Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.33/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
8C_33/2017  
 
 
Urteil vom 28. Mai 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Wirthlin, 
Gerichtsschreiberin Schüpfer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Rainer Braun, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Rente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St.
Gallen 
vom 9. Dezember 2016 (IV 2014/284). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________, geboren 1976, meldete sich am 25. September 2012 erneut bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen klärte den medizinischen Sachverhalt unter anderem durch eine
Begutachtung beim Zentrum für Medizinische Begutachtung (ZMB), Basel, ab. In
der Expertise vom 21. Januar 2014 werden die Diagnosen eines chronischen
lumboradikulären Schmerzsyndroms S1 links mit sensiblem Ausfall im Dermatom S1
links, einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige
Episode mit spezifischen Trennungsängsten und spezifischer Angststörung
unklarer Ätiologie sowie einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und
psychischen Faktoren bei einer Persönlichkeit mit akzentuierten
(ängstlich-dependenten) Zügen gestellt. In einer adaptierten Tätigkeit sei die
Versicherte zu 50 % arbeitsfähig. Die IV-Stelle verneinte mit Verfügung vom 1.
Mai 2014 einen Leistungsanspruch, da eine rezidivierende depressive Störung
keinen invalidisierenden Charakter habe, diese mit dem Schmerzleiden in einem
engen Zusammenhang stehe und es der Versicherten daher objektiv betrachtet
zumutbar sei, eine leidensangepasste Erwerbstätigkeit ohne wesentliche
Einschränkungen auszuüben. 
 
B.   
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die dagegen erhobene
Beschwerde gut, hob die angefochtene Verfügung auf und sprach A.________ mit
Wirkung ab 1. August 2013 eine ganze, sowie ab 1. März 2014 eine halbe
Invalidenrente zu. Es wies die Sache zur Berechnung der Rentenhöhe an die
IV-Stelle zurück. 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Verfügung vom
1. Mai 2014 zu bestätigen. Zudem ersucht sie um Gewährung der aufschiebenden
Wirkung ihrer Beschwerde. 
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
D.   
Mit Verfügung vom 7. März 2017 erteilte das Bundesgericht der Beschwerde die
aufschiebende Wirkung. 
 
E.   
Nach Erlass von BGE 143 V 409 und 143 V 418 gewährte das Bundesgericht den
Parteien das rechtliche Gehör zur vorgenommenen Änderung der Rechtsprechung,
welches die IV-Stelle am 29. Januar 2018 wahrnahm. A.________ äusserte sich am
5. Januar 2018. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine
Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet
das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es -
offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten
Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (
Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art.
105 Abs. 2 BGG). Rechtsfragen sind die vollständige Feststellung erheblicher
Tatsachen, die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes bzw. der
Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG und der Anforderungen an den
Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232). Bei den aufgrund
dieser Berichte getroffenen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit und bei der konkreten Beweiswürdigung geht es um
Sachverhaltsfragen (nicht publ. E. 1 des Urteils BGE 141 V 585). 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem
sie den Anspruch auf eine Invalidenrente bejaht hat. Sie hatte die
diesbezüglich massgebenden Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt, namentlich
die Bestimmungen zu den Begriffen der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG, Abs. 4
Abs. 1 IVG) und der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) sowie zum Anspruch auf
eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 und 2 IVG). Darauf wird verwiesen. 
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz hat dem polydisziplinären Gutachten des ZMB vom 21. Januar
2014 volle Beweiskraft beigemessen und darauf abgestellt. Demnach bestehe für
das diagnostizierte Schmerzsyndrom teilweise ein organisches Korrelat. Dieses
sei bezüglich der psychischen Faktoren durch die depressive Störung und die
Angststörung bedingt. Erstere sei nicht lediglich unselbständige
Begleiterscheinung der Schmerzstörung. Gemäss Expertise verfüge die Versicherte
über gewisse Ressourcen. Diese seien von den Gutachtern bei der Schätzung der
Arbeitsfähigkeit von 50 % ebenso berücksichtigt worden wie die Einschränkungen.
Es bestehe kein Anlass, aus rechtlichen Gründen davon abzuweichen. Demnach sei
die Versicherte spätestens seit ihrer Hospitalisation im Zentrum B.________ im
August 2012 vollständig arbeitsunfähig gewesen. Ab Gutachtensdatum sei ihr eine
50%ige Arbeitsfähigkeit zumutbar gewesen. Sie habe ab August 2013 Anspruch auf
eine ganze und drei Monate nach Eintritt der Verbesserung, somit ab März 2014,
auf eine halbe Rente.  
 
3.2. Die IV-Stelle bestreitet einen eigenständigen Krankheitswert der
depressiven Störung. Die invalidisierende Wirkung des Schmerzsyndroms hätte
mittels der Rechtsprechung gemäss BGE 141 V 281 beurteilt werden müssen. Bei
der Indikatorenprüfung sei der Verdeutlichungstendenz während der
rheumatologischen Untersuchung im Rahmen der Begutachtung am ZMB Beachtung zu
schenken. Die therapeutischen Möglichkeiten seien nicht ausgeschöpft und bei
den Komorbiditäten sei die depressive Störung nicht zu beachten, da eine solche
- wenn nicht in einer schweren Ausprägung - nicht invalidisierend sein könne.
Dasselbe gelte für die Angststörung, da diese mit der depressiven Störung
zusammenhänge. Da es an einem invalidisierenden Gesundheitsschaden fehle, habe
die Beschwerdegegnerin keinen Anspruch auf eine Rente.  
 
4.   
 
4.1. Nach der früheren Rechtsprechung wurde bei leichten bis mittelschweren
Störungen aus dem depressiven Formenkreis, seien sie im Auftreten rezidivierend
oder episodisch, angenommen, dass - aufgrund der nach gesicherter
psychiatrischer Erfahrung regelmässig guten Therapierbarkeit - hieraus keine
invalidenversicherungsrechtlich relevante Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
resultiere. Den leichten bis mittelschweren depressiven Erkrankungen fehle es,
solange sie therapeutisch angehbar seien, an einem hinreichenden Schweregrad
der Störung, um diese als invalidisierend anzusehen (vgl. BGE 140 V 193 E. 3.3
S. 196; Urteil 8C_753/2016 vom 15. Mai 2017). Nur in der - seltenen, gesetzlich
verlangten Konstellation mit Therapieresistenz - sei den normativen
Anforderungen des Art. 7 Abs. 2 Satz 2 ATSG für eine objektivierende
Betrachtungs- und Prüfungsweise Genüge getan (BGE 141 V 281 E. 3.7.1 bis 3.7.3
S. 295 f.).  
 
4.2. In BGE 143 V 409 und 143 V 418, je vom 30. November 2017, hat das
Bundesgericht seine Rechtsprechung geändert und festgestellt, dass die
Therapierbarkeit allein keine abschliessende evidente Aussage über das
Gesamtmass der Beeinträchtigung und deren Relevanz im
invalidenversicherungsrechtlichen Kontext zu liefern vermag. Weiter hat es
erkannt, dass sämtliche psychischen Erkrankungen, namentlich auch depressive
Störungen leicht- bis mittelgradiger Natur, grundsätzlich einem strukturierten
Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen sind, welches bislang bei
Vorliegen somatoformer Schmerzstörungen anhand eines Kataloges von Indikatoren
durchgeführt wird.  
Diese neue Rechtsprechung ist vorliegend anwendbar (vgl. statt vieler Urteil
9C_700/2015 vom 18. Juli 2016 E. 3.2). 
 
5.  
 
5.1. Vorweg stellt sich die Frage, ob der strittige Rentenanspruch gestützt auf
das ZMB-Gutachten vom 21. Januar 2014 beantwortet werden kann. Dabei ist zu
beachten, dass es vor Erlass von BGE 141 V 281 erging. Dieser Umstand macht das
ZMB-Gutachten nicht einfach unbeachtlich, sondern es kann nach der
Rechtsprechung weiterhin Grundlage der Rentenprüfung sein, sofern es eine
schlüssige Beurteilung im Lichte der nunmehr massgeblichen Indikatoren erlaubt;
je nach Abklärungstiefe und -dichte kann unter Umständen eine punktuelle
Ergänzung genügen (BGE 141 V 281 E. 8 S. 309; 137 V 210 E. 6 S. 266; vgl. auch
Urteil 8C_300/2017 vom 1. Februar 2018 E. 4.2).  
 
5.2.  
 
5.2.1. Aufgrund des Gutachtens vom 21. Januar 2014 bleiben verschiedene
Aspekte, welche zur Vornahme einer Indikatorenprüfung geklärt sein müssen, vage
oder offen. So fehlen Angaben zum Schweregrad beziehungsweise den funktionalen
Auswirkungen der psychischen Störungen, namentlich der somatoformen Störung und
der Angststörung. Auch Fragen bezüglich Intensität und Häufigkeit der im
Gutachten erwähnten psychiatrischen Therapie, zu den sozialen Kontakten und
beispielsweise auch der Organisation des Haushaltes, zum konkreten
Medikamentenkonsum beziehungsweise dessen mögliche Auswirkung auf die
Leistungsfähigkeit können anhand der Expertise nicht rechtsgenüglich
beantwortet werden. Es finden sich zwar Hinweise auf eine Überzeichnung oder
Symptomausweitung, auf Inkonsistenzen, aber auch auf vorhandene Ressourcen.
Indessen werden diese in Bezug auf die Vergangenheit verdeutlicht und es bleibt
offen, ob sie auch im Begutachtungszeitpunkt vorhanden waren. Eine Aussage zur
Bedeutung des komorbiden Geschehens fehlt gänzlich.  
 
5.2.2. Gestützt auf die vorhandene medizinische Aktenlage kann daher nicht
beurteilt werden, wie es sich hinsichtlich der Indikatoren (Schweregrad:
Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde und Symptome, Behandlungserfolg oder
-resistenz, Komorbidität, Komplex der Persönlichkeit und sozialer Kontext;
Konsistenz: Einschränkung des Aktivitätsniveaus in allen vergleichbaren
Lebensbereichen und Inanspruchnahme von therapeutischen Optionen; BGE 141 V 281
E. 4.3 S. 298 ff. und E. 4.4 S. 303 f.) verhält. Es ist deshalb notwendig, ein
neues Gutachten einzuholen, welches den Anforderungen von BGE 141 V 281
entspricht. Die Vorinstanz wird zudem bei der Prüfung des Rentenanspruchs
gestützt auf dieses von ihr einzuholende Gutachten insbesondere zu beachten
haben, dass sich am Verständnis von Art. 7 Abs. 2 ATSG wie auch am Grundsatz,
wonach von Validität der versicherten Person auszugehen ist, und diese bei
fehlendem Nachweis einer genügend starken Einschränkung die Beweislosigkeit zu
tragen hat (BGE 142 V 106 E. 4.3 S. 110), auch mit der Rechtsprechung gemäss
BGE 141 V 281; 143 V 409 und 143 V 418 nichts geändert hat.  
 
5.3. Nach dem Gesagten ist der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die
Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen (BGE 137 V 210 E. 4.4.1.4 S.
264), damit es ein Gutachten im Sinne der Erwägungen einhole und hernach erneut
über den Rentenanspruch befinde.  
 
6.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Da nach der Rechtsprechung eine Rückweisung
an die Vorinstanz unter Aufhebung des kantonalen Entscheids als Obsiegen gilt,
hat die unterliegende Versicherte die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1
BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 9. Dezember 2016 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 28. Mai 2018 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Schüpfer 

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