Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.350/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_350/2017  
 
 
Urteil vom 30. November 2017  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin, 
Gerichtsschreiberin Polla. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Advokat Martin Lutz, Falknerstrasse 3, 4001 Basel, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Rentenrevision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 28. März 2017 (VBE.2016.776). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1986 geborene A.________ meldete sich im Oktober 2005, damals noch in
Ausbildung als Bodenleger, im Nachgang zu einem epileptischen Anfall zufolge
Kavernoms bei der Invalidenversicherung zum Bezug von Leistungen an. Nach
verschiedenen Abklärungen und letztlich erfolgloser Durchführung beruflicher
Massnahmen (erstmalige Berufsausbildung) sprach ihm die IV-Stelle des Kantons
Aargau schliesslich mit Verfügung vom 11. März 2011 ab Oktober 2009 eine halbe
Invalidenrente (Invaliditätsgrad 54 %) zu. 
Im März 2015 beantragte A.________ eine Erhöhung seiner Rente, nachdem die
IV-Stelle auf ein erstes Gesuch mangels Glaubhaftmachung einer wesentlichen
Veränderung nicht eingetreten war (Verfügung vom 24. Mai 2012). Die Verwaltung
veranlasste daraufhin ein polydisziplinäres Gutachten (Allgemeine Innere
Medizin, Neurologie, Psychiatrie, Neuropsychologie) durch das
Begutachtungszentrum (BEGAZ) vom 4. Januar 2016. Am 3. November 2016 verfügte
sie die Abweisung des Gesuchs um Rentenerhöhung (Invaliditätsgrad weiterhin 54
%) wie vorbeschieden. 
 
B.   
In Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde sprach das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau A.________ mit Entscheid vom 28. März 2017 mit Wirkung ab
März 2015 eine ganze Rente zu. 
 
C.   
Die IV-Stelle beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten, es sei ihre Verfügung vom 3. November 2016 in Aufhebung des
kantonalen Gerichtsentscheides zu bestätigen. 
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
D.   
Mit Verfügung vom 31. August 2017 gewährte der Instruktionsrichter der
Beschwerde antragsgemäss die aufschiebende Wirkung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kann es
auf Rüge hin oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG
). 
 
2.   
Streitig ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat, indem es -
entgegen der Verfügung vom 3. November 2016 - einen Revisionsgrund anerkannte
und dem Beschwerdegegner eine ganze Rente zusprach. 
 
3.   
Die für die Beurteilung massgeblichen Rechtsgrundlagen finden sich im
vorinstanzlichen Entscheid zutreffend dargestellt. Dies gilt namentlich für die
gesetzliche Grundlage der Revision eines Rentenanspruchs (Art. 17 ATSG) sowie
die dazu ergangene Rechtsprechung zu den Revisionsgründen (BGE 134 V 131 E. 3
S. 132) und zur Frage der in zeitlicher Hinsicht zu vergleichenden Sachverhalte
(BGE 133 V 108 E. 5 S. 110 ff.). Gleich verhält es sich mit den von der
Rechtsprechung umschriebenen Voraussetzungen hinsichtlich des Beweiswerts eines
medizinischen Gutachtens oder Arztberichtes (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232), die
in diesem Zusammenhang bestehenden Richtlinien für die Beweiswürdigung,
namentlich von Administrativgutachten (BGE 125 V 351 E. 3b S. 352), und die
Anforderungen an ein zwecks Rentenrevision eingeholten Gutachtens (SVR 2012 IV
Nr. 18 S. 81, 9C_418/2010). Darauf wird verwiesen. 
 
4.  
 
