Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.400/2017
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

[displayimage]       
8C_400/2017            

 
 
 
Urteil vom 29. August 2017  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiberin Schüpfer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Lagerhausstrasse 19, 8400
Winterthur, 
Beschwerdegegner 
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Tobias Figi. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Gerichtsgutachten; Kosten), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 3. April 2017. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Mit Verfügung vom 27. Mai 2015 verneinte die Sozialversicherungsanstalt des
Kantons Zürich, IV-Stelle, bei einem ermittelten Invaliditätsgrad von 5 % einen
Anspruch der 1966 geborenen A.________ auf eine Invalidenrente der
Invalidenversicherung. 
 
B.   
A.________ erhob hiegegen Beschwerde. Das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich veranlasste eine polydisziplinäre Begutachtung der Versicherten
durch namentlich erwähnte Ärzte des Spitals B.________. Die Expertise datiert
vom 9. Januar 2017. Mit Entscheid vom 3. April 2017 wies das
Sozialversicherungsgericht die Beschwerde ab und auferlegte der IV-Stelle die
Erstattung der Gutachtenskosten im Betrage von Fr. 24'046.35. 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, Dispositiv-Ziffer 3 des vorinstanzlichen Entscheids sei aufzuheben
und es sei festzustellen, dass die Kosten des Gerichtsgutachtens nicht durch
die IV-Stelle zu tragen seien. Eventuell seien ihr die Kosten des Gutachtens
nur bis zur Höhe von Fr. 10'248.80 zu überbinden. Der Beschwerde sei
aufschiebende Wirkung zu erteilen. 
 
Das Sozialversicherungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
verzichten auf eine Vernehmlassung. A.________ lässt auf Abweisung der
Beschwerde schliessen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es
kann die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem
Recht nur insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht
und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht legt seinem
Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105
Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Aufgrund der Argumentation der Beschwerdeführerin ist streitig und zu
prüfen, ob die Anordnung eines Gerichtsgutachtens durch die Vorinstanz, die
Überbindung der dadurch erwachsenen Kosten an die IV-Stelle und -
gegebenenfalls - die Höhe der auferlegten Gutachtenskosten Bundesrecht
verletzte.  
 
2.2. Unter bestimmten Voraussetzungen können in Streitigkeiten um Leistungen
der Invalidenversicherung die Kosten der vom kantonalen Versicherungsgericht
eingeholten polydisziplinären Gerichtsgutachten der am Recht stehenden
IV-Stelle auferlegt werden (BGE 140 V 70 E. 6.1 S. 75; 139 V 496). Gestützt auf
diese Rechtsprechung hat die Vorinstanz die IV-Stelle verpflichtet, die vom
Spital B.________ in Rechnung gestellten Kosten der Expertise vom 9. Januar
2017 von insgesamt Fr. 24'046.35 zu bezahlen.  
 
3.   
Die IV-Stelle macht vorerst geltend, die Einholung der Gerichtsexpertise sei
nicht erforderlich gewesen, da die vorhandenen medizinischen Akten genügenden
Aufschluss zur Beurteilung der Rentenfrage geboten hätten. 
Die Vorinstanz erwog, die IV-Stelle habe die Versicherte einerseits durch med.
pract. C.________, Fachärztin für orthopädische Chirurgie und Traumatologie,
und andererseits durch Dr. med. D.________, Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie sowie Facharzt für Neurologie, beide Mitarbeiter des Regionalen
Ärztlichen Dienstes (RAD) der IV-Stelle, untersuchen lassen (Berichte vom 16.
Dezember 2014). Anlässlich der Untersuchung durch Dr. med. D.________ habe die
Versicherte kein Wort gesprochen und Fragen mit Kopfnicken und Kopfschütteln
beantwortet. Der Psychostatus habe daher nicht vollständig erhoben werden
können. Der Arzt habe darauf hingewiesen, dass das Beschwerdebild aufgrund
erheblicher Inkonsistenzen bezüglich der erhobenen Befunde und der
anamnestischen Angaben einzig einem depressiven Zustandsbild, nicht aber einer
ICD-10-Diagnose habe zugeordnet werden können. Damit sei die Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit nicht möglich gewesen. Unter diesen Umständen wäre es
angezeigt gewesen, die Versicherte unter Hinweis auf ihre Mitwirkungspflichten
und den sich daraus ergebenden Konsequenzen zu verpflichten, sich einer
psychiatrischen Untersuchung zu unterziehen. Da die IV-Stelle die unterlassen
habe, habe sie ihre Untersuchungspflicht verletzt. Entsprechend seien ihr die
Kosten des Gerichtsgutachtens zu überbinden. 
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerdeführerin argumentiert, die Versicherte sei zwar zur
Untersuchung beim RAD erschienen, habe an dieser indessen nicht in genügendem
Ausmass mitgewirkt, indem sie sich nur nonverbal zu den ihr gestellten Fragen
äusserte. In einer solchen Konstellation könnten die Leistungen auch ohne Mahn-
und Bedenkzeitverfahren gekürzt oder verweigert werden. Die versicherte Person
habe der IV-Stelle die Auskünfte nicht erteilt, welche diese zur Erfüllung
ihrer gesetzlichen Aufgabe benötige. Damit sei der Tatbestand von Art. 7b Abs.
2 lit. d IVG erfüllt.  
 
