Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.588/2017
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_588/2017  
 
 
Urteil vom 22. Dezember 2017  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Wirthlin, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Beat Rohrer, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente, Wiedererwägung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 19. Juli 2017 (VBE.2016.610). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Mit Verfügungen vom 22. Mai 2000 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau
der 1973 geborenen A.________ ab 1. Dezember 1996 eine ganze und ab 1. April
1998 eine halbe Invalidenrente zu. Ab 1. Januar 2004 gewährte ihr die IV-Stelle
eine Dreiviertelsrente (Verfügung vom 20. Dezember 2004). Im Rahmen dieser
Verfügungen ermittelte die IV-Stelle den Invaliditätsgrad jeweils nach der
allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs. 2011 und 2013 gebar die
Versicherte ihre beiden Töchter. Mit Verfügung vom 6. März 2015 hob die
IV-Stelle die Rente auf Ende des auf die Verfügungszustellung folgenden Monats
revisionsweise auf, da der Invaliditätsgrad nur noch 25 % betrage. Sie
ermittelte diesen anhand der gemischten Methode mit Anteilen von 40 % Erwerb
und 60 % Haushalt. Die dagegen geführte Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit unangefochten gebliebenem Entscheid
vom 28. Oktober 2015 ab.  
 
A.b. Mit Schreiben an die IV-Stelle vom 12. August 2016 beantragte die
Versicherte, die Verfügung vom 6. März 2015 sei wiedererwägungsweise aufzuheben
und ihr sei die per Ende April 2015 eingestellte Invalidenrente weiterhin, d.h.
ab Mai 2015 und in Zukunft auszurichten. Sie berief sich auf das Urteil der
zweiten Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Di
Trizio gegen die Schweiz vom 2. Februar 2016 (7186/09). Gemäss diesem Urteil
verletzte die Anwendung der gemischten Invaliditätsbemessungsmethode in der
Invalidenversicherung bei einer Versicherten, welche ohne gesundheitliche
Einschränkungen nach der Geburt ihrer Kinder nur noch teilzeitlich erwerbstätig
gewesen wäre und deshalb im Rentenrevisionsverfahren ihren Anspruch auf eine
Invalidenrente verlor, Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit 
Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens). Mit Schreiben
vom 1. September 2016 lehnte die IV-Stelle eine Wiedererwägung ab, da kein
Rechtsanspruch hierauf bestehe. Hieran hielt sie mit Schreiben vom 21.
September 2016 fest.  
 
B.   
Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 19. Juli 2017 ab, soweit es darauf eintrat. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei die IV-Stelle zu
verpflichten, auf ihr Wiedererwägungsgesuch vom 12. August 2016 betreffend
Wiederausrichtung der per Ende April 2015 eingestellten Invalidenrente ab Mai
2015 einzutreten und einen anfechtbaren Entscheid in der Sache zu erlassen. 
Ein Schriftenwechsel wurde nicht angeordnet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen). 
 
2.   
Strittig und zu prüfen ist, ob das vom kantonalen Gericht geschützte
Nichteintreten der IV-Stelle vom 21. September 2016 auf das
Wiedererwägungsgesuch der Beschwerdeführerin vom 12. August 2016 vor
Bundesrecht standhält. 
 
2.1. Der Versicherungsträger kann auf formell rechtskräftige Verfügungen oder
Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und
wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 ATSG).
Diese sogenannte "Wiedererwägung" ist in das Ermessen des Versicherungsträgers
gelegt. Er kann hierzu weder von der betroffenen Person noch vom Gericht
verhalten werden. Es besteht mithin kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch
auf Wiedererwägung (BGE 133 V 50 E. 4.1 S. 52, E. 4.2.1 S. 54 und E. 4.3 S.
56). Die Verwaltung hat der versicherten Person das Nichteintreten nach
summarischer Prüfung in einfacher Briefform ohne Rechtsmittelbelehrung und in
der Regel ohne eingehende Begründung mitzuteilen. Auf eine Beschwerde gegen ein
Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch kann das Gericht nicht eintreten
(SVR 2008 IV Nr. 54 S. 179, I 896/06 E. 3.1 f. und E. 4.1; Urteil 8C_210/2017
vom 22. August 2017 E. 8.2).  
 
2.2. Das kantonale Gericht hat im Wesentlichen erwogen, es bestehe kein
Anspruch auf Wiedererwägung, weshalb es die Verwaltung dazu auch nicht
verhalten könne. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung BGE 136 II 177, wonach
von Verfassungs wegen ein Minimalanspruch auf Eintreten auf ein
Wiedererwägungsgesuch bestehe, sei im Bereich des Sozialversicherungsrechts
nicht anwendbar. Auch aus der Rechtsprechung BGE 135 V 201 betreffend Anpassung
einer Verfügung an geänderte Rechtsgrundlagen könne die Beschwerdeführerin
nichts zu ihren Gunsten ableiten. Denn vom EGMR-Urteil Di Trizio gegen die
Schweiz vom 2. Februar 2016 (vgl. Sachverhalt lit. A.b hiervor) sei eine
Vielzahl von versicherten Personen auch in teilweise weit zurückliegenden
Verfahren betroffen.  
 
3.  
 
3.1. Zu beachten ist, dass Verfügungen nur in Wiedererwägung gezogen werden
können, wenn sie nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung waren (
Art. 53 Abs. 3 ATSG; BGE 138 V 147 E. 2.1 S. 148 f., 119 V 233 E. 4 S. 235; SVR
1995 IV Nr. 60 S. 171 E. 3b; Urteile 9C_671/2015 vom 3. Mai 2016 E. 4 und U 22/
07 vom 6. September 2007 E. 3.2). Die strittige Verfügung vom 6. März 2015
wurde jedoch mit Entscheid des Versicherungsgerichts vom 28. Oktober 2015
überprüft und bestätigt. Eine Wiedererwägung derselben seitens der Verwaltung
kommt deshalb schon aus diesem Grund nicht in Frage.  
 
3.2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, gemäss § 39 Abs. 2 des
Verwaltungsrechtspflegegesetzes des Kantons Aargau (VRPG; SAR 271.200) sei eine
Wiedererwägung auch möglich, wenn ein Rechtsmittelentscheid vorliege. Zuständig
sei auch diesfalls die erstinstanzliche Behörde (vgl. Botschaft des
Regierungsrats des Kantons Aargau an den Grossen Rat vom 14. Februar 2007).
Entsprechendes habe ebenso im Bereich des ATSG zu gelten. Denn der Wortlauf von
Art. 53 Abs. 2 ATSG differenziere nicht danach, ob die formelle Rechtskraft
einer Verfügung eingetreten sei, weil der Adressat auf ein Rechtsmittel
verzichtet habe, die Rechtsmittelfrist unbenutzt abgelaufen sei, kein
Rechtsmittel habe erhoben werden können oder die letzte Instanz in der Sache
entschieden habe.  
Diese Einwände sind nicht stichhaltig. Wurde die Verfügung nämlich - wie hier -
gerichtlich überprüft (vgl. E. 3.1 hiervor), trat der kantonale
Gerichtsentscheid an ihre Stelle und ersetzte sie (sog. Devolutiveffekt; vgl.
BGE 136 V 2 E. 2.5 S. 5, 134 II 142 E. 1.4 S. 144; Urteile 8C_466/2017 vom 9.
November 2017 E. 2.2 und 9C_405/2017 vom 3. August 2017 E. 3.2). Folglich liegt
es nicht mehr in der Kompetenz der IV-Stelle, die Verfügung vom 6. März 2015in
Wiedererwägung zu ziehen. Diese bundesrechtliche Ordnung kann entgegen der
Beschwerdeführerin nicht von einer anderslautenden kantonalen Regelung ausser
Kraft gesetzt werden. 
 
4.  
 
4.1. Soweit die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf die Verurteilung der
Schweiz durch den EGMR in Sachen Di Trizio ein Rückkommen auf die Verfügung vom
6. März 2015 begründen will, zielt sie nicht auf eine Wiedererwägung nach Art.
53 ATSG ab, die ihrerseits auf Fälle anfänglicher rechtlicher Unrichtigkeit
zugeschnitten ist. Hier geht es vielmehr um eine nachträgliche rechtliche
Unrichtigkeit zufolge geänderter Rechtslage, hier gründend im besagten
EGMR-Urteil, was gesetzlich nicht geregelt ist (vgl. BGE 135 V 201 E. 5.1 S.
205, 127 V 10 E. 4 S. 13 f.). Ob die Verwaltung in dieser Konstellation zufolge
fehlender Identität (in rechtlicher Hinsicht) mit der seinerzeit gerichtlich
überprüften Verwaltungsverfügung zu einer neuerlichen Prüfung befugt bzw. gar
gehalten gewesen wäre (vgl. KIENER / RÜTSCHE / KUHN, Öffentliches
Verfahrensrecht, 2. Aufl. 2015, N. 1289, 2019), kann letztlich offen bleiben,
wie folgende Erwägungen zeigen.  
 
4.2.  
 
4.2.1. Mit der Vorinstanz ist festzuhalten, dass eine Anpassung einer
ursprünglich fehlerfreien Verfügung an eine neue, gerichtlich bestätigte
Verwaltungspraxis oder an eine neue Rechtsprechung nur ausnahmsweise
vorzunehmen ist. Dies trifft zu, wenn die neue Praxis in einem solchen Masse
allgemeine Verbreitung erfährt, dass ihre Nichtbefolgung als Verstoss gegen das
Gleichheitsgebot erschiene, insbesondere wenn die alte Praxis nur in Bezug auf
eine einzige versicherte Person oder eine geringe Zahl von Versicherten
beibehalten würde. Ein solches Vorgehen drängt sich namentlich dann auf, wenn
das Festhalten an der ursprünglichen Verfügung aus Sicht der neuen Rechtspraxis
schlechterdings nicht mehr vertretbar ist und diese eine so allgemeine
Verbreitung findet, dass ihre Nichtbeachtung in einem einzelnen Fall als dessen
stossende Privilegierung (oder Diskriminierung) und als Verletzung des
Gleichbehandlungsgebots erscheint (BGE 135 V 201 E. 6.1.1 S. 205 f. mit
Hinweisen). Die Rechtsprechung durchbricht den Grundsatz, wonach eine
Praxisänderung keine Änderung formell rechtskräftiger Verfügungen über eine
Dauerleistung rechtfertigt, kaum je in Bezug auf Anpassungen zu Ungunsten der
Versicherten. Wo eine derartige Herabsetzung vorgenommen wurde, betonte das
Bundesgericht, es handle sich - angesichts des der früheren Praxis zugrunde
liegenden sachfremden Kriteriums - um eine Ausnahmesituation, welche eine
besondere Lösung erfordere. Zu Gunsten der Versicherten liess das Gericht
demgegenüber in einzelnen Fällen eine Anpassung unter weniger strengen
Voraussetzungen zu. Letztlich hat eine wertende Abwägung der betroffenen
Interessen zu erfolgen (BGE 141 V 585 E. 5.2 S. 587, 135 V 201 E. 6.1.2 f. S.
206 f., je mit Hinweisen).  
 
4.2.2. Das kantonale Gericht hat richtig erkannt, dass von der Praxis
betreffend die gemischte Methode der Invaliditätsbemessung eine Vielzahl von
versicherten Personen auch in teilweise weit zurückliegenden Verfahren
betroffen ist. Zudem kann die gemischte Methode sowohl zur Bejahung als auch
zur Verneinung eines Rentenanspruchs führen. Im Weiteren bleibt sie in gewissen
Konstellationen auch nach dem EGMR-Urteil Di Trizio weiterhin anwendbar (hierzu
vgl. BGE 143 I 50 E. 4.4 S. 60) und ist somit nicht schlechterdings unhaltbar.
Entgegen der Beschwerdeführerin bestehen somit vorliegend insgesamt keine
Gründe, vom Prinzip der Nichtanpassung einer Verfügung an eine geänderte
Rechtsprechung abzuweichen (vgl. auch BGE 141 V 585 E. 5.3 S. 588).  
 
5.   
Aufmerksam zu machen ist die Beschwerdeführerin immerhin auf die am 1. Dezember
2017 beschlossene Änderung der IVV (in Kraft ab 1. Januar 2018; vgl. AS 2017
7581 f.). Deren Übergangsbestimmung (Ziff. II Abs. 2) ermöglicht bei der vor
Inkrafttreten dieser Änderung erfolgten Verweigerung einer Rente wegen eines zu
geringen Invaliditätsgrades einer teilerwerbstätigen Person mit zusätzlichem
Aufgabenbereich (Art. 7 Abs. 2 IVG) die Prüfung der Neuanmeldung, wenn die
Berechnung des Invaliditätsgrades nach Artikel 27 ^bis Abs. 2 - 4
voraussichtlich zu einem Rentenanspruch führt.  
 
6.   
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1
BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 22. Dezember 2017 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar 

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben