Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.569/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_569/2017  
 
 
Urteil vom 20. März 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, 
nebenamtlicher Bundesrichter Brunner, 
Gerichtsschreiberin Polla. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Biedermann, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 26. Juni 2017 (200 16 973 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1965 geborene A.________ meldete sich am 1. September 2014 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Bern
tätigte Abklärungen in erwerblicher und medizinischer Hinsicht, wobei sie
insbesondere bei der Medizinischen Abklärungsstelle Bern, ZVMB GmbH (im
Folgenden MEDAS) ein polydisziplinäres Gutachten einholte, welches am 23. Mai
2016 erstattet wurde. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren verfügte die
IV-Stelle am 13. September 2016 die Abweisung des Leistungsbegehrens. 
 
B.   
Die dagegen gerichtete Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
nach Einholung eines psychiatrischen Gutachtens bei Frau Dr. med. B.________,
FMH Psychiatrie und Psychotherapie, vom 9. März 2017, mit Entscheid vom 26.
Juni 2017 ab. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 26. Juni
2017 sei aufzuheben und der Invaliditätsgrad auf 100 % festzulegen.
Eventualiter sei die Angelegenheit zu neuer Beurteilung an die IV-Stelle
zurückzuweisen. 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
 
1.1. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG sind neue Tatsachen und Beweismittel (Noven) im
letztinstanzlichen Verfahren grundsätzlich unzulässig. Die Beschwerdeführerin
legt eine Bestätigung der behandelnden Fachärztin vom 31. August 2017 ins
Recht. Diese hat aufgrund des absoluten Verbots, im Beschwerdeverfahren vor
Bundesgericht echte Noven beizubringen, unbeachtlich zu bleiben (BGE 140 V 543
E. 3.2.2.2 S. 548; 139 III 120 E. 3.1.2 S. 123).  
 
2.   
 
2.1. Die Vorinstanz hat die für die Beurteilung der Streitsache massgeblichen
materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen gemäss Gesetz und Rechtsprechung
zutreffend dargelegt. Dies betrifft namentlich die Bestimmungen und Grundsätze
zum Begriff der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1
IVG), zur Aufgabe der Arztperson bei der Invaliditätsbemessung (BGE 140 V 193
E. 3.2 S. 195 f.; 132 V 93 E. 4 S. 99 f.) sowie zum Beweiswert und zur
Beweiswürdigung medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S.
232; 125 V 351 E. 3 S. 352 ff. mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.  
 
2.2. Das Gericht weicht bei Gerichtsgutachten nicht ohne zwingende Gründe von
der Einschätzung der medizinischen Experten ab, deren Aufgabe es ist, ihre
Fachkenntnisse der Gerichtsbarkeit zur Verfügung zu stellen, um einen
bestimmten Sachverhalt medizinisch zu erfassen. Ein Grund zum Abweichen kann
vorliegen, wenn die Gerichtsexpertise widersprüchlich ist oder wenn ein vom
Gericht eingeholtes Obergutachten in überzeugender Weise zu anderen
Schlussfolgerungen gelangt. Eine divergierende Beurteilung kann ferner
gerechtfertigt sein, wenn gegensätzliche Meinungsäusserungen anderer
Fachexperten dem Gericht als triftig genug erscheinen, die Schlüssigkeit des
Gerichtsgutachtens in Frage zu stellen, sei es, dass es die Überprüfung durch
einen Oberexperten für angezeigt hält, sei es, dass es ohne Oberexpertise vom
Ergebnis des Gerichtsgutachtens abweichende Schlussfolgerungen zieht (BGE 125 V
351 E. 3b/aa S. 352 f. mit Hinweis; SVR 2015 UV Nr. 4 S. 13, 8C_159/2014 E.
3.2; Urteil 9C_278/2016 vom 22. Juli 2016 E. 3.2.3).  
 
2.3. Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um
Entscheidungen über eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.), welche das
Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat (E. 1). Die konkrete
Beweiswürdigung stellt ebenfalls eine Tatfrage dar. Dagegen ist die Beachtung
des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln Rechtsfrage (BGE
132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil I 865/06 vom 12. Oktober 2007 E. 4
mit Hinweisen), die das Bundesgericht im Rahmen der den Parteien obliegenden
Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE
133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei überprüfen kann (Art. 106 Abs. 1 BGG
).  
 
3.   
 
3.1. Das kantonale Gericht gelangte im Wesentlichen gestützt auf das
MEDAS-Gutachten, das auch die medizinische Grundlage der Verfügung der
Beschwerdegegnerin vom 13. September 2016 bildete, zum Ergebnis, dass bei der
Versicherten keine Diagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit vorliege
und demnach sowohl die zuletzt ausgeübte ausserhäusliche Erwerbstätigkeit wie
auch Tätigkeiten im Haushalt uneingeschränkt zumutbar seien. Es wies
insbesondere darauf hin, dass der psychiatrische Experte der MEDAS eine
deutliche Aggravation festgestellt und im Zeitpunkt der Begutachtung eine
depressive Störung mit Sicherheit ausgeschlossen habe; eine nicht authentische
Symptompräsentation bzw. ein aggravatorisches Verhalten habe zudem auch der
neurologische MEDAS-Gutachter festgehalten. Im Weitern verneinte die
Vorinstanz, den Darlegungen im MEDAS-Gutachten folgend, das Vorliegen einer
posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).  
 
3.2. Die Beschwerdeführerin macht demgegenüber geltend, der vorinstanzliche
Entscheid beruhe auf einem unvollständigen resp. qualifiziert falsch erhobenen
Sachverhalt. Die Vorinstanz verhalte sich zudem krass widersprüchlich, wenn sie
ein Gerichtsgutachten anordne, weil das der rentenablehnenden Verfügung
zugrunde liegende MEDAS-Gutachten nicht überzeuge, dann aber doch auf letzteres
abstelle. Dies sei umso bemerkenswerter, als das Gerichtsgutachten die
Feststellungen der behandelnden Ärzte seit dem Jahre 2004 bestätige. In
Übereinstimmung mit diesen käme die Gerichtsgutachterin zum Schluss, dass die
Beschwerdeführerin an einer im Untersuchungszeitpunkt schweren depressiven
Störung mit somatischem Syndrom mit psychotischen Anteilen und einer komplexen
PTBS sowie an einer Somatisierungsstörung leide; es sei nicht überwiegend
wahrscheinlich, dass sich alle involvierten ärztlichen Fachleute und die
Gerichtsgutachterin bezüglich dieser Diagnosen getäuscht hätten bzw. durch die
Versicherte getäuscht worden seien. Die Vorinstanz nehme eine unhaltbare, der
gesamten medizinischen Aktenlage nicht gerecht werdende Beweiswürdigung vor,
indem sie entgegen den Resultaten fundierter Abklärungen bei stationären
Klinikaufenthalten eine PTBS verneine. Schliesslich setze sich das kantonale
Gericht mit keinem Wort mit der angeblich nicht schlüssigen Beurteilung des von
ihm angeordneten Gerichtsgutachtens auseinander, was eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs darstelle.  
 
4.  
 
4.1. Das kantonale Gericht ist den Ergebnissen des Gerichtgutachtens nicht nur
hinsichtlich der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit nicht gefolgt, es ist auch
von den Befunden und Diagnosen im Gerichtsgutachten deutlich abgewichen. Dies
begründete es einzig damit, dass die Ausführungen im MEDAS-Gutachten mehr
überzeugten, weshalb triftige Gründe für ein Abweichen vom Gerichtsgutachten
bestünden.  
 
4.2. Mit der Beschwerdeführerin unterlässt es das kantonale Gericht
aufzuzeigen, inwiefern das MEDAS-Gutachten stichhaltiger sein soll als das
Gutachten der Frau Dr. med. B.________, insbesondere begründet es nicht,
weshalb es diesem jeglichen Beweiswert absprach. Ein diesbezüglicher
Erklärungsbedarf wäre im vorliegenden Fall aber umso mehr gegeben gewesen, als
das kantonale Gericht    vom Gerichtsgutachten gestützt auf fachärztliche
Meinungen und die MEDAS-Expertise abwich, die vor diesem ergingen und zu denen
die Gerichtsgutachterin kritisch Stellung genommen hatte. Zur vom
psychiatrischen und neurologischen Gutachter der MEDAS festgestellten
Aggravation führte die Gerichtsgutachterin dementsprechend aus,
Gegenübertragungsphänomene, die bei aggravierendem oder simulierendem Verhalten
auftreten würden (z.B Amüsiertheit, wenn allzu grotesk inszeniert würde, oder
auch das Gefühl von Unglaubwürdigsein), seien nicht vorgekommen. In der
Stellungnahme zur Frage nach Verdeutlichung, Aggravation oder Simulation hielt
die Expertin weiter fest, die Explorandin habe entsprechend ihren Möglichkeiten
unter Aufbringung grosser Überwindung kooperiert; Aggravation oder Simulation
könne sie weitgehend ausschliessen. Diesen divergierenden Ausführungen über
eine ausgewiesene Aggravation liegen auch unterschiedliche Befunde und
Diagnosen zugrunde, wobei ärztlicherseits Uneinigkeit darin bestand, ob eine
PTBS und ein depressives Leiden zu diagnostizieren seien. Während alle
behandelnden Ärzte und Ärztinnen ebenso wie die Gerichtsgutachterin eine PTBS
und eine depressive Störung bejahten, verneinten die MEDAS-Gutachter beide
Diagnosen. Mit diesen gegensätzlichen medizinischen Darlegungen setzte sich die
Vorinstanz nicht auseinander. Sie beschränkte sich vielmehr darauf, die
Ausführungen der MEDAS-Gutachter als überzeugend zu erklären. Eine eigene
Beweiswürdigung nahm sie nur insofern vor, als sie einen Widerspruch in den
Akten hinsichtlich des Zeitpunktes der Kriegstraumatisierung - 1998 bzw. 2001 -
erwähnte; daraus lässt sich aber wenig für die Beantwortung der Frage ableiten,
ob die Versicherte im Verfügungszeitpunkt (13. September 2016) an einer
invalidisierenden Krankheit litt.  
 
4.3. Die Rechtsprechung sieht im Falle des Abweichens von einem
Gerichtsgutachten vor, dass eine ergänzende medizinische Abklärung in Form
eines Obergutachtens erfolgt, es sei denn, die Sache könne aufgrund der
vorhandenen medizinischen Unterlagen entschieden werden (vgl. oben E. 2.2).
Letztere Voraussetzung ist vorliegend angesichts der diskrepanten
Einschätzungen nicht nur der Arbeitsfähigkeit, sondern vor allem auch des
Gesundheitszustands und des Verhaltens der Versicherten (fragliche Aggravation)
nicht gegeben. Das kantonale Gericht durfte bei dieser unklaren Aktenlage
aufgrund der widersprüchlichen Gutachten nicht einfach die Expertise der MEDAS
als alleinige Entscheidungsgrundlage heranziehen, zumal es sich nicht in einer
einlässlichen, überzeugenden Beweiswürdigung zu den divergierenden
Einschätzungen der medizinischen Gutachter äusserte und darlegte, weshalb es
dem MEDAS-Gutachten schlussendlich Beweiskraft beimass und dem
Gerichtsgutachten nicht. Wie die Beschwerdeführerin richtig darlegt, wäre das
kantonale Gericht bei dieser Sach- und Rechtslage vielmehr gehalten gewesen,
ein psychiatrisches Obergutachten einzuholen. Indem es dies unterliess und
einem zuvor als nicht beweiskräftig erachteten Gutachten ohne einleuchtende
Begründung im Entscheid vollen Beweiswert zusprach, missachtete es die
bundesrechtlichen Beweiswürdigungsregeln und den Untersuchungsgrundsatz. Das
kantonale Gericht wird mittels eines nach den Grundsätzen von BGE 141 V 281
erstellten Obergutachtens den medizinischen Sachverhalt hinsichtlich Art und
Ausmass des Gesundheitsschadens, Vorliegen einer allfälligen Aggravation und
Arbeitsfähigkeit ergänzend abzuklären und gestützt darauf über den
Leistungsanspruch neu zu entscheiden haben. Unter den gegebenen Umständen kann
offen bleiben, ob das kantonale Gericht auch das rechtliche Gehör verletzt hat.
 
 
 
5.   
Die Rückweisung der Sache zu erneuter Abklärung gilt für die Frage der
Auferlegung der Gerichtskosten sowie der Parteientschädigung als vollständiges
Obsiegen im Sinn von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (Art. 68 Abs.
2 BGG; BGE 141 V 281 E. 11.1 S. 312). Mithin hat die unterliegende IV-Stelle
die Gerichtskosten zu tragen und der Beschwerdeführerin eine
Parteientschädigung auszurichten. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
vom 26. Juni 2017 wird aufgehoben. Die Sache wird zu ergänzender Abklärung und
neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 20. März 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Polla 

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