4.2. Art. 7b Abs. 2 IVG enthält vier abschliessend aufgezählte Tatbestände,
die, wenn erfüllt, die IV-Stelle berechtigen, die Leistungen in Abweichung von 
Art. 21 Abs. 4 ATSG unverzüglich und ohne Mahn- und Bedenkzeitverfahren zu
kürzen oder zu verweigern. Es sind dies die Verletzungen der Auskunfts-, Melde-
und Anmeldepflicht sowie die unrechtmässige Leistungserwirkung mitsamt dem
Versuch dazu. Die Rechtsprechung hat den Anwendungsbereich von Art. 7b Abs. 2
IVG auf Fälle qualifizierter Pflichtverletzung beschränkt, z.B. strafrechtlich
relevante Betrugshandlung oder wenigstens bewusste Verfälschung medizinischer
Untersuchungsergebnisse, etwa durch Vortäuschen eines beeinträchtigten
Gesundheitszustandes mit dem Ziel, Versicherungsleistungen zu erschleichen; in
allen anderen Fällen ist selbst bei unentschuldbarer Verletzung der
Mitwirkungspflicht zunächst das Mahn- und Bedenkzeitverfahren durchzuführen
(MEYER/REICHMUTH, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, 3. Aufl. 2014, S.
91 Rz. 30 zu Art. 7-7b IVG mit Hinweis auf Urteil 9C_744/2011 vom 30. November
2011).  
 
4.3. Vorliegend hat die Versicherte ihre Mitwirkungspflicht nicht in derartiger
Weise qualifiziert verletzt. Das Gegenteilige bringt selbst die
Beschwerdeführerin nicht vor. Es ist denn auch nicht einsichtig, weshalb ein
Mahn- und Bedenkzeitverfahren notwendig gewesen wäre, wenn sie sich der
Untersuchung durch den RAD durch Nichterscheinen vollständig entzogen hätte,
nicht aber, wenn sie "bloss" die verbale Kommunikation verweigert. Die
IV-Stelle legt denn auch nicht dar, weshalb letzteres Verhalten gravierender
sein soll.  
 
4.4. Die IV-Stelle erachtete eine eingehende psychiatrische Abklärung der
Versicherten für angezeigt. Deshalb ordnete sie die Untersuchung durch Dr. med.
D.________ an. Aufgrund des Verhaltens der Explorandin konnte dieser einzig auf
ein depressives Zustandsbild schliessen, aber keine konkrete Diagnosen stellen
oder die Arbeits (un) fähigkeit beurteilen. Dr. med. E.________, Fachärztin für
Psychiatrie und Psychotherapie FMH, hatte im Bericht vom 30. Mai 2014
demgegenüber eine schwere Depression (ICD-10:F32.2) sowie eine anhaltende
somatoforme Schmerzstörung (ICD-10:F45.4) diagnostiziert. Dass das kantonale
Gericht bei dieser Sachlage den Sachverhalt als ungenügend abgeklärt beurteilte
und ein polydisziplinäres Gutachten als notwendig erachtete, erweist sich weder
als offensichtlich unrichtig noch in anderer Weise als bundesrechtswidrig.
Damit durfte das kantonale Gericht die Kosten der Gerichtsexpertise in
Anwendung der Rechtsprechung gemäss BGE 140 V 70 E. 6.1 der Verwaltung
auferlegen.  
 