4.1. Das kantonale Gericht hat erkannt, gemäss dem beweiskräftigen
BEGAZ-Gutachten sei es innerhalb des massgeblichen Vergleichszeitraumes, mithin
seit der ursprünglichen Rentenzusprache mit Verfügung vom 11. März 2011 zu
einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes gekommen. Diese
Einschätzung mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit werde durch den Regionalen
Ärztlichen Dienst (RAD) der IV-Stelle bestätigt (Stellungnahme vom 26. Januar
2016). Demgemäss sei die Verschlechterung ab Anfang 2014 eingetreten und
medizinisch gut dokumentiert durch die in der MRT nachgewiesenen neu gebildeten
Kavernome.  
Was die Umschreibung des Krankheitsbildes im Einzelnen anbelangt, hält das
BEGAZ-Gutachten mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit folgende Diagnosen
fest: spezifische (isolierte) Phobien (ICD-10 F40.2) mit beginnendem
Vermeidungsverhalten (Angst vor Erbrechen in der Öffentlichkeit; Angst vor
Inkontinenzen; Osmophobie) sowie neurotische, selbstunsichere, abhängige
Persönlichkeitszüge (ICD-10 Z73.1). Ferner bescheinigt es nebst leichten
neuropsychologischen Funktionsstörungen insbesondere einen Status nach
intrakranieller Blutung links parietal bei Kavernom (operativ revidiert am 12.
Mai 2003) mit fokal, sekundär generalisierter Epilepsie, residuell leichten
kognitiven Defiziten sowie "Cluster Headache in Zusammenhang möglich". 
 
4.2. Die Umschreibung des Gesundheitszustandes und die dazu erhobene
Veränderung im Rahmen des revisionsrechtlichen Vergleichszeitraumes betreffen
den Sachverhalt. Dementsprechend sind die dazu ergangenen vorinstanzlichen
Feststellungen für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich (vgl. E. 1
hiervor). Die Beschwerde enthält nichts, was deren offensichtliche
Unrichtigkeit zu belegen vermöchte, umso weniger, als auch sie dem Gutachten in
grundsätzlicher Hinsicht Beweiswert beizumessen scheint. Das gilt namentlich
sowohl für die erhobene Veränderung in Gestalt neuer Kavernome als auch
hinsichtlich der gestellten Diagnosen, einschliesslich derjenigen eines
Cluster-Kopfschmerzes. Letztere findet sich nicht nur im hier interessierenden
BEGAZ-Gutachten, sondern ab der erstmaligen Manifestation dieses
Krankheitsbildes im Herbst 2008 in mehreren früheren Arztberichten,
einschliesslich des neurologischen Gutachtens von    Dr. med. B.________,
Facharzt für Neurologie FMH, vom 12. Juni 2010. Soweit die Beschwerdeführerin
in diesem Zusammenhang auf die im BEGAZ-Gutachten erwähnte Auffälligkeit
verweist, dass trotz zahlreicher ambulanter und stationärer Abklärungen nie ein
"ad hoc" beobachteter Kopfschmerzanfall mit entsprechenden Begleitsymptomen
erwähnt worden sei, wird allein damit keine offensichtlich unrichtige
Sachverhaltsfeststellung bezogen auf die diagnostische Zuordnung dargetan.  
 
 
4.3. Hinsichtlich Beurteilung der Arbeits (un) fähigkeit liess sich das
kantonale Gericht ebenfalls von der Einschätzung der Gutachter leiten. Diese
waren abschliessend zur Annahme einer Einschränkung im Umfang von 50 % gelangt,
wobei die Restarbeitsfähigkeit angesichts der besonderen Anforderungen an die
Arbeitsplatzgestaltung in einem geschützten Rahmen erbracht werden sollte.
Einschränkungen bestanden insbesondere aus neurologischer Sicht, und zwar
zunächst solche qualitativer Art zufolge der Epilepsie (keine Bedienung von
Maschinen mit möglicher Selbst- und Fremdgefährdung; kein Führen von
Motorfahrzeugen; keine Tätigkeit mit Sturzgefahr, mit unregelmässigen
Schlaf-Wachzeiten oder mit Aufsicht über Schutzbefohlene). Zeitliche
Einschränkungen bestünden sodann aufgrund der Kopfschmerzproblematik und des
chronischen sowie zumindest teilweise therapierefraktären
Cluster-Kopfschmerzes. Diese seien bei Unklarheit über die effektive Frequenz
und Dauer der Attacken schwierig zu quantifizieren. Tägliche Anfälle führten zu
entsprechenden Ausfällen. Übereinstimmend mit dem Vorgutachter seien diese mit
einer Arbeitsunfähigkeit von 30 % zu bemessen. Erschwerend komme dazu, dass
diese Attacken zeitlich unberechenbar aufträten und von variabler Dauer seien.
Die dafür erforderliche Flexibilität bestehe nur an einem Nischenarbeitsplatz
bzw. in einem geschützten Rahmen, woraus eine Leistungseinschränkung von 20 %
und damit eine Arbeits-/Leistungsunfähigkeit von 50 % resultiere. Gestützt auf
diese Angaben und angesichts des Umstandes, dass der Versicherte aufgrund
seiner Phobien, seiner neurotischen Persönlichkeitszüge und wegen seiner
neuropsychologischen Defizite in der Leistungsfähigkeit eingeschränkt sei,
folgerte das kantonale Gericht, es lasse sich auf dem Arbeitsmarkt
realistischerweise keinen Arbeitgeber finden, der einen Arbeitnehmer mit
derartigen Einschränkungen anstellen würde.  
 
5.  
 
5.1. Die Beschwerdeführerin wirft dem kantonale Gericht in diesem Zusammenhang
vor, zu Unrecht von einer Indikatorenprüfung nach BGE 141 V 281 abgesehen zu
haben. Unabhängig davon, ob es sich beim Cluster-Kopfschmerz um eine
nachweislich organische Pathologie oder um ein unklares Beschwerdebild handle,
bedürfe es im Hinblick auf die Folgenabschätzung eines konsistenten Nachweises
mittels sorgfältiger Plausibilitätsprüfung, wie das Bundesgericht in
Zusammenhang mit dem Krankheitsbild der posttraumatischen Belastungsstörung
(PTBS) sowie der Migräne erkannt habe (vgl. BGE 142 V 342; 140 V 290).  
 
5.2. Entscheidende Bedeutung für die geänderte Einschätzung der
Arbeitsunfähigkeit bzw. der darin gründenden Erwerbsunfähigkeit im Rahmen des
streitbetroffenen Revisionsverfahrens kommt im vorliegenden Fall zweifellos dem
Cluster-Kopfschmerz zu.  
Diese Krankheit - bekannt auch unter den Bezeichnungen Graupelkopfweh (céphalée
en grappes), Erythroprosopalgie oder Bing-Horton-Neuralgie - wird klinisch
definiert als ein attackenartig auftretender, streng einseitiger, "extremster"
Kopfschmerz mit stärkster Ausprägung hinter der Augenhöhle ("retro-orbitaler
punctum maximum"). Sie ist bei Männern weit häufiger als bei Frauen und im
Übrigen viel seltener verbreitet als die Migräne. Die für sie typischen
Attacken treten bis zu achtmal täglich auf, klassischerweise mit einer
nächtlichen Häufung, und dauern zwischen 15 und 180 (im Mittel 30 bis 45)
Minuten. Sie erfolgen oft zur gleichen Stunde im Tagesverlauf, gehäuft ein bis
zwei Stunden nach dem Einschlafen. Bei der überwiegend vorkommenden
episodischen Form werden die symptomatischen Episoden, die wenige Wochen bis
Monate dauern können, von symptomfreien Zeitspannen von Monaten bis Jahren
unterbrochen. Im Anfall finden sich auf der schmerzbetroffenen Seite eine
Rötung des Auges, Tränenfluss sowie eine fliessende oder verstopfte Nase und
oft eine Gesichtsrötung; typischerweise berichten die Patienten von einer
Bewegungsunruhe während der Anfälle. Die Ursache der Krankheit ist nicht
geklärt. Vermutet wird, dass sie in einer Störung des Hypothalamus liegt. Die
Diagnose ergeht aufgrund einer ausführlichen Anamnese und einer
klinisch-neurologischen Untersuchung; elektrophysiologische, laborchemische und
Liquoruntersuchungen helfen diagnostisch in der Regel nicht weiter. Bei der
Erstdiagnose werden jedoch bildgebende Abklärungen (Schädelbasis;
kraniozervikaler Übergang) empfohlen (vgl. Diener/Putzki/Berlit und andere,
Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, 3. Aufl. 2005, S. 485
ff.; Grehl/Reinhardt, Checkliste Neurologie, 5. Aufl. 2013, S. 298; Mumenthaler
/Mattle, Neurologie, 11. Aufl. 2002, S. 827). 
 
5.3. Nach dem Gesagten handelt es sich beim Cluster-Kopfschmerz gemäss
aktuellem Erkenntnisstand um ein organisch bedingtes Leiden. Laut geltender
Rechtsprechung fällt es daher nicht in den Anwendungsbereich des strukturierten
Beweisverfahrens nach BGE 141 V 281, das mit Blick auf die spezifischen
Beweisprobleme (vgl. E. 4.1.3 S. 298) namentlich für somatoforme
Schmerzstörungen und vergleichbare psychosomatische Leiden konzipiert (vgl.
dessen E. 4.2 S. 298), in der Folge aber auf die PTBS ausgedehnt wurde (BGE 142
V 342   E. 5.2; vgl. dazu Andreas Traub, BGE 141 V 281 - Auswirkungen des
Urteils auf weitere Fragestellungen, Sozialversicherungsrechtstagung 2016, S.
148 Fn. 116). Das IV-Rundschreiben Nr. 339 vom 9. September 2015 scheint
darüber hinaus auf eine weitere Ausdehnung nicht nur auf psychische, sondern
auf sämtliche Leiden abzuzielen (vgl. Ralf Kocher, Ressourcenorientierte
Abklärungen - Bundesgerichts-urteil als Chance für die IV, CHSS 2015 S. 280;
kritisch: Jörg Jeger, Auswirkungen auf die medizinische Begutachtung,
Personen-Schaden-Forum 2016, S. 106 ff.). Das Schrifttum hat sich in dieser
Hinsicht zurückhaltender geäussert (Michael E. Meier, Ein Jahr neue
Schmerzrechtsprechung, Jusletter vom 11. Juli 2016, Rz. 15). Eine Ausdehnung
wird mitunter in erster Linie für psychische Leiden postuliert (vgl. etwa
Hans-Jakob Mosimann, Der Beitrag der Leitlinien für die Rechtsprechung, SZS
2016 S. 514), dies unter Einschluss von Suchterkran-kungen (Liebrenz/Uttinger/
Ebner, Sind Abhängigkeitserkrankungen aus höchstrichterlicher Sicht [weiterhin]
nicht mit anderen psychischen Störungen [z.B. somatoforme Störungen]
vergleichbar? [...], SZS 2016 S. 96 ff.; vgl. bereits Liebrenz und andere, SZS
2016 S. 12 ff.). Andere halten sie ganz allgemein bei solchen Beschwerdebildern
für sinnvoll, die sich am betroffenen Menschen nicht objektivieren lassen und
bei denen es darum geht, die Beweislücken zwischen strukturellem Befund und
funktioneller Folge zu schliessen (Traub, a.a.O., S. 148 f.; vgl. bereits
Gabriela Riemer-Kafka, Zur Überwindung der Überwindbarkeitsvermutung, SZS 2015
S. 378; ferner Jeger, a.a.O., S. 106 sowie Gächter/Meier, Schmerzrechtsprechung
2.0, Jusletter vom    29. Juni 2015, Rz. 78). Das Bundesgericht hat nun mit zur
Publikation vorgesehenem Urteil 8C_130/2017 vom 30. November 2017 erkannt, dass
grundsätzlich sämtliche psychischen Erkrankungen einem strukturierten
Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen sind.  
 
