Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.38/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_38/2017

Urteil vom 10. März 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichterinnen Heine, Viscione,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Advokat Nicolai Fullin,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Glarus, Burgstrasse 6, 8750 Glarus,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Beginn des Anspruchs),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus vom
24. November 2016.

Sachverhalt:

A. 
Der 1973 geborene A.________ meldete sich am 30. Juli 2010 (Posteingang) wegen
Hand- und Rückenproblemen zur "Beruflichen Integration" bei der
Invalidenversicherung an. Mit Verfügung vom 14. September 2011 sprach ihm die
IV-Stelle des Kantons Aargau Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche
zu. Auf die hiegegen eingereichte Beschwerde trat das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau nicht ein; zur Begründung führte es aus, hinsichtlich der
beantragten Umschulung fehle es an einem Anfechtungsobjekt (Entscheid vom 20.
März 2012).

Mit einer weiteren Verfügung vom 20. März 2012 verneinte die IV-Stelle des
Kantons Aargau einen Anspruch auf Umschulung. Die hiegegen erhobene Beschwerde
wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab, da der erforderliche
leistungsspezifische Invaliditätsgrad nicht erreicht war (Entscheid vom 28.
August 2012).

Nach einem Wohnsitzwechsel des Versicherten überwies die IV-Stelle des Kantons
Aargau die Akten am 4. November 2013 zur weiteren Bearbeitung der IV-Stelle
Glarus. Am 26. Januar 2015 machte der Versicherte erneut einen Anspruch auf
Umschulung geltend, diesmal wegen eines psychischen Leidens. Laut dem von der
Verwaltung eingeholten Bericht des Dr. med. B.________, Spezialarzt Psychiatrie
/ Psychotherapie FMH, vom 30. September 2015 litt der Versicherte an einer
komplexen Traumafolgestörung (unzulänglich verschlüsselbar unter
Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung gemäss ICD-10 F62.0), weswegen er
seit Anfang 2014, vermutlich bereits früher infolge des Unfalles von 2009, in
der Arbeitsfähigkeit zu mindestens 70 % eingeschränkt gewesen war. Nach
durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach die IV-Stelle Glarus dem
Versicherten ab 1. Juli 2015 eine ganze Invalidenrente zu (Verfügung vom 22.
Juli 2016).

B. 
A.________ liess Beschwerde führen und beantragen, ihm sei auch für die Zeit
vom 1. Juli 2010 bis zum 30. Juni 2015 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.
Mit Entscheid vom 24. November 2016 wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Glarus das eingelegte Rechtsmittel ab.

C. 
Mit Beschwerde lässt A.________ das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren
wiederholen. Ferner ersucht er um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege
für das bundesgerichtliche Verfahren.

Das Bundesgericht führt keinen Schriftenwechsel durch.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der
angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell-
und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a
BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften
Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.

2.1. Die Vorinstanz hat richtig festgehalten, dass laut Art. 29 Abs. 1 IVG (in
der seit 1. Januar 2008 geltenden Fassung) der Rentenanspruch frühestens nach
Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach Art.
29 Abs. 1 ATSG, jedoch frühestens im Monat, der auf die Vollendung des 18.
Altersjahres folgt, entsteht.

2.2. Weiter hat sie zutreffend darauf hingewiesen, dass das
sozialversicherungsrechtliche Verwaltungs- und das kantonale Gerichtsverfahren
vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht sind. Danach hat die Verwaltung - und im
Beschwerdefall das Gericht - von Amtes wegen für die richtige und vollständige
Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Dieser Grundsatz gilt
indessen nicht uneingeschränkt; er findet sein Korrelat in den
Mitwirkungspflichten der Parteien (Art. 43 und 61 lit. c ATSG; vgl. BGE 125 V
193 E. 2 S. 195 und 122 V 157 E. 1a S. 158, je mit Hinweisen).
Nach der Rechtsprechung erstrecken sich die im Anschluss an ein Leistungsgesuch
durchzuführenden Abklärungen der Verwaltung nur auf die vernünftigerweise mit
dem vorgetragenen Sachverhalt und allfälligen bisherigen oder neuen Akten in
Zusammenhang stehenden Leistungen. Wird später geltend gemacht, es bestehe noch
Anspruch auf eine andere Versicherungsleistung, so ist nach den gesamten
Umständen des Einzelfalles im Lichte von Treu und Glauben zu prüfen, ob jene
frühere ungenaue Anmeldung auch den zweiten, allenfalls später substanziierten
Anspruch umfasst (BGE 121 V 195 E. 2 S. 196 f. mit Hinweisen; AHI 1997 S. 189,
I 335/94 E. 3; Urteil I 154/03 vom 2. Dezember 2003 E. 3.3.1; vgl. auch UELI
KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, N. 32 zu Art. 29 mit Hinweis auf das
Urteil I 581/05 vom 6. Januar 2006 E. 1).

3.

3.1.

3.1.1. Das kantonale Gericht hat anhand der medizinischen und anderweitigen
Akten detailliert dargelegt, dass sich der Versicherte bei der IV-Stelle des
Kantons Aargau am 30. Juli 2010 allein für berufliche Massnahmen angemeldet
hatte. Er beantragte nie eine Invalidenrente, sondern ging stets davon aus,
dass er - nach einer Umschulung - in einer dem körperlichen Leiden
(lumboradikuläre Schmerzsymptomatik) angepassten Erwerbstätigkeit
vollumfänglich arbeitsfähig sein würde. Bei der Arbeitslosenversicherung war er
als zu 100 % vermittelbar gemeldet. Auch die vorhandenen Arztberichte gaben der
Verwaltung keinen Anlass, die Rentenfrage zu prüfen; so wurde die
psychiatrische Problematik nie thematisiert und keiner der Ärzte ging von einer
dauernden Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in einer den körperlichen Leiden
adaptierten Beschäftigung aus. Das vom Versicherten am 30. Juli 2010
eingeleitete Verfahren betreffend berufliche Massnahmen fand seinen Abschluss
im Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 28. August 2012,
in dem davon ausgegangen wurde, der Versicherte erleide aufgrund seiner
somatischen Beschwerden keine Erwerbseinbusse.

3.1.2. Aufgrund der Akten und namentlich des erwähnten Gerichtsentscheids
bestand für die IV-Stelle Glarus kein Anlass, einen allfälligen Anspruch auf
Invalidenrente zu prüfen. Davon ging offenbar auch der Versicherte aus, der von
der Verwaltung nie verlangte, sie müsse in dieser Richtung Abklärungen treffen;
im Gegenteil meldete er sich am 26. Januar 2015 erneut für eine Umschulung an.
Indizien, dass er Anspruch auf eine Invaildenrente haben könnte, ergaben sich
erst, als der Bericht des Dr. med. C.________ vom 4. Mai 2015 vorlag, in dem
erstmals ein psychisches Leiden angesprochen wurde. Gestützt darauf holte die
IV-Stelle den psychiatrischen Bericht des Dr. med. B.________ ein, der ab dem
Unfall von 2009, bzw. spätestens ab Januar 2014 eine mindestens 70%ige
Arbeitsunfähigkeit bescheinigte.

3.1.3. Zusammenfassend hielt das kantonale Gericht fest, dass die Verwaltung
aufgrund der Anmeldung vom 22. Juli 2010, den in der Folge eingeholten
ärztlichen Berichte sowie den Aussagen und dem Verhalten des Versicherten nicht
zu prüfen gehabt habe, ob ihm eine Invalidenrente zustand. Daher habe diese
Anmeldung die Wartefrist von Art. 29 Abs. 1 IVG nicht auslösen können.
Massgebend für die weiteren medizinischen Sachverhaltsabklärungen, die
schliesslich auf die rentenauslösenden psychiatrischen Probleme hinwiesen, sei
allein die neue Anmeldung vom 26. Januar 2015, weshalb nicht zu beanstanden
sei, dass die IV-Stelle Glarus erst ab 1. Juli 2015 eine ganze Invalidenrente
zugesprochen habe.

3.2.

3.2.1. Aus den Vorbringen des Beschwerdeführers wird nicht ersichtlich,
inwiefern die Vorinstanz den Sachverhalt rechtsfehlerhaft festgestellt haben
soll. Der Hinweis auf den Bericht des Dr. med. D.________, Facharzt für
Allgemeine Innere Medizin FMH, vom 5. April 2012 ist unbehelflich. Dieser Arzt
erwähnte zwar einen Verdacht auf eine depressive Entwicklung bei
Anpassungsstörung, er begründete die Arbeits (un) fähigkeit von 50 % indessen
mit dem Umstand, der Versicherte habe seit Jahren im erlernten Beruf als
Tiefbauzeichner nicht mehr gearbeitet, weswegen er den geänderten Anforderungen
an diese Tätigkeit nicht mehr ausreichend gewachsen sei. Auch dem im
vorinstanzlichen Verfahren aufgelegten Schreiben der E.________ Consulting vom
27. April 2015, wonach sie den Versicherten im Jahre 2011 bei einer
arbeitsmarktlichen Massnahme begleitet hatte, ist kein Hinweis auf eine
psychisch bedingte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zu entnehmen. Das
kantonale Gericht hat daher zu Recht in antezipierender Beweiswürdigung darauf
verzichtet, auf das auf einer CD aufgenommene berufsberaterische Gespräch vom
12. Oktober 2011 näher einzugehen, zumal das Zentrum für berufliche Integration
F.________ am 11. November 2011 zum Schluss gelangte, dass dem Versicherten
aufgrund seiner sehr vielseitigen beruflichen Laufbahn eine Wiedereingliederung
in eine den körperlichen Einschränkungen angepassten Tätigkeit möglich sei.

3.2.2. Weiter macht der Beschwerdeführer geltend, die IV-Stelle des Kantons
Aargau habe nach dem Wohnsitzwechsel die Akten am 4. November 2013 mit der
Bemerkung "zur weiteren Bearbeitung" übersandt, woraus zu schliessen sei, dass
sie das Verwaltungsverfahren nicht abgeschlossen habe und die IV-Stelle Glarus
daher die Rentenfrage vor der neuen Anmeldung vom 26. Januar 2015 hätte von
Amtes wegen prüfen müssen. Zu diesem Vorbringen wird auf die nicht zu
beanstandenden Erwägungen der Vorinstanz verwiesen, welchen das Bundesgericht
nur beifügt, dass sich der Beschwerdeführer im Zeitraum zwischen der
Überweisung der Akten und der Anmeldung vom 26. Januar 2015 wegen der Übernahme
der Kosten einer Spezialmatratze meldete, was er einzig mit der lumbalen
Symptomatik begründete (Verfügung vom 15. September 2014).

3.2.3. Das Vorbringen schliesslich, der Beschwerdeführer sei nach dem Unfall
vom 6. März 2009 längere Zeit aus somatischen Gründen vollständig und laut
Bericht des Dr. med. B.________ vom 30. September 2015 aus psychiatrischer
Sicht dauernd zu mindestens 70 % arbeitsunfähig gewesen, weshalb das Wartejahr
gemäss Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG am 5. März 2010 abgelaufen sei, trifft den
entscheidenden Punkt nicht. Nach der Rechtsprechung beginnt der Anspruch auf
Invalidenrente in jedem Fall erst sechs Monate, nachdem er angemeldet wurde
(Urteil 8C_544/2016 vom 28. November 2016 E. 4.2.2; vgl. auch das zur
Publikation in BGE 142 bestimmte Urteil 9C_56/2016 vom 24. Oktober 2016 E.
3.2). Da die Verwaltung vorliegend den Rentenanspruch erstmals aufgrund der
Anmeldung vom 26. Januar 2015 abzuklären hatte, entstand er frühestens am 1.
Juli 2015.

4. 
Dem Gesuch des unterliegenden Beschwerdeführers um Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ist
stattzugeben, da die Bedürftigkeit aktenkundig, die Beschwerde nicht als
aussichtlos zu bezeichnen und die Verbeiständung durch einen Anwalt notwendig
ist (Art. 64 Abs. 1 - 3 BGG). Er wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG
hingewiesen; danach hat er der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er
später dazu in der Lage sein wird.

 

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Advokat
Nicolai Fullin wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. März 2017

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Grunder

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