Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.365/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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8C_365/2017            

 
 
 
Urteil vom 11. Oktober 2017  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiber Grunder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Pierre Heusser, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 27. März 2017 (IV.2015.00754). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1971 geborene A.________ meldete sich am 1. Juli 2011 wegen einer
Herzkrankheit zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Die
IV-Stelle des Kantons Zürich klärte den Sachverhalt in medizinischer sowie
beruflicher Hinsicht ab und teilte dem Versicherten mit Vorbescheid vom 13.
November 2012 mit, sie werde ihm eine auf den Zeitraum vom 1. März bis 31.
Dezember 2012 befristete ganze Invalidenrente ausrichten. Gestützt auf die
Einwände des Versicherten holte die Verwaltung unter anderem das auf
allgemein-internistischen, psychiatrischen, orthopädischen, neurologischen und
kardiologischen Untersuchungen beruhende Gutachten der ABI, Aerztliches
Begutachtungsinstitut GmbH, vom 10. Februar 2014 ein. Nach erneut
durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach die IV-Stelle dem Versicherten mit
Verfügung vom 10. Juni 2015 ab 1. März 2012 bis 31. Januar 2014 eine ganze
Invalidenrente zu. 
 
B.   
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich ab (Entscheid vom 27. März 2017). 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die Sache an
das kantonale Gericht, eventualiter an die IV-Stelle, zurückzuweisen, damit es
ein neues medizinisches Gutachten einhole, das die Vorgaben von BGE 141 V 281
respektiere; eventualiter sei das Verfahren an die Vorinstanz zurückzuweisen,
damit sie ein aktualisiertes Ergänzungsgutachten der ABI einhole. Ferner wird
um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht. 
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht im
Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend gemachten
Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236; 138 I 274 E. 1.6 S. 280). 
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt
hat, indem es einen weiteren Rentenanspruch des Beschwerdeführers über den 31.
Januar 2014 hinaus verneint hat.  
 
2.2. Gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch
hin für die Zukunft erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben, wenn sich der
Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines Rentenbezügers erheblich
ändert (vgl. BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10 f. mit Hinweisen; zum massgeblichen
Vergleichszeitpunkt: BGE 133 V 108 E. 5.4 S. 114). Die Vorinstanz hat
zutreffend erkannt, dass Art. 17 Abs. 1 ATSG auch im Rahmen der rückwirkenden
Zusprechung einer befristeten und/oder abgestuften Rente gilt, also dort, wo
rückwirkend aus einem einheitlichen Beschluss der IV-Stelle heraus gleichzeitig
für verschiedene Zeitabschnitte Renten unterschiedlicher Höhe zuerkannt oder
allenfalls aufgehoben werden (MEYER/REICHMUTH, Rechtsprechung des
Bundesgerichts zum Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 3. Aufl.
2014, N. 11 zu Art. 30 - 31 IVG mit Hinweis auf BGE 131 V 162 und 125 V 413).
In solchen Fällen ist der Sachverhalt zum Zeitpunkt des Beginns der Rente mit
demjenigen anlässlich der Herauf- oder Herabsetzung beziehungsweise der
Aufhebung der Rente zu vergleichen (BGE 125 V 413 E. 2d S. 418).  
 
3.  
 
3.1. Das kantonale Gericht hat unter einlässlicher Darstellung und Würdigung
der wesentlichen medizinischen Akten erwogen, dass zur Beurteilung des
Streitgegenstandes auf das in allen Teilen beweiskräftige Gutachten der ABI vom
10. Februar 2014 abzustellen sei. Danach waren mit Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit ein Status nach orthotoper Herztransplantation am 10. Juli
2011 bei ischämer Kardiomyopathie infolge koronarer 3-Gefäss-Erkrankung (ICD-10
I25.5) sowie chronische Nacken-/Schulter-/Handbeschwerden der dominanten
rechten Seite (ICD-10 M54.2/M79.60/Z98.8) zu diagnostizieren. Im angestammten
Beruf als Hilfskoch sowie in jeglicher anderen vergleichbaren, körperlich
mittelschwer belastenden Tätigkeit war der Explorand seit dem Herzinfarkt vom
23. März 2011 vollständig arbeitsunfähig gewesen. Ab Oktober 2012 bis November
2013 konnte für körperlich leichtere Beschäftigungen, mit der Möglichkeit,
kurze Pausen einzulegen, von einem hälftigen Pensum ausgegangen werden; danach
sollte ein Ausbau auf 100 % möglich sein.  
 
3.2. Der Beschwerdeführer bringt zunächst vor, das Gutachten der ABI vom 10.
Februar 2014 sei veraltet. Die Vorinstanz hat hiezu erkannt, dass Anhaltspunkte
für eine seither eingetretene Veränderung des Gesundheitszustandes fehlten. Im
Übrigen beurteile das Sozialversicherungsgericht nach ständiger Rechtsprechung
die Gesetzmässigkeit der angefochtenen Verfügung (hier vom 10. Juni 2015) nach
dem Sachverhalt, der zur Zeit des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens gegeben
gewesen sei. Die vom Versicherten ins kantonale Verfahren eingebrachten
medizinischen Akten bezögen sich auf einen Zeitraum, der vom
Anfechtungsgegenstand nicht mehr gedeckt sei, weshalb sie nicht näher auf ihren
Erkenntniswert hin zu prüfen seien. Diesen zutreffenden Erwägungen ist nichts
anzufügen.  
 
3.3.  
 
3.3.1. Weiter macht der Beschwerdeführer geltend, medizinische Gutachten, die
vor der Publikation von BGE 141 V 281 erstattet worden seien, müssten daraufhin
geprüft werden, ob sie den neuen beweisrechtlichen Anforderungen genügten.
Gestützt auf die Expertise der ABI könnten die nunmehr massgeblichen
Indikatoren nicht schlüssig beurteilt werden. Die Vorinstanz habe diese Frage
nicht geprüft, womit sie gegen das Willkürverbot sowie den Anspruch auf
rechtliches Gehör verstossen habe. Selbst wenn ihrer Auffassung, das Gutachten
der ABI sei nach der alten Rechtsprechung beweistauglich, beizupflichten wäre,
hätte sie ihm Gelegenheit geben müssen, den medizinischen Sachverständigen
Ergänzungsfragen zu den nunmehr massgeblichen Indikatoren zu stellen. Auch aus
diesem Grunde habe die Vorinstanz den Untersuchungsgrundsatz verletzt.  
 
3.3.2. Das kantonale Gericht hat erwogen, die Praxis gemäss BGE 141 V 281 gelte
nach dessen E. 4.2 für die anhaltende somatoforme Schmerzstörung und
vergleichbare psychosomatische Beschwerdebilder. Solche Erkrankungen seien
weder von den Sachverständigen der ABI noch von den behandelnden Ärzten
psychiatrischer Fachrichtung diagnostiziert worden. Im Übrigen hätten die
Gutachter der ABI weitgehend unauffällige psychiatrische Befunde (namentlich
erhaltene Konzentration und Aufmerksamkeit, unauffällige Psychomotorik,
ausgeglichener Affekt, erhaltene Modulationsfähigkeit) festgestellt. Die
diagnostizierte leichte psychische Störung (Anpassungsstörung mit Angst und
depressiver Reaktion gemischt [ICD-10: F43.22] im Übergang zu Angst und
depressiver Störung gemischt [ICD-10: F41.2]) passe auch zu dem vom
Versicherten geschilderten Tagesablauf (erhaltene Aktivitäten, soziale
Kontakte, weitgehend erhaltene Reisefähigkeit), weshalb die Schlussfolgerung
der Sachverständigen der ABI, es könne aus psychiatrischer Sicht keine
Arbeitsunfähigkeit begründet werden, überzeuge. Auch aus diesem Grunde sei die
Rechtsprechung gemäss BGE 141 V 281 nicht anwendbar, weshalb auf die
beantragten Ergänzungsfragen an die Gutachter der ABI zu verzichten sei.  
 
3.3.3. Die vorinstanzlichen Erwägungen sind entgegen den Vorbringen des
Beschwerdeführers nicht zu beanstanden. Das kantonale Gericht hat sich
einlässlich unter Einbezug sämtlicher wesentlicher medizinischer Akten mit der
Frage auseinandergesetzt, welche psychiatrischen Befunde vorgelegen haben und
welche Konsequenzen daraus in beweisrechtlicher Hinsicht zu ziehen seien. Der
Einwand des Beschwerdeführers, die chronischen Schulter-Nacken-Handbeschwerden
seien als unklares Beschwerdebild im Sinne von BGE 141 V 281 zu deklarieren,
entbehrt jeglicher Grundlage. Auch das Vorbringen, die von den behandelnden
Ärzten erwähnte mittelgradige Depression sei als unklares Beschwerdebild zu
bezeichnen, trifft den entscheidenden Punkt nicht. Nach der vom
Beschwerdeführer erwähnten Rechtsprechung (vgl. Urteil 9C_195/2015 vom 24.
November 2015 E. 3.4.1) wird eine depressive Erkrankung nur dann als unklares
Beschwerdebild betrachtet, wenn es in Zusammenhang mit einer somatoformen
Schmerzstörung steht, welche gemäss Gutachten der ABI, wie die Vorinstanz mit
nicht zu beanstandender Begründung erwogen hat, hier im Zeitpunkt der Verfügung
der IV-Stelle vom 10. Juni 2015 nicht vorlag. Eine willkürliche Beweiswürdigung
(vgl. Art. 9 BV) oder ein Verstoss gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör
(vgl. Art. 29 Abs. 2 BV) sind nicht erkennbar. Mit dem kantonalen Gericht ist
daher anzunehmen, dass der Beschwerdeführer jedenfalls bei Erlass der Verfügung
vom 10. Juni 2015 in einer den körperlichen Einschränkungen angepassten,
körperlich leicht belastenden Erwerbstätigkeit wieder zu 50 % arbeitsfähig
gewesen war.  
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer macht in Bezug auf die Bestimmung des
Invaliditätsgrades erstmals vor Bundesgericht geltend, die Vergleichseinkommen
seien zu parallelisieren. Die Vorinstanz gehe von einem Validenlohn von Fr.
44'031.- aus und stelle diesem einen auf der Basis statistischer Werte
ermittelten Invalideneinkommen von Fr. 62'250.- (vermindert um die
Arbeitsunfähigkeit von 50 % und einem invaliditätsbedingten Abzug von 10 %)
gegenüber. Sie begründe nicht weiter, weshalb er einen derart höheren
Stundenlohn verdienen könne, als wenn er nicht invalid geworden wäre.  
 
4.2. Streitgegenstand bildet der Anspruch auf eine Invalidenrente ab dem 1.
Februar 2014. Bei der Höhe der revisionsrechtlich zu ermittelnden
hypothetischen Vergleichseinkommen handelt es sich um Teilaspekte der
Bestimmung des Invaliditätsgrades (Art. 16 ATSG). Somit stellt die Frage der
Parallelisierung (vgl. dazu BGE 141 I 1; 140 V 41; 139 V 592; 135 V 297; 134 V
322) ein neues rechtliches Argument im Rahmen des Streitgegenstandes dar, das
jedenfalls soweit zulässig ist, als es sich auf aktenkundige Tatsachen stützt
(vgl. BGE 136 V 362 E. 4 S. 366 f. zu Art. 99 BGG; vgl. auch die in BGE 139 V
592 nicht publizierte E. 5.1 des Urteils 8C_541/2012 vom 31. Oktober 2013).  
 
4.3. Im angefochtenen Entscheid finden sich dazu keine Feststellungen und weder
die IV-Stelle noch die Vorinstanz äussern sich in dem vom Bundesgericht
angeordneten Schriftenwechsel zum Vorbringen des Beschwerdeführers, angesichts
der Akten seien die Vergleichseinkommen zu parallelisieren. Die Sache ist daher
zur Beurteilung dieser Frage an das kantonale Gericht zurückzuweisen (vgl. dazu
Urteil 8C_414/2014 vom 22. September 2015 E. 4.2.3)  
 
5.   
Der IV-Stelle werden als unterliegender Partei die Gerichtskosten auferlegt
(Art. 66 Abs. 1 Satz BGG). Sie hat den Beschwerdeführer angemessen zu
entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der angefochtene Entscheid wird aufgehoben.
Die Sache wird an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen, damit es über die Beschwerde neu entscheide. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 11. Oktober 2017 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Grunder 

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