5.4. Wie gezeigt, handelt es sich beim Cluster-Kopfschmerz nicht nur um ein
organisches, sondern grundsätzlich auch um ein objektivierbares Leiden, wobei
sein Nachweis in erster Linie empirisch-klinisch sowie anamnestisch und nicht
etwa bildgebend und/oder apparativ zu erbringen ist. Dies spricht nach dem
soeben Erwogenen gegen die Notwendigkeit der Durchführung eines strukturierten
Beweisverfahrens nach Massgabe der einschlägigen Indikatoren. Das ändert
freilich nichts daran, dass auch bei diesem Leiden ein Rentenanspruch nur
anerkannt werden kann, wenn nebst dem Vorliegen des Gesundheitsschadens auch
seine Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit im Rahmen einer
nachvollziehbaren fachärztlichen Beurteilung schlüssig aufgezeigt werden. Das
bedeutet, dass schon die Herleitung und Begründung der Diagnose besonderes
Augenmerk bedürfen. Die Symptome und ihre Auswirkungen sind möglichst genau und
umfassend zu erheben und die entsprechenden Befunde zu dokumentieren,
insbesondere auch, was deren Häufigkeit und Ausprägung über einen längeren
Verlauf hinweg anbelangt. Dabei ist im Bedarfsfall, soweit nicht schon durch
die medizinischen Akten dokumentiert oder durch eigene Beobachtung gesichert,
auf fremdanamnestische Angaben zurückzugreifen. Soweit es schliesslich um die
eigentliche Folgenabschätzung geht, mithin darum, die Auswirkungen der Störung
auf das Leistungsvermögen und die Arbeitsfähigkeit zu erheben und zu gewichten,
bedarf es auch beim Cluster-Kopfschmerz im Rahmen der Begutachtung des
konsistenten Nachweises mittels einer sorgfältigen Plausibilitätsprüfung (vgl.
BGE 142 V 342 E. 5.2.3 S. 347 f. und 140 V 290 E. 3.3.2 S. 297).  
 
5.5.  
 
5.5.1. Das kantonale Gericht hat festgehalten, dass die Gutachter nicht bloss
über subjektive Beschwerdeangaben berichtet, sondern damit korrelierende,
fachärztlich schlüssig festgestellte Befunde genannt hätten, welche die
Beschwerde des Versicherten hinreichend erklärten. Dem Gutachten sei zu
entnehmen, dass eine organische Beschwerdegrundlage zweifelsfrei bestehe, wobei
ein ätiologischer Zusammenhang des Cluster-Kopfschmerzes mit der Kavernomatose
bzw. dem Status nach intrazerebraler Blutung gut denkbar sei. Anhaltspunkte für
eine Aggravation hätten sich nicht gefunden, und das Verhalten in der
Exploration sei durchwegs adäquat gewesen.  
 
5.5.2. Soweit damit auf den Nachweis des Leidens, mithin die Diagnose selbst
und auf den Ausschluss einer Aggravation abgezielt wird, kann es mit diesen
Feststellungen sein Bewenden haben. Wie schon erwähnt (vgl. E. 4.2), kann in
dieser Hinsicht nicht von offensichtlicher Unrichtigkeit ausgegangen werden.  
 
5.5.3. Bezüglich Folgenabschätzung verhält es sich wie folgt:  
 
5.5.3.1. Das kantonale Gericht verweist in diesem Zusammenhang auf die bereits
im BEGAZ-Gutachten erwähnten Inkonsistenzen. Solche bestünden bezüglich der
Therapieresistenz und der Attackenfrequenz. Möglicherweise bestehe zusätzlich
eine funktionelle Überlagerung oder es handle sich nicht bei jedem
wahrgenommenen Kopfwehzustand um eine Cluster-Kopfschmerzattacke. Es könne
davon ausgegangen werden, dass es täglich zu solchen komme, daneben aber
andere, möglicherweise migränieforme Schmerzzustände aufträten. Im Gutachten
selbst wird dazu im Einzelnen ausgeführt, es werde ein chronisch
therapieresistenter Verlauf geltend gemacht, mit täglich drei- bis viermal
auftretetenden Anfällen von unterschiedlicher Dauer. Die Datenlage bezüglich
Therapieresistenz sei heterogen, gleiches gelte für die Angaben zur
postulierten Zustandsverschlechterung. Der Versicherte habe berichtet, schon
früher zeitweise drei bis vier Attacken pro Tag ausgesetzt gewesen zu sein;
zeitweise seien es dann zwei bis drei, in letzter Zeit wiederum drei bis vier
Attacken täglich. Man müsse davon ausgehen, dass die zahlreich durchgeführten
Behandlungen ansatzweise und kurzfristig zu Linderungen geführt, jedoch keine
nachhaltige Besserung ermöglicht hätten. Auffällig sei sodann angesichts der
sehr hohen Attackenfrequenz der Umstand, dass in den zahlreichen Berichten über
ambulante und stationäre Behandlungen nie ein "ad hoc" beobachteter Anfall mit
den entsprechenden Begleitsymptomen (Augenrötung, Tränenfluss) erwähnt werde.
Damit bestünden allenfalls Zweifel an der genannten hohen Attackenfrequenz.
Dass es sich möglicherweise nicht bei jedem wahrgenommenen Kopfwehzustand um
eine Cluster-Kopfschmerzattacke handle, passe auch zur subjektiven
Quantifizierung der Schmerzintensität auf der VAS (visuelle Analogskala) : Der
Versicherte berichte über mindestens einmal tägliche Schmerzspitzen von VAS 9 1
/2 - vereinbar mit einem intensiven Cluster-Kopfschmerz -, daneben über
moderatere Schmerzzustände im Bereich von VAS 6.  
 
5.5.3.2. Vor diesem Hintergrund hält die vorinstanzliche Folgenabschätzung vor
Bundesrecht nicht stand. Die bereits im BEGAZ-Gutachten festgehaltenen
Inkonsistenzen insbesondere hinsichtlich der Attackenfrequenz durften bei der
Beurteilung der Arbeits (un) fähigkeit nicht einfach ausgeklammert werden.
Daran vermag auch der Hinweis des kantonalen Gerichts auf die nebst dem
Cluster-Kopfschmerz weiter bestehenden somatischen und psychischen Leiden
nichts zu ändern. Denn für seine Annahme, der Beschwerdeführer sei keinem
Arbeitgeber mehr zumutbar und deshalb vollständig erwerbsunfähig, war ganz
überwiegend der Umstand entscheidend, dass die täglichen
Cluster-Kopfschmerzattacken zeitlich unberechenbar aufträten und von
unbestimmter Dauer seien. In dieser Hinsicht beruhen die Angaben im Gutachten
zu Häufigkeit, Zunahme und Dauer der Anfälle indessen ausschliesslich auf den
subjektiven Angaben des Beschwerdegegners. Dabei wird zwar die Dauer der
Anfälle mit einer Spannbreite von 20 Minuten bis 5 Stunden angegeben; vermerkt
wird ferner, die erste Attacke ereigne sich meistens schon nachts in den frühen
Morgenstunden, jedoch nicht immer zur gleichen Zeit. Weitere Konkretisierung,
sei es hinsichtlich der Zeiten des Auftretens und zur Dauer der Anfälle, sei es
insbesondere zu allfälligen diesbezüglichen Regelhaftigkeiten, lassen sich dem
Gutachten nicht entnehmen. Dies erstaunt insofern, als diese Attacken
wesensgemäss häufig zur selben Tageszeit auftreten (vgl. E. 5.2 hiervor), was
auch im Fall des Beschwerdegegners insbesondere noch im Gutachten des Dr. med.
B.________ so vermerkt worden war. Solchen Angaben kommt gerade für die
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit wesentliche Bedeutung zu. Dies gilt umso mehr,
als der Beschwerdegegner gemäss eigener Darstellung täglich von Dienstag bis
Samstag im Geschäft seines Bruders aushelfe, wo er die Einsatzzeit nach
Befinden selber einteilen könne, jedoch immerhin täglich rund fünf Stunden
Präsenzzeit leiste. Davon abgesehen durfte auch die Frage nicht übergangen
werden, wie es sich mit der Therapieresistenz namentlich betreffend
Akutbehandlung und den hinsichtlich Behandlung ausgemachten Inkonsistenzen
verhält; dies, nachdem der Beschwerdegegner über sehr ungewöhnliche
Behandlungsversuche berichtet hatte und es in der Vergangenheit unter dem
Einfluss therapeutischer Bemühungen zeitweise zu einem Rückgang der Attacken
gekommen war. Dazu gehört auch die im BEGAZ-Gutachten angesprochene allfällige
Mitbeteiligung eines funktionellen Kopfschmerzgeschehens oder die erwogene
Möglichkeit einer Misch-Cephalea, woraus gegebenenfalls zu folgern wäre, dass
nur ein Teil der Attacken in einem eigentlichen Cluster-Kopfschmerz gründen
könnte.  
 
5.5.4. Bei der gegebenen Sachlage durfte das kantonale Gericht nicht ohne
Weiteres von einer vollständigen Unverwertbarkeit der verbleibenden
Arbeitsfähigkeit ausgehen. Auf der anderen Seite kann - entgegen der
Beschwerdeführerin - auch nicht schon von Beweislosigkeit hinsichtlich
Verschlechterung des Gesundheitszustandes ausgegangen werden, nachdem eine
Zunahme der Kavernome objektivierbar festgestellt wurde und der
Beschwerdegegner, bei fehlenden Anhaltspunkten für eine Aggravation und
adäquatem Verhalten in der Exploration, eine Zunahme der
Cluster-Kopfschmerzattacken angegeben hatte. Auch wenn das Ausmass,
insbesondere die Frequenz und die Ausprägung der Attacken nach derzeitiger
Aktenlage nicht erstellt sein mag, kann nicht gesagt werden, es seien bereits
alle Möglichkeiten fachgerechter Exploration ausgeschöpft worden (vgl. BGE 140
V 290 E. 4.1 S. 296). Diese Annahme hielte schon aufgrund des Hinweises im
BEGAZ-Gutachten nicht stand, dass zur Klärung der Kopfschmerzproblematik eine
darauf fokussierte stationäre Abklärung erforderlich wäre. Eine solche
Abklärung macht umso mehr Sinn, als während der hier erörterten Begutachtung
Behandlungsversuche im Kopfwehzentrum der neurologischen Klinik des
Universitätsspitals C.________ im Gange waren; zudem standen nicht nur deren
Ergebnisse aus, sondern auch solche weiterer bildgebender Abklärungen, denen
insbesondere in Zusammenhang mit der Epilepsie Bedeutung zukommen könnte.  
 
5.5.5. Die betreffenden Abklärungen sind nachzuholen. Gestützt auf deren
Ergebnisse hat unter Berücksichtigung des übrigen Gesundheitszustandes eine
erneute Folgenabschätzung zu geschehen. Dafür ist die Sache an die
Beschwerdeführerin zurückzuweisen. In diesem Sinne ist die Beschwerde teilweise
gutzuheissen.  
 
6.   
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung oder an die Vorinstanz zu erneuter
Abklärung (mit noch offenem Ausgang) gilt für die Frage der Auferlegung der
Gerichtskosten als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 Satz 1
BGG, unabhängig davon, ob sie beantragt oder ob das entsprechende Begehren im
Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235;
Urteil 9C_405/2015 vom 18. Januar 2016 E. 6.1 mit Hinweisen, nicht publ. in:
BGE 142 V 58, aber in: SVR 2016 IV Nr. 9 S. 26). Damit wird der
Beschwerdegegner im vorliegenden Verfahren kostenpflichtig. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 28. März 2017 und die Verfügung
der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 3. November 2016 werden aufgehoben. Die
Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen, damit sie über
die Rentenrevision neu verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 30. November 2017 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Polla 

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