).  
 
2.  
 
2.1. Der Versicherer kann gemäss Art. 46 Abs. 2 UVG jede Leistung um die Hälfte
kürzen, wenn ihm der Unfall oder der Tod infolge unentschuldbarer Versäumnis
des Versicherten oder seiner Hinterlassenen nicht binnen dreier Monate gemeldet
worden ist; er kann die Leistung verweigern, wenn ihm absichtlich eine falsche
Unfallmeldung erstattet worden ist.  
 
2.2. Unrechtmässig bezogene Leistungen sind in Anwendung von Art. 25 Abs. 1
ATSG zurückzuerstatten. Wer Leistungen in gutem Glauben empfangen hat, muss sie
nicht zurückerstatten, wenn eine grosse Härte vorliegt.  
 
3.  
 
3.1. Die Beschwerdeführerin präzisierte am 31. Oktober 2014 zum Unfallereignis
vom 18. September 2014 auf Anfrage der Suva, die "Maschine" sei ihr auf den
Rücken gefallen und sie sei 20 Minuten eingeklemmt gewesen. Anlässlich der
Besprechung vom 12. Dezember 2014 bei ihr zuhause - und mit Hilfe des Ehemannes
als Übersetzer - gab sie zu Protokoll, dass sich bei der Arbeit plötzlich ein
Teil der 100 kg schweren "Anlage" gelöst habe und ihr auf den "oberen Rücken -
Schulter - Nacken" geprallt sei. Zum Glück sei die Anlage an einem
Mauervorsprung angestanden, ansonsten sie erdrückt worden wäre. Sie sei rund 20
Minuten eingeklemmt gewesen und habe grosse Angst gehabt, da sie schwanger
gewesen sei. Sofort seien Schmerzen im Bereich der rechten Schulter und des
oberen Rückens aufgetreten, wo sich auch ein Bluterguss gebildet habe. Zudem
habe sie einen Schock erlitten und am ganzen Körper gezittert. Der
Einsatzbetrieb erklärte am 5. Januar 2015, die auf Rädern montierte
Paniermaschine habe sich selbstständig bewegt, da die Bremse vermutlich nicht
korrekt angezogen gewesen sei. Ein Rad der Maschine sei in den offenen Schacht
gefallen, worauf sie gegen einen Betonpfosten gekippt sei. Die
Beschwerdeführerin habe sich in diesem Moment an der am Betonpfosten montierten
Waschstation die Hände gewaschen, habe sich dann aber rechtzeitig in Sicherheit
gebracht und sei von der Maschine weder getroffen noch gestreift worden.
Anlässlich der Besprechungen im Einsatzbetrieb vom 26. Februar 2015 und 20.
März 2015 mit der Beschwerdeführerin und weiteren Mitarbeiterinnen, welche das
Umkippen der Paniermaschine selber beobachtet hatten, bestätigte sich diese
Version. Die Versicherte hielt dennoch weiterhin an ihrer Unfallschilderung
fest und räumte lediglich ein, dass sie nicht wisse, ob sie 10, 20 oder 30
Minuten eingeklemmt gewesen sei - sicher seien es mehrere Minuten gewesen,
bevor sie mit dem Stapler befreit worden sei.  
 
3.2. Nach eingehender Abwägung aller Angaben der befragten Personen und unter
Einbezug der medizinischen Akten gelangte das kantonale Gericht zum Schluss,
dass die Paniermaschine zwar tatsächlich ins Rollen gekommen und an dem
Betonpfosten, wo sich das Waschbecken befinde, aufgeschlagen sei. Dieses
Ereignis habe jedoch keinerlei Personenschaden verursacht. Es sei daher
angesichts der von der Beschwerdeführerin divergent gemachten Aussagen von
einer absichtlich falschen Unfallmeldung im Sinne von Art. 46 Abs. 2 UVG
auszugehen. Die Suva habe ihre Leistungen folglich zu Recht verweigert.  
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerdeführerin relativierte die Schwere des von ihr behaupteten
Unfalls schon im vorinstanzlichen Verfahren im Wesentlichen mit der Erklärung,
das von ihr bzw. ihrem übersetzenden Ehemann verwendete Wort "eingeklemmt" sei
in dem Sinne zu verstehen, dass sie den Arbeitsplatz während einer gewissen
Zeit nicht habe verlassen können. Sie vermutet, von einem "Aufsatz" der
Paniermaschine gestreift worden zu sein, der ihr dann auch den Weg versperrt
habe, als sie den Platz habe verlassen wollen. Auf die Aussage einer
Mitarbeiterin, welche den Ablauf beobachtet und ausgesagt habe, die
Beschwerdeführerin habe sich sicher nicht verletzt, sei nicht abzustellen, da
diese sicherlich eine äusserlich sichtbare Verletzung gemeint habe. Innerliche,
nicht blutende Verletzungen hätten von den Arbeitskolleginnen und -kollegen
wohl nicht wahrgenommen werden können. Zudem sei für die Erfüllung des
Unfallbegriffs keine körperliche Verletzung notwendig. Auch eine geistige oder
psychische Gesundheitsschädigung reiche aus. Die Vorinstanz bestreite eine
solche fälschlicherweise unter Hinweis auf den erstbehandelnden Arzt, welcher
eine solche nicht diagnostiziert habe. Der Ablauf und die Aussagen der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zeige aber klar, dass ein aussergewöhnliches
Schreckereignis, verbunden mit einem entsprechenden psychischen Schock,
vorliege.  
 
4.2. Die Beschwerdeführerin übersieht bei ihrer Argumentation, dass nicht nur
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern auch der beigezogene Arzt Dr.
med. D.________, Facharzt für Allgemeinmedizin FMH, am 18. September 2014 keine
Verletzung bei der Beschwerdeführerin feststellen konnten. Die Kontusion
"HWS-BWS Übergang und LWS" diagnostizierte Dr. med. D.________ im Arztzeugnis
vom 27. Oktober 2014 einzig aufgrund der Schmerzangaben der Versicherten. Eine
Ursache der geklagten Schmerzen und Schlafstörungen liess sich auch in der
Folge, insbesondere bei vollständig unauffälligem MRI-Befund der HWS vom 22.
Dezember 2014 und "ohne erfassbare Komplikationen" (Bericht des Dr. med.
E.________, Facharzt für Allgemeinmedizin FMH, vom 2. März 2015), nicht finden.
Soweit sich die Beschwerdeführerin auf den Standpunkt stellt, auch ohne
körperliche Verletzung sei ein Unfall im Sinne eines Schreckereignisses
anzunehmen, ist zu betonen, dass die Ungewöhnlichkeit als Begriffsmerkmal des
Unfalls gemäss Art. 4 ATSG nur bei aussergewöhnlichen Schreckereignissen, die
mit einem ausserordentlichen psychischen Schock verbunden sind, erfüllt ist
(RUMO-JUNGO/HOLZER, Bundesgesetz über die Unfallversicherung [UVG], 4. Aufl.
2012, S. 46). Die seelische Einwirkung muss durch einen gewaltsamen, in der
unmittelbaren Gegenwart der versicherten Person sich abspielenden Vorfall
ausgelöst werden und in ihrer überraschenden Heftigkeit geeignet sein, auch bei
einem gesunden Menschen durch Störung des seelischen Gleichgewichts typische
Angst- und Schreckwirkungen (wie Lähmungen, Herzschlag etc.) hervorzurufen. In
Frage kommen Ereignisse wie etwa Brand- oder Erdbebenkatastrophen, Eisenbahn-
oder Flugzeugunglücke, schwere Autokollisionen, Brückeneinstürze,
Bombenabwürfe, verbrecherische Überfälle oder sonstige plötzliche Todesgefahren
sowie Seebeben, bei denen, anders als im Rahmen der üblichen Unfälle, die
psychische Stresssituation im Vordergrund steht, wogegen dem somatischen
Geschehen keine (entscheidende) Bedeutung beigemessen werden kann. An den
Beweis der Tatsachen, die das Schreckereignis ausgelöst haben, an die
Aussergewöhnlichkeit dieses Ereignisses sowie den entsprechenden psychischen
Schock sind strenge Anforderungen zu stellen (SVR 2016 UV Nr. 11 S. 33, 8C_412/
2015 E. 2.1). In casu stellt das unkontrollierte Rollen und Umkippen der
Paniermaschine in unmittelbarer Nähe der Beschwerdeführerin zweifellos kein
solches Schreckereignis dar.  
 
4.3. Die Versicherte ist wiederholt von der Suva gebeten worden, das Ereignis
vom 18. September 2014 zu beschreiben. Sie hielt nicht nur gegenüber ihrem
Arzt, sondern auch noch nach Konfrontation mit den abweichenden Schilderungen
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an ihrer dramatischen Version fest, wonach
sie von der Maschine oder einem Maschinenteil eingeklemmt worden sei und erst
nach rund 20 Minuten habe "hervorgezogen" werden können, nachdem das
Maschinenteil mit dem Stapler angehoben worden sei. Entgegen ihrer Ansicht ist
ein - wiederholter - unbeabsichtigt falscher Gebrauch des Wortes "Einklemmen"
auch nach mehrmaligem Nachfragen durch die Versicherung nicht plausibel. Es ist
mit der Vorinstanz von einer absichtlich falschen Unfallmeldung auszugehen. Die
Suva hätte folglich die Leistungen gemäss Art. 46 Abs. 2 UVG verweigern können.
Da sie die Falschmeldung erst mittels ihrer Abklärungen entdeckte, kam die
Beschwerdeführerin zwischenzeitlich unrechtmässig in den Genuss von
Versicherungsleistungen. Sie hat diese in Anwendung von Art. 46 Abs. 2 UVG und 
Art. 25 Abs. 1 ATSG zurückzuerstatten.  
 
5.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die Gerichtskosten werden ausgangsgemäss der
unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 14. Februar 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz 

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