5.   
Weiter ist die Höhe der der Beschwerdeführerin auferlegten Gutachtenskosten
streitig. 
 
5.1. Die IV-Stelle argumentiert, wenn die Vorinstanz die Sache mit dem Auftrag
an sie zurückgewiesen hätte, ein polydisziplinäres Gutachten einzuholen, hätte
dies in Nachachtung von Art. 72bis Abs. 1 IVV bei einer Gutachterstelle
erfolgen müssen, mit der das BSV eine Tarifvereinbarung getroffen hat. Eine
solche Vereinbarung bestehe mit dem Spital B.________ nicht. Es könne nicht
angehen, dass ein kantonales Gericht Gutachterstellen beauftrage, mit denen
kein entsprechender Vertrag existiere. Die Beschwerdeführerin verweist auf
einen Mustervertrag zwischen dem BSV betreffend der Durchführung von
polydisziplinären Gutachten. Daraus ergebe sich ein zulässiger Betrag von Fr.
8'972.-- plus Laboruntersuchungen und Dolmetscherkosten. Sie habe daher
höchstens Fr. 10'248.80 zu tragen.  
 
5.2. Art. 72bis IVV beschlägt das Verwaltungsverfahren, nicht aber das
Gerichtsverfahren. Gleiches gilt für die Vorgabe, Begutachtungsaufträge an eine
MEDAS über das im Nachgang zu BGE 137 V 210 geschaffene Zuweisungssystem resp.
-portal "SuisseMED@P" zu vergeben (vgl. hiezu auch BGE 139 V 349 und 339; 140 V
507; 138 V 271). Die IV-Stelle erachtet eine solche Regelung zwar
offensichtlich auch für das Gerichtsverfahren als wünschenswert (Urteil 8C_442/
2016 vom 23. November 2016 E. 2.2.2 und 3.2). Dies lässt das vorinstanzliche
Vorgehen aber nicht als bundesrechtswidrig erscheinen. Abgesehen davon handelt
es sich beim Spital B.________ unbestrittenermassen nicht um eine MEDAS. Es ist
den kantonalen Gerichten nicht untersagt, medizinische Expertisen bei
Begutachtungsstellen einzuholen, welche nicht den Status einer MEDAS aufweisen.
Zu erwähnen bleibt, dass die IV-Stelle der Einholung eines Gerichtsgutachtens
bei dieser Institution nicht opponierte. Mit Beschluss vom 28. September 2015
eröffnete das Sozialversicherungsgericht den Parteien, es werde entweder beim
Spital B.________ oder der MEDAS Zentralschweiz ein Gerichtsgutachten
eingeholt. Diese konnten dazu und zu den den Sachverständigen zu
unterbreitenden Fragen Stellung nehmen. Die Beschwerdeführerin verzichtete
ausdrücklich auf eine solche. Die Vergabe des Gutachtensauftrages an Ärzte des
Spitals B.________ verletzt demnach kein Bundesrecht.  
 
5.3. Das kantonale Gericht hat der IV-Stelle die Gutachtenskosten in Anwendung
der Rechtsprechung gemäss BGE 139 V 496 E. 4.3 S. 501 überbunden. Dieser
Entscheid stützt sich auf BGE 137 V 210 E. 4.4.2 S. 265 f. Die dort und in BGE
137 V 210 E. 3.2 S. 244 festgehaltenen Grundsätze zu Vereinbarungen und Tarifen
beschlagen indessen das Verhältnis zwischen dem BSV und den als MEDAS
anerkannten Begutachtungsstellen (vgl. Urteile 8C_442/2016 vom 23. November
2016 und 8C_483/2016 vom 27. Oktober 2016). Wie erwähnt, ist das Spital
B.________ keine MEDAS. Es besteht zwischen ihm und dem BSV keine Vereinbarung
im Sinne von Art. 72 bis Abs. 1 IVV. Wie bereits dargelegt, ist es den
kantonalen Gerichten auch nicht untersagt, medizinische Expertisen bei
Begutachtungsstellen einzuholen, welche nicht den Status einer MEDAS aufweisen.
Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, die Rechnung an sich sei fehlerhaft oder
entspreche nicht der erbrachten Leistung. Damit erscheint auch die
vollumfängliche Auferlegung der Gutachtenskosten an die IV-Stelle nicht als
bundesrechtswidrig.  
 
6.   
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen. 
 
Das Gesuch betreffend aufschiebende Wirkung wird mit dem vorliegenden Urteil
hinfällig. 
 
7.   
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG
). Zudem hat sie der Versicherten eine Parteientschädigung auszurichten (Art.
68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 1800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat die Versicherte für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 1'500.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, A.________ und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 29. August 2017 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Schüpfer 

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben