Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.58/2017
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_58/2017         

Urteil vom 9. Juni 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Fritz Dahinden,
Beschwerdeführerin,

gegen

AXA Versicherungen AG,
General Guisan-Strasse 40, 8400 Winterthur,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung
(Heilbehandlung; Taggeld; Kausalzusammenhang),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 20. Dezember 2016.

Sachverhalt:

A. 
Die 1978 geborene A.________ ist als Ärztin im Zentrums B.________ bei der AXA
Versicherungen AG (nachfolgend AXA) obligatorisch unfallversichert. Am 12.
April 2014 prallte ein nachfolgendes Fahrzeug ins Heck des von ihr gelenkten
Autos. Gleichentags begab sie sich ins Spital C.__________, das im Bericht vom
17. April 2014 eine Distorsion der Halswirbelsäule (HWS) Grad II
diagnostizierte. Die AXA kam für die Heilbehandlung und das Taggeld auf. Mit
Verfügung vom 16. Dezember 2014 stellte sie die Leistungen per Ende Oktober
2014 ein. Die Einsprache der Versicherten wies sie mit Entscheid vom 29. April
2015 ab.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 20. Dezember 2016 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei die AXA zu
verpflichten, ihr die gesetzlichen Heilbehandlungen und Taggelder zu gewähren;
eventuell sei die Sache zur Beweisergänzung und/oder Neubeurteilung an die
Vorinstanz, subeventuell an die AXA zurückzuweisen.
Die AXA schliesst auf Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

1.2. Zu prüfen ist die Rechtmässigkeit der Einstellung der
Versicherungsleistungen in Form von Heilbehandlung und Taggeld - und damit von
Sach- und Geldleistungen (Art. 14 f. ATSG) - durch die AXA per Ende Oktober
2014. Das Bundesgericht prüft den Sachverhalt bei einer derartigen
Konstellation frei, soweit er für beide Rechtsverhältnisse erheblich ist, und
stützt sich für die rechtlichen Schlüsse auf die eigenen Feststellungen. Die
eingeschränkte Kognition (gemäss Art. 97 Abs. 1 sowie Art. 105 Abs. 1 und 2
BGG) gilt in solchen Fällen nur, soweit Tatsachen ausschliesslich die
Sachleistung betreffen (SVR 2014 UV Nr. 32 S. 106, 8C_834/2013 E. 2.2.2). Dies
ist hier nicht der Fall.

2. 
Das kantonale Gericht hat die rechtlichen Grundlagen des für die
Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers (Art. 6 UVG)
erforderlichen natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen dem
Unfall und dem Gesundheitsschaden, insbesondere bei Folgen eines Unfalls mit
Schleudertrauma der HWS oder äquivalenter Verletzung ohne organisch
nachweisbare Funktionsausfälle (BGE 134 V 109), richtig dargelegt. Gleiches
gilt betreffend die Voraussetzungen für den Wegfall der unfallbedingten
Ursachen eines Gesundheitsschadens bei Erreichen des Zustands, wie er vor dem
Unfall oder ohne diesen bestanden hätte (Status quo sine vel ante; SVR 2016 UV
Nr. 18 S. 55, 8C_331/2015 E. 2.1.1), den Fallabschluss (Art. 19 Abs. 1 UVG; BGE
134 V 109 E. 4 S. 113 ff.) und den massgebenden Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 138 V 218 E. 6 S. 221). Darauf wird verwiesen.

3. 
Das kantonale Gericht erwog, unstrittig wäre die mittels Arztzeugnis
ausgewiesene Erhöhung der Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin von 70 % bei
Fallabschluss am 31. Oktober 2014 auf 100 % am 22. (richtig 20.) Juli 2015 als
namhafte Besserung des Gesundheitszustands zu qualifizieren. Umstritten und zu
prüfen sei indessen, ob die 30%ige Arbeitsunfähigkeit bei Fallabschluss als
(teil-) unfallbedingt einzustufen sei. Nur diesfalls führe die namhafte
Besserung des Gesundheitszustands dazu, dass die AXA den Fall nicht hätte
abschliessen dürfen. Die Prüfung der adäquaten Unfallkausalität des Leidens der
Beschwerdeführerin habe nach der Schleudertraumapraxis zu erfolgen.
Offenbleiben könne, ob der Unfall vom 12. April 2014 als leicht oder als
mittelschwer im Grenzbereich zu den leichten Unfällen zu qualifizieren sei.
Denn auch bei einem leichten Unfall sei die Adäquanz zu prüfen, wenn er - wie
hier - unmittelbare Unfallfolgen zeitige, die sich nicht als offensichtlich
unfallunabhängig erwiesen (vgl. BGE 129 V 402 E. 4.4.2 S. 408; RKUV 1998 Nr. U
297 S. 243 E. 3b). Von den sieben Adäquanzkriterien nach BGE 134 V 109 E. 10.3
S. 130 seien lediglich zwei erfüllt, nämlich erhebliche Beschwerden und
erhebliche Arbeitsunfähigkeit trotz ausgewiesener Anstrengungen. Da sie nicht
besonders ausgeprägt erfüllt seien, sei die Adäquanz per 31. Oktober 2014 zu
verneinen, weshalb die AXA die Leistungen zu Recht eingestellt habe. Somit
könne offenbleiben, ob und wie lange die natürliche Unfallkausalität der
Beschwerden gegeben sei.

4.

4.1. Praxisgemäss ist die Adäquanz nach der Schleudertraumapraxis erst in jenem
Zeitpunkt zu prüfen, in dem von der Fortsetzung der auf das
Schleudertrauma-Beschwerdebild - dessen psychische und physische Komponenten
nicht leicht zu differenzieren sind - gerichteten ärztlichen Behandlung keine
namhafte Besserung mehr zu erwarten ist (BGE 134 V 109 4.3 S. 115 und E. 6.2 S.
116 f.; Urteil 8C_170/2015 vom 29. September 2015 E. 5.2). Ergibt die in diesem
Zeitpunkt vorgenommene Adäquanzprüfung, dass ein allfällig bestehender
natürlicher Kausalzusammenhang nicht adäquat und damit nicht rechtsgenüglich
wäre, ist die Frage, ob der natürliche Kausalzusammenhang tatsächlich besteht,
nicht entscheidrelevant. Anders ist lediglich in jenen Fällen zu entscheiden,
in denen der Sachverhalt für eine einwandfreie Adäquanzprüfung nicht
hinreichend abgeklärt ist (BGE 135 V 465 E. 5.1 S. 472).
Allerdings ist es der Verwaltung und im Beschwerdefall dem Gericht unbenommen,
vorgängig die natürliche Unfallkausalität des Gesundheitsschadens zu klären.
Ist sie zu verneinen, hat die Leistungseinstellung zu erfolgen, ohne dass
geprüft werden muss, ob durch eine Fortsetzung der ärztlichen Behandlung noch
eine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes hätte erreicht werden können
(Urteil 8C_636/2016 vom 16. November 2016 E. 6 mit Hinweisen).

4.2. Im Lichte dieser Rechtsprechung ist fraglich, ob das Vorgehen der
Vorinstanz - eine behandlungsbedingte namhafte Besserung des
Gesundheitszustandes zu bejahen, gleichzeitig aber in Verneinung der
Unfalladäquanz der geklagten Beschwerden und unter Offenlassung der Frage der
natürlichen Unfallkausalität derselben den Fallabschluss per 31. Oktober 2014
zu bestätigen (E. 3 hiervor) - rechtskonform ist. Dies kann indessen
offenbleiben, wie sich aus Folgendem ergibt.

5. 
Vor dem hier im Streit liegenden Unfall vom 12. April 2014 verunfallte die
Beschwerdeführerin am 25. Dezember 2010 auf einer Rutsche und schlug sich den
Kopf rechts an. Als Folge davon beklagte sie vorwiegend Nacken- und
Kopfschmerzen sowie Schwindel. Die Untersuchung war neurologisch unauffällig
und die HWS-Rotation war frei, jedoch mit zervikalen Dysfunktionen. Der Verlauf
gestaltete sich zeitweise sehr gut, aber immer wieder mit Rezidiven. Die
Versicherte war deswegen in ärztlicher und physiotherapeutischer Behandlung,
welche im Mai 2012 abgeschlossen wurde. Im Sommer 2012 traten erneut zervikale
Beschwerden auf, die zu einer Physiotherapie bis September 2012 führten.

6.

6.1. Beim hier in Frage stehenden Unfall vom 12. April 2014 erlitt die
Beschwerdeführerin gemäss dem Bericht des Spitals C.________ vom 17. April 2014
eine HWS-Distorsion Grad II. Organisch-strukturelle Unfallfolgen wurden durch
die getätigten bildgebenden Untersuchungen ausgeschlossen. Die Unfallanalyse
des Dipl.-Automobil Ing. FH D.________ vom 17. Juni 2014 ergab eine
kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (Delta-v) des Autos der
Beschwerdeführerin durch den Heckaufprall von 2.4 bis 4.7 km/h. Gemäss der
Reparaturkalkulation wurde an ihrem Fahrzeug die hintere Stossfängerabdeckung
lackiert; es wurden keine Teile ersetzt. Unter diesen Umständen lag eine
Kollision von geringer Intensität vor.

6.2. Eine unfalltechnische oder biomechanische Analyse vermag Anhaltspunkte zur
- einzig mit Blick auf die Adäquanzprüfung relevanten - Schwere des
Unfallereignisses zu liefern; Überlegungen zur Auffahrgeschwindigkeit und der
dabei auf das Fahrzeug der versicherten Person übertragenen Energie bilden
jedoch keine hinreichende Grundlage für die Beurteilung der natürlichen
Kausalität. Denn selbst bei scheinbar harmlosen Auffahrunfällen kann aus
medizinischer Sicht nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass eine für
die Gesundheitsbeeinträchtigung ursächliche HWS-Verletzung vorliegt (RKUV 2003
Nr. U 489 S. 359, U 193/01 E. 3.2). Daraus darf indes nicht abgeleitet werden,
die Heftigkeit des Aufpralls sei im Zusammenhang mit der Klärung der
natürlichen Kausalität bedeutungslos. Vielmehr kann eine geringfügige
Auffahrgeschwindigkeit und damit Gewalteinwirkung auf den menschlichen Körper
durchaus ausschlaggebend dafür sein, dass konkurrierende unfallfremde Ursachen
mit überwiegender Wahrscheinlichkeit allein verantwortlich für das
Beschwerdebild zeichnen (Urteil U 264/04 vom 16. Juni 2005 E. 3.4).

6.3. Praxisgemäss muss der Beweis des Wegfalls des natürlichen
Kausalzusammenhangs nicht durch den Nachweis unfallfremder Gründe erbracht
werden. Entscheidend ist allein, ob unfallbedingte Ursachen des
Gesundheitsschadens dahingefallen sind (SVR 2008 UV Nr. 11 34, U 290/06 E. 3.3;
Urteil 8C_570/2014 vom 9. März 2015 E. 6.2). Ein solcher Schluss kann sich im
Falle von ätiologisch unspezifischen Beschwerden sowie einer
Ursachenkonkurrenz, umgekehrt aber auch aus der Dominanz unfallfremder Gründe
in Verbindung mit der fraglichen Eignung des Unfallereignisses, dauernde
Schädigungen zu erzeugen, ergeben (Urteil U 264/04 E. 3.5).
Dies trifft hier zu. Denn Dr. med. E.________, Allgemeine Innere Medizin,
Vertrauensarzt der AXA, hat in der Aktenstellungnahme vom 24. November 2014
eingehend und schlüssig dargelegt, weshalb die Beschwerdesymptomatik der
Versicherten aufgrund der gegebenen Umstände spätestens sechs Monate nach dem
Unfall vom 12. April 2014 nicht mehr natürlich unfallkausal auf dieses hier in
Frage stehende Ereignis zurückzuführen war. Seine Beurteilung erfüllt die
Beweisanforderungen an eine medizinische Aktenstellungnahme (vgl. SVR 2010 UV
Nr. 17 S. 63, 8C_239/2008 E. 7.2; RKUV 1993 Nr. U 167 S. 95 E. 5d).
Gegenteiliges wird auch in der Beschwerde nicht geltend gemacht. Insbesondere
liegen keine Arztberichte vor, die hieran auch nur geringe Zweifel zu begründen
vermöchten (siehe BGE 139 V 225 E. 5.2 S. 229). Da von weiteren medizinischen
Abklärungen keine entscheidrelevanten Ergebnisse zu erwarten waren, durfte
darauf verzichtet werden. Dies verstösst weder gegen den Untersuchungsgrundsatz
(Art. 61 lit. c ATSG) noch gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör bzw. auf
Beweisabnahme (Art. 29 Abs. 2 BV; antizipierte Beweiswürdigung; BGE 136 I 229
E. 5.3 S. 236; Urteil 8C_741/2016 vom 3. März 2017 E. 7.6). Demnach ist die vom
kantonalen Gericht bestätigte Leistungseinstellung durch die AXA per Ende
Oktober 2014 im Ergebnis rechtens.

7. 
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1
BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. Juni 2017
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Jancar

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben