Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.31/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     

{T 0/2}            
8C_31/2017

Urteil vom 30. März 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Wirthlin,
Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Hardy Landolt,
Beschwerdeführer,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung
(Arbeitsunfähigkeit; Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus
vom 1. Dezember 2016.

Sachverhalt:

A. 
Der 1969 geborene A.________ war bei der B.________ AG als Arbeiter angestellt
und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) obligatorisch
unfallversichert. Am 14. Dezember 2013 erlitt er bei einem Sturz eine subtotale
Subscapularissehnen-Ruptur rechts. Am 29. Januar 2014 wurde er im Spital
C.________ an der rechten Schulter operiert. Die Suva kam für die
Heilbehandlung und das Taggeld auf. Mit Verfügung vom 16. Dezember 2015 sprach
sie dem Versicherten ab 1. Januar 2016 eine Invalidenrente bei einer
Erwerbsunfähigkeit von 38 % und eine Integritätsentschädigung bei einer
Integritätseinbusse von 40 % zu. Seine Einsprache wies sie mit Entscheid vom
29. März 2016 ab.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Glarus teilweise gut. Es änderte den Einspracheentscheid dahingehend ab, als es
dem Versicherten eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse
von 50 % zusprach. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab (Entscheid vom 1.
Dezember 2016).

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt der
Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei die Sache im Sinne der
Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Die Suva schliesst auf Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Da die Beschwerde an das Bundesgericht grundsätzlich ein reformatorisches
Rechtsmittel ist (Art. 107 Abs. 2 BGG), muss sie einen Antrag in der Sache
(vgl. Art. 42 Abs. 1 BGG) enthalten; ein blosser Antrag auf Rückweisung genügt
nicht, ausser wenn das Bundesgericht ohnehin nicht reformatorisch entscheiden
könnte (BGE 136 V 131 E. 1.2 S. 135 f. mit Hinweis; Urteil 8C_673/2016 vom 10.
Januar 2017 E. 1). Aus ihrer Begründung, die in diesem Zusammenhang zur
Interpretation beigezogen werden kann, ergibt sich, dass die Beschwerde auf
eine höhere Rente bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 50 % abzielt. Daher
und weil hier das Bundesgericht bei Bedarf an weiteren Abklärungen nicht
reformatorisch entscheiden könnte, ist darauf einzutreten.

2. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem
Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1
S. 389).
 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen
der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und
Art. 105 Abs. 3 BGG).

3. 
Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen betreffend den für die
Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers (Art. 6 UVG)
erforderlichen natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall
und dem Gesundheitsschaden (BGE 134 V 109 E. 2.1 S. 111; zum Genügen einer
indirekten Unfallkausalität vgl. RKUV 2003 Nr. U 487 S. 337, U 38/01 E. 5.2.2;
Urteil 8C_833/2009 vom 26. Januar 2010 E. 4.2.2), die Erwerbsunfähigkeit (Art.
7 Abs. 1 ATSG), die Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG), den Rentenanspruch (Art.
18 Abs. 1, Art. 19 Abs. 1 ATSG) und die Invaliditätsbemessung nach der
allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG; BGE 139 V 592 E.
2.2 f. S. 593 f.) richtig dargelegt. Gleiches gilt bezüglich der Rechtsprechung
zum Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232, 135 V 465 E.
4.4. S. 469, 125 V 351 E. 3a S. 352). Darauf wird verwiesen.

4. 
Strittig und zu prüfen ist einzig, ob das kantonale Gericht Bundesrecht
verletzt hat, indem es von der Zusprache einer höheren Invalidenrente absah.
Unbestritten ist in diesem Rahmen die vorinstanzliche Verneinung der adäquaten
Unfallkausalität der psychischen Beschwerden des Versicherten und damit einer
diesbezüglichen Leistungspflicht der Suva. Hierzu erübrigen sich mithin
Weiterungen.

5. 
Zu prüfen bleiben somit die Folgen des somatischen Gesundheitsschadens auf die
Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers. Die Vorinstanz erwog im
Wesentlichen, die Ärzte seien übereinstimmend zur Diagnose einer "frozen
shoulder" rechts und zum Verdacht auf ein CRPS I (komplexes regionales
Schmerzsyndrom) gelangt. Gemäss dem Bericht der Frau PD Dr. med. D.________,
Fachärztin für Innere Medizin FMH, vom 31. Januar 2016 und der Aktenbeurteilung
der Frau Dr. med. E.________, Fachärztin für Chirurgie FMH, Suva
Versicherungsmedizin, vom 23. Mai 2016 sei der rechte Arm des Beschwerdeführers
vollständig funktionstüchtig. Gestützt auf die Einschätzung der Frau Dr. med.
E.________ sei davon auszugehen, dass er in einer leidensangepassten leichten
Tätigkeit zu 100 % arbeitsfähig sei. Frau PD Dr. med. D.________ vertrete die
Auffassung, aufgrund einer ausgeprägten Schonhaltung mit Deformierung,
Verkrampfung und massiver Schmerzhaftigkeit der linken Schulter und des linken
Arms sei er nur zu 50 % der Arbeitszeit für leichte Arbeiten einsetzbar. Soweit
über das von Frau Dr. med. E.________ bescheinigte Beschäftigungspensum von 100
% hinaus zusätzliche Einschränkungen bestünden, könne dies beim
leidensbedingten Abzug vom statistischen Tabellenlohn berücksichtigt werden.
Somit sei die Suva zu Recht von einem zumutbaren 100%igen Pensum ausgegangen.
Das ohne Gesundheitsschaden hypothetisch erzielbare Valideneinkommen betrage
Fr. 85'695.-. Beim trotz Gesundheitsschadens erzielbaren Invalideneinkommen sei
von der Tabelle TA1 der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) des
Bundesamtes für Statistik 2012, Total, Kompetenzniveau 1 im privaten Sektor,
Männer, auszugehen, was hochgerechnet auf das Jahr 2015 Fr. 66'489.- ergebe.
Unter Veranschlagung eines 20%igen Abzugs vom LSE-Tabellenlohn resultiere ein
Invalideneinkommen von Fr. 53'191.- und verglichen mit dem Valideneinkommen ein
Invaliditätsgrad von gerundet 38 %.

6.

6.1. Der Beschwerdeführer wendet ein, seit seiner Einreise in die Schweiz habe
er ausschliesslich als Hilfsarbeiter auf dem Bau gearbeitet. Seine Behinderung
betreffe den Funktionsarm. Es sei unrealistisch, dass er angesichts der
bestehenden Einarmigkeit auf dem ausgeglichen Arbeitsmarkt über
uneingeschränkte erwerbliche Möglichkeiten bzw. eine 100%ige Arbeitsfähigkeit
verfüge. Es sei unzutreffend, wenn bei einer Einarmigkeit mit konsekutiver
Verlangsamung von einer 100%igen Arbeitsfähigkeit ausgegangen werde. Der
Effizienzeinbusse sei durch eine proportionale Kürzung des Tabellenlohns im
Umfang der bestehenden Verlangsamung Rechnung zu tragen, weil kein vernünftiger
Arbeitgeber bereit sei, einem lediglich verlangsamt tätigen Arbeitnehmer
denselben Lohn wie einem Arbeitnehmer ohne Effizienzeinbusse zu zahlen. Mit dem
leidensbedingten Abzug würden lediglich individuelle Verwertungsschwierigkeiten
der jeweiligen versicherten Person, nicht aber an sich bei allen versicherten
Personen mit gleichem Gesundheitsschaden bestehende eingeschränkte
Erwerbsmöglichkeiten abgegolten. Zudem sei bei faktischer Einarmigkeit in der
Regel von einem 25%igen Abzug auszugehen. Es sei festzustellen, dass er
Anspruch auf eine Rente bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 50 % habe.

6.2. Vorab ist festzuhalten, dass auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt gemäss
gefestigter Rechtsprechung genügend realistische Betätigungsmöglichkeiten
selbst für Personen bestehen, die funktionell als Einarmige zu betrachten sind
und überdies nur noch leichte Arbeit verrichten können. Zu denken ist etwa an
einfache Überwachungs-, Prüf- und Kontrolltätigkeiten sowie an die Bedienung
und Überwachung von (halb-) automatischen Maschinen oder Produktionseinheiten
sowie die Arbeit als Museums- oder Parkplatzwärter (Urteile 8C_622/2016 vom 21.
Dezember 2016 E. 5.2.2, 8C_477/2016 vom 23. November 2016 E. 4.3, 8C_345/2016
vom 1. September 2016 E. 5, 8C_37/2016 vom 8. Juli 2016 E. 5.1.2). In diesem
Rahmen ist für funktionell einarmige Versicherte praxisgemäss nicht von einer
generellen bzw. einheitlichen proportionalen Kürzung des LSE-Tabellenlohns
auszugehen. Vielmehr ist die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in jedem
konkreten Einzelfall aufgrund der medizinischen Vorgaben festzustellen und
gestützt hierauf die massgebende LSE-Tabelle heranzuziehen (vgl. BGE 129 V 472
E. 4.3. S. 483; Urteile 8C_622/ 2016 vom 21. Dezember 2016 E. 5.2.1 und 8C_1050
/2009 vom 28. April 2010 E. 3.5 i.f.).

7.

7.1. Frau Dr. med. E.________ legte am 23. Mai 2016 dar, es bestehe eine
adominante Einarmigkeit links. Konsekutiv seien koordinativ anspruchsvollere
Tätigkeiten mit der linken Hand, z.B. Schreibaufgaben, nicht möglich. Bezüglich
Belastbarkeit des linken Arms sei sie mit Frau PD Dr. med. D.________ einig,
dass der Beschwerdeführer für leichte, nicht anspruchsvolle Arbeiten einsetzbar
sei. Unter Berücksichtigung dieser einschränkenden Zumutbarkeit, die an das
vorliegende Handicap angepasst sei, bestehe keine zeitliche Einschränkung in
einem 100%igen Pensum. Es lasse sich zudem plausibel nachvollziehen, dass er
dabei verglichen mit einer gesunden Person in seinen Verrichtungen/Tätigkeiten
mit dem linken Arm bzw. der linken Hand verlangsamt sei. Die von Frau PD Dr.
med. D.________ angeführten Gründe für die Rechtfertigung eines 50%igen Pensums
seien bei Einhaltung des formulierten Zumutbarkeitsprofils nicht
nachvollziehbar.

7.2. Frau Dr. med. E.________ stellte mithin eine vollzeitliche
Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers in einer leidensangepassten
Erwerbstätigkeit fest. In diesem Rahmen ging sie von einer Arbeitsverlangsamung
aus, verneinte aber gleichzeitig eine zeitliche Einschränkung in einem 100%igen
Pensum. Ihre Einschätzung ist damit in sich unklar bzw. widersprüchlich (zur
Berücksichtigung einer Verlangsamung beim Grad der Arbeitsfähigkeit vgl. z.B.
Urteile 9C_412/2016 vom 16. November 2016 E. 3.1, 8C_68/2016 vom 3. März 2016
E. 3 und E. 4.3, 9C_366/2015 vom 22. September 2015 E. 4.3.1; siehe auch E. 8
hienach). Die Einschätzung der Frau Dr. med. E.________ steht zudem der
Beurteilung der Frau PD Dr. med. D.________ vom 31. Januar 2016 mit Angabe
einer 50%igen Arbeitsunfähigkeit entgegen. Soweit Frau Dr. med. E.________
argumentierte, entgegen Frau PD Dr. med. D.________ seien Therapiesitzungen
nicht ausschliesslich während der Arbeitszeit des Beschwerdeführers
durchzuführen, ist dem entgegenzuhalten, dass Letztere die 50%ige
Arbeitsunfähigkeit nicht nur mit diesem Argument begründete, sondern festhielt,
die ganze linke Schulter bzw. der ganze linke Arm seien durch eine ausgeprägte
Schonhaltung deformiert und verkrampft und verursachten massive Schmerzen.

Unter diesen Umständen kann auf die Aktenstellungnahme der Frau Dr. med.
E.________ vom 23. Mai 2016 nicht abgestellt werden (vgl. BGE 139 V 225 E. 5.2
S. 229 zum Beweiswert von Berichten versicherungsinterner Arztpersonen; SVR
2010 UV Nr. 17 S. 63 E. 7.2 [8C_239/2008] zum Beweiswert von Aktenberichten).
Aber auch die Einschätzung der Frau PD Dr. med. D.________ vom 31. Januar 2016
kann für sich allein nicht massgebend sein, zumal behandelnde Arztpersonen
mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in
Zweifelsfällen eher zugunsten ihrer Patienten aussagen, weshalb ihre Berichte
mit Vorbehalt zu würdigen sind (BGE 135 V 465 E. 4.5. S. 470).

8. 
Da das Ausmass der Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers nicht fest steht,
erübrigen sich weitere Ausführungen zur Höhe des Leidensabzugs, den die
Vorinstanz - in Anlehnung an die Suva - auf 20 % festgesetzt hat.
Nach dem Gesagten ist die Sache an die Suva zurückzuweisen, damit sie ein
medizinisches Gutachten einhole und gestützt darauf über den Rentenanspruch des
Beschwerdeführers - unter Wahrung seiner Verfahrensrechte (BGE 137 V 314;
Urteil 8C_37/2016 vom 8. Juli 2016 E. 8.2 f.) - neu verfüge.

9. 
Die unterliegende Suva trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs.
2 BGG; BGE 141 V 281 E. 11.1 S. 312).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus vom 1. Dezember 2016 und der
Einspracheentscheid der Beschwerdegegnerin vom 29. März 2016 werden aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verfügung an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 30. März 2017

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Jancar

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