Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.430/2017
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_430/2017  
 
 
Urteil vom 19. Dezember 2017  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiber Nabold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Suva, Abteilung Militärversicherung, Laupenstrasse 11, 3008 Bern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
1.       Unfallversicherung Stadt Zürich, 
       Stadelhoferstrasse 33, 8001 Zürich, 
2.       A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Cristina Schiavi, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Militärversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Kantonsgerichts Luzern 
vom 28. April 2017 (5V 16 508/5V 17 27). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1973 geborene A.________ erlitt in den Jahren 1991 und 1992 bei vier
verschiedenen "Jugend+Sport (J+S) "-Anlässen je ein Distorsionstrauma am
rechten Knie. Die Militärversicherung übernahm die gesetzlichen Leistungen,
insbesondere kam sie für die Kosten einer am 28. Oktober 1992 durchgeführten
Knieoperation auf. 
Am 16. April 2013 erlitt A.________ mit dem Roller einen Unfall; die
Unfallversicherung der Stadt Zürich anerkannte ihre Leistungspflicht für die
Folgen dieses Ereignisses und erbrachte die gesetzlichen Leistungen, stellte
diese jedoch per 17. Oktober 2013 ein. Daraufhin lehnte auch die Suva,
Abteilung Militärversicherung, mit Verfügung vom 5. Juni 2015 und
Einspracheentscheid vom 8. Dezember 2016 ihre Haftung für die persistierenden
rechtsseitigen Kniebeschwerden des A.________ ab. 
 
B.   
Die von der Unfallversicherung der Stadt Zürich und von A.________ hiegegen
erhobenen Beschwerden hiess das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 28.
April 2017 gut, hob den angefochtenen Einspracheentscheid auf und verpflichtete
die Suva, Abteilung Militärversicherung, für die rechtsseitigen Kniebeschwerden
von A.________ die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. 
 
C.   
Mit Beschwerde beantragt die Suva, Abteilung Militärversicherung, es sei unter
Bestätigung des Einsprache- und Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides
festzustellen, dass sie nicht leistungspflichtig für die rechtsseitigen
Kniebeschwerden des A.________ sei. 
Während A.________ und die Unfallversicherung der Stadt Zürich auf Abweisung
der Beschwerde schliessen, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine
Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).  
 
1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).  
 
2.  
 
2.1. Wird die Gesundheitsschädigung erst nach Schluss des Dienstes durch einen
Arzt, Zahnarzt oder Chiropraktor festgestellt und bei der Militärversicherung
angemeldet oder werden Spätfolgen oder Rückfälle geltend gemacht, so haftet die
Militärversicherung gemäss Art. 6 des Bundesgesetzes über die
Militärversicherung vom 19. Juni 1992 (MVG; SR 833.1) nur, wenn die
Gesundheitsschädigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit während des Dienstes
verursacht oder verschlimmert worden ist oder wenn es sich mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit um Spätfolgen oder Rückfälle einer versicherten
Gesundheitsschädigung handelt.  
 
2.2.  
 
2.2.1. Nach Art. 1 Abs. 1 Ziff. 2 des Bundesgesetzes über die
Militärversicherung vom 20. September 1949 in der ab 1. Juli 1972 geltenden
Fassung (AS 1949 1671, 1956 759, 1959 303, 1964 253, 1968 563, 1972 897 Art. 15
Ziff. I) war nach diesem Gesetz versichert, wer an J+S teilnahm, wenn und
soweit diese Institution durch Beschluss des Bundesrates der
Militärversicherung unterstellt war. Art. 3 der Verordnung über die
Militärversicherung vom 20. März 1964 in der ab 1. Januar 1984 geltenden
Fassung (AS 1983 1826) bestimmte unter anderem, dass Teilnehmer an J+S dann
versichert waren, wenn vorher Datum, Dauer und Ort der Kurse, Übungen und
Prüfungen dem kantonalen Amt für Jugend und Sport, bzw. der Eidgenössischen
Turn- und Sportschule gemeldet worden waren.  
 
2.2.2. Das Bundesgesetz über die Militärversicherung vom 20. September 1949
wurde auf den 1. Januar 1994 durch das grundsätzlich bis heute geltende neue
MVG abgelöst. In seiner ursprünglichen Version sah dieses neue Gesetz in Art. 1
Abs. 1 lit. g Ziff. 6 vor, dass versichert war, wer an Veranstaltungen der
Institution J+S teilnimmt. War eine Gesundheitsschädigung nach altem Recht
nicht versichert, so sind Spätfolgen und Rückfälle gemäss Art. 110 MVG auch
nach neuem Recht nicht versichert.  
 
2.2.3. Auf den 1. Juli 1994 wurde Art. 1 Abs. 1 lit. g Ziff. 6 MVG aufgehoben
(AS 1994 1390). Gleichzeitig wurde das MVG durch einen Art. 114a ergänzt,
wonach die hängigen Versicherungsfälle, welche die Teilnehmer von Anlässen der
Institution J+S betrafen, (weiterhin) nach diesem Gesetz beurteilt wurden.
Dieser Art. 114a MVG wurde in der Folge im Zuge einer formellen Bereinigung des
Bundesrechts auf den 1. August 2008 hin wieder aufgehoben (AS 2008 3437).  
 
2.3. Gemäss Art. 1 Abs. 1 SchlT ZGB werden die rechtlichen Wirkungen von
Tatsachen, die vor dem Inkrafttreten des ZGB eingetreten sind, auch nachher
gemäss den Bestimmungen des Rechtes beurteilt, die zur Zeit des Eintrittes
dieser Tatsachen gegolten haben. Davon ausgenommen sind in Anwendung von Art. 2
Abs. 1 SchlT ZGB diejenigen Bestimmungen, die um der öffentlichen Ordnung und
Sittlichkeit willen aufgestellt sind. Diese Bestimmungen finden mit deren
Inkrafttreten auf alle Tatsachen Anwendung, soweit das Gesetz eine Ausnahme
nicht vorgesehen hat.  
 
3.  
 
3.1. Es ist letztinstanzlich nicht mehr länger streitig, dass die
rechtsseitigen Kniebeschwerden des Beschwerdegegners Spätfolgen vierer Traumata
sind, welche er sich in den Jahren 1991 und 1992 bei J+S-Anlässen zugezogen
hat. Ebenfalls ist unbestritten, dass die Teilnehmer dieser vier Anlässe nach
damaligem Recht bei der Militärversicherung versichert waren. Die
Beschwerdeführerin macht jedoch geltend, seit der Aufhebung der
Leistungspflicht der Militärversicherung für J+S-Anlässe auf den 1. Juli 1994
bestehe - bei Fehlen einer ausdrücklichen Übergangsbestimmung - keine
gesetzliche Grundlage für das Erbringen von Leistungen mehr.  
 
3.2. Die Militärversicherung hat in Anwendung von Art. 6 MVG Leistungen für
Spätfolgen versicherter Gesundheitsschädigungen zu erbringen. Spätfolgen
knüpfen begrifflich an den Eintritt eines versicherten Risikos an; es handelt
sich dabei um Folgen einer Gesundheitsschädigung, welche nicht mehr während der
Hängigkeit eines Falles bei der Versicherung, sondern erst nach einem
Fallabschluss auftreten. Zu prüfen ist damit, ob im Rahmen von Art. 6 MVG die
Frage, ob eine Gesundheitsschädigung versichert ist, sich nach dem im Zeitpunkt
der Schädigung geltenden Recht beurteilt, oder nach dem Recht, welches im
Zeitpunkt des Auftretens der Spätfolgen gilt. Dem MVG kann keine direkte
Antwort auf diese Frage entnommen werden; die Übergangsbestimmungen des MVG
regeln zwar in Art. 110 einen ähnlichen Fall wie den vorliegenden, der Artikel
ist jedoch nicht direkt einschlägig. Entgegen den Ausführungen der
Beschwerdeführerin kann auch aus dem inzwischen aufgehobenen Art. 114a MVG
(vgl. auch E. 2.2.3 hievor) nichts abgeleitet werden, bezog sich doch dieser
Artikel auf vor dem 1. Juli 1994 gemeldete Versicherungsfälle, in denen im
Zeitpunkt des Inkrafttretens der Gesetzesänderung am 1. Juli 1994 noch nicht
verfügt worden war (vgl. JÜRG MAESCHI, Kommentar zum Bundesgesetz über die
Militärversicherung [MVG], Bern 2000, N. 2 zu Art. 114a MVG), nicht aber auf
die Leistungspflicht für Spätfolgen von Ereignissen vor diesem Stichtag.  
 
3.3. Wie die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf die Materialien überzeugend
darlegt, waren es finanzpolitische Erwägungen, welche zur Abschaffung der
Leistungspflicht der Militärversicherung für J+S-Anlässe führten, und nicht
etwa, dass eine Leistungspflicht nicht im Einklang mit der öffentlichen Ordnung
und der Sittlichkeit stehen würde. Gemäss den allgemein gültigen
intertemporalrechtlichen Grundsätzen - wie sie in Art. 1 und 2 SchlT ZGB
kodifiziert wurden, aber auch über das Zivilrecht hinaus Gültigkeit besitzen
(vgl. BGE 130 V 445 E. 1.2.1 S. 446 f. mit weiteren Hinweisen) - sind somit zur
Beurteilung der Rechtsfolgen eines Ereignisses grundsätzlich jene Rechtssätze
massgebend, welche zum Zeitpunkt der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes gültig waren. Bezogen auf Art. 6 MVG bedeutet dies, dass die
Frage, ob der ursprüngliche, später zu Spätfolgen führende, Gesundheitsschaden
versichert war, gemäss dem zum Zeitpunkt des Eintritts dieses
Gesundheitsschadens geltenden Recht zu beurteilen ist. War die ursprüngliche
Schädigung nach damaligem Recht versichert, so ist bei nachgewiesenen
Spätfolgen die Militärversicherung auch für jene Fälle leistungspflichtig, in
denen ein entsprechendes Ereignis nach heutigem Recht nicht mehr versichert
wäre. Hätte der Gesetzgeber eine davon abweichende Regelung gewollt, so hätte
er diese in die Übergangsbestimmungen aufnehmen müssen. Dies gilt umso mehr,
als er sich in dem hier zwar nicht direkt einschlägigen Art. 110 MVG ebenfalls
dazu bekannte, dass bei Spätfolgen die Frage des Versicherungsschutzes nach dem
im Zeitpunkt der ursprünglichen Gesundheitsschädigung geltenden Recht zu
beantworten ist.  
 
3.4. Entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin bildet somit Art. 6 MVG
eine hinreichende gesetzliche Grundlage für ihre Leistungspflicht für
Spätfolgen, welche auf in den Jahren 1991 und 1992 erlittene und damals
versicherte Gesundheitsschädigungen zurückzuführen sind, auch wenn ein
entsprechendes Ereignis heute nicht mehr versichert wäre. Demnach besteht der
vorinstanzliche Entscheid zu Recht; die Beschwerde ist abzuweisen.  
 
4.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Als unterliegende Partei hat
die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Da
sich zwei Versicherer gegenüberstehen, gilt für die Gerichtsgebühr der
ordentliche Rahmen nach Art. 65 Abs. 3 BGG, während Art. 65 Abs. 4 lit. a BGG
keine Anwendung findet (vgl. Urteil 8C_629/2013 vom 29. Januar 2014 E. 6 mit
weiterem Hinweis). Die Beschwerdeführerin hat dem Versicherten überdies eine
Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner 2 für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 19. Dezember 2017 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold 

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben