Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.319/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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8C_319/2017            

 
 
 
Urteil vom 6. September 2017  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiber Hochuli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Eric Schuler, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG, Litigation Hauptbranchen, 8085 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung 
(Invalidenrente; Invalideneinkommen), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Kantonsgerichts Luzern 
vom 21. März 2017. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________, geboren 1965, arbeitete seit 1994 als Küchenhilfe mit
Vollzeitpensum und war in dieser Eigenschaft bei der Zürich
Versicherungs-Gesellschaft AG (nachfolgend: Zürich oder Beschwerdegegnerin)
obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert.
Am 15. November 2011 lenkte sie innerorts ein Motorrad, als sie von einem
rückwärts aus einem Parkplatz herausfahrenden Auto erfasst wurde. Beim Sturz
zog sie sich unter anderem eine Trümmerfraktur am oberen Sprunggelenk (OSG)
rechts sowie eine undislozierte Rippenfraktur rechts zu. Die Zürich übernahm
die Heilbehandlung und richtete ein Taggeld aus. Abschliessend veranlasste sie
eine polydisziplinäre Begutachtung. Die Academy of Swiss Insurance Medicine in
Basel (asim) erstattete das Gutachten am 31. Dezember 2015 (nachfolgend:
asim-Gutachten). Daraufhin schloss die Zürich die Heilbehandlung rückwirkend
per 30. September 2015 ab und stellte gleichzeitig die Taggeldleistungen ein;
zudem sprach sie der Versicherten eine Integritätsentschädigung aufgrund einer
Integritätseinbusse von 30 % sowie mit Wirkung ab 1. Oktober 2015 bei einem
Invaliditätsgrad von 48 % eine monatliche Übergangsrente von Fr. 2'020.- zu
(Verfügung vom 13. Mai 2016). Auf Einsprache der Versicherten hin hielt die
Zürich an der Verfügung vom 13. Mai 2016 fest (Einspracheentscheid vom 5.
September 2016). 
 
B.   
Die hiegegen erhobene Beschwerde der A.________ wies das Kantonsgericht Luzern
mit Entscheid vom 21. März 2017 ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, ihr sei unter Aufhebung des angefochtenen Gerichts- und des
Einspracheentscheides ab 1. Oktober 2015 eine Übergangsrente aufgrund eines
Invaliditätsgrades von nicht bloss 48 %, sondern von mindestens 54 %
zuzusprechen. 
Während die Zürich und die Vorinstanz auf Abweisung der Beschwerde schliessen,
verzichtet das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).  
 
1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).  
 
2.   
Fest steht, dass der Versicherten trotz ihres Gesundheitsschadens überwiegend
(mindestens zu 70 %) im Sitzen auszuübende, körperlich leichte Tätigkeiten ohne
signifikante Vibrationen oder Erschütterungen, ohne regelmässiges Tragen von
über 10 kg schweren Gewichten und ohne Zwangshaltungen (Überkopfarbeiten,
kniende oder hockende Tätigkeiten) bei einer Arbeitsfähigkeit von 60 % zumutbar
sind. Die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit beruht gemäss asim-Gutachten (S.
22) in erster Linie auf einem erhöhten Pausenbedarf. Beim Gehen ist die
Beschwerdeführerin auf zwei Gehstöcke angewiesen. Unbestritten ist sodann das
Einkommen, welches sie ohne Gesundheitsschaden an ihrer von 1994 bis zum Unfall
versehenen Stelle als Küchenhilfe mutmasslich im Zeitpunkt des Rentenbeginns
2015 verdient hätte (Valideneinkommen von Fr. 62'773.-). 
 
3.   
Strittig ist einzig, ob Verwaltung und Vorinstanz bei der Ermittlung des trotz
des Gesundheitsschadens zumutbaren Einkommens (Invalideneinkommen) im Rahmen
des unbestritten nach der Methode des Einkommensvergleichs zu bemessenden
Invaliditätsgrades zu Recht keinen Tabellenlohnabzug im Sinne von BGE 126 V 75
berücksichtigt haben. 
 
3.1. Die Frage, ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Abzug
vom Tabellenlohn vorzunehmen ist, stellt eine vom Bundesgericht frei zu
prüfende Rechtsfrage dar (BGE 137 V 71 E. 5.1 S. 72; Urteil 8C_652/2008 vom 8.
Mai 2009 E. 4, nicht publ. in: BGE 135 V 297).  
 
3.2. Wird das Invalideneinkommen - wie hier unbestrittenermassen - auf der
Grundlage von statistischen Durchschnittswerten ermittelt, ist der
entsprechende Ausgangswert (Tabellenlohn) allenfalls zu kürzen. Damit soll der
Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale wie
Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder
Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben
können. Ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Abzug kann aber
nur vorgenommen werden, wenn im Einzelfall Anhaltspunkte dafür bestehen, dass
die versicherte Person wegen eines oder mehrerer der genannten Kriterien ihre
gesundheitlich bedingte (Rest-) Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem Erfolg erwerblich verwerten kann
(BGE 135 V 297 E. 5.2 mit Hinweisen; Urteil 8C_379/2011 vom 26. August 2011 E.
4.2.2). Der Abzug darf 25 % nicht übersteigen (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301; 126
V 75 E. 5b/bb-cc S. 80; vgl. auch Urteil 8C_114/2017 vom 11. Juli 2017 E. 3.1
i.f. mit Hinweis).  
 
3.3.   
 
3.3.1. Nach BGE 126 V 75 E. 5b/bb S. 80 rechtfertigt es sich nicht, für jedes
zur Anwendung gelangende Merkmal separat quantifizierte Abzüge vorzunehmen.
Vielmehr ist der Einfluss aller Merkmale auf das Invalideneinkommen unter
Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft
zu schätzen (BGE 126 V 75 E. 5b/bb S. 80).  
 
3.3.2. Diesem Grundsatz trugen Verwaltung und Vorinstanz nicht genügend
Rechnung. Dass Art und Ausmass des konkreten Gesundheitsschadens keinen
zusätzlichen leidensbedingten Abzug neben der medizinisch ausgewiesenen 40%igen
Arbeitsunfähigkeit infolge des erhöhten Pausenbedarfs rechtfertigen würden,
begründet das kantonale Gericht nicht. Es fehlt somit an einer
bundesrechtskonformen gesamthaften Schätzung aller angemessen zu
berücksichtigenden Merkmale.  
 
3.3.2.1. Nach unbestritten zutreffender Sachverhaltsfeststellung des kantonalen
Gerichts lebt die Beschwerdeführerin seit 1986 in der Schweiz. Trotzdem spricht
die mit einem Landsmann verheiratete Portugiesin so wenig Deutsch, dass die
medizinischen Begutachtungen nur mit Hilfe eines Dolmetschers möglich waren.
Bis zum Unfall blieb sie während rund 18 Jahren ihrem angestammten Betrieb
treu, wo sie gemäss angefochtenem Entscheid aufgrund ihrer ausgewiesenen
Zuverlässigkeit und Tüchtigkeit bei der Tätigkeit als Küchenhilfe trotz
fehlender Berufsausbildung ein relativ hohes Einkommen zu erzielen vermochte.
Bei der gesamthaften Schätzung aller lohnbeeinflussenden Merkmale ist
entscheidend, dass weder Verwaltung noch Vorinstanz den gesundheitsbedingten
körperlichen Limitierungen der Leistungsfähigkeit angemessen Rechnung trugen.
Diese sind nach der - unbestritten - massgebenden medizinischen
Tatsachenfeststellung laut asim-Gutachten (vgl. E. 2 hievor) zusätzlich zu der
infolge des erhöhten Pausenbedarfs um 40 % eingeschränkten Arbeitsfähigkeit in
Betracht zu ziehen (vgl. Urteil 8C_548/2010 vom 23. Dezember 2015 E. 5.3.2).
Zudem ist die Versicherte beim Gehen auf zwei Gehstöcke angewiesen (vgl. E. 2
hievor), woraus ebenfalls eine weitergehende Beeinträchtigung der
Leistungsfähigkeit über den erhöhten Pausenbedarf hinaus resultiert (vgl.
Urteil 8C_569/2009 vom 19. März 2010 E. 2.2.3). Diese Einschränkungen des
Leistungsprofils fallen hier erheblich ins Gewicht. Denn die bisher rein
stehend und ausschliesslich körperlich arbeitende Versicherte ohne vielseitige
Arbeitserfahrung an unterschiedlichen Stellen kann aufgrund ihrer
gesundheitsbedingten Defizite ohne Berufsbildung bei unqualifizierten
Hilfstätigkeiten des untersten Anforderungs- bzw. Kompetenzniveaus auch auf dem
ausgeglichenen Arbeitsmarkt insgesamt nur mit einem unterdurchschnittlichen
erwerblichen Erfolg rechnen.  
 
3.3.2.2. Soweit die Zürich und das kantonale Gericht unter den gegebenen
Umständen einen Tabellenlohnabzug abgelehnt haben, kann daran nicht
festgehalten werden. Zumindest ein minimaler Abzug ist jedenfalls angezeigt.
Die weiteren körperlichen Limitierungen der Leistungsfähigkeit rechtfertigen
hier - zusätzlich zum erhöhten Pausenbedarf, welcher primär ursächlich die
Arbeitsfähigkeit um 40 % einschränkt - die Berücksichtigung eines angemessenen
Tabellenlohnabzuges. Dieser ist nach gesamthafter Würdigung der konkreten
Umstände des Einzelfalles im Sinne einer umfassenden Schätzung des Einflusses
aller in Betracht fallenden Merkmale (BGE 126 V 75 E. 5b/bb S. 80) mit Blick
auf die bundesgerichtliche Praxis auf 10 % festzusetzen (vgl. Urteil 8C_548/
2010 vom 23. Dezember 2015 E. 5.3.2 i.f. mit Hinweisen; vgl. auch MEYER/
REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 3. Aufl. 2014, N.
104 zu Art. 28a IVG).  
 
3.3.3. Für die Bestimmung des Invalideneinkommens ist unbestritten von der vom
Bundesamt für Statistik alle zwei Jahre erstellten Schweizerischen
Lohnstrukturerhebung (LSE) 2014 auszugehen. Die bundesrechtskonforme
Berücksichtigung des leidensbedingten Tabellenlohnabzuges von 10 % führt sodann
- abweichend von dem von der Zürich auf Fr. 32'275.80 bezifferten Invalidenlohn
- zu einem massgebenden Invalideneinkommen von Fr. 29'048.20 (= Fr. 32'275.80 x
0,9). Aus dem Vergleich mit dem Valideneinkommen (E. 2 i.f.) resultiert
folglich ein Invaliditätsgrad von (gerundet) 54 %. Die von der Zürich basierend
auf einem Invaliditätsgrad von 48 % zugesprochene und vorinstanzlich bestätigte
Übergangsrente ist dementsprechend zu erhöhen.  
 
4.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat der
anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu
bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts Luzern, 3.
Abteilung, vom 21. März 2017 und der Einspracheentscheid der Zürich
Versicherungs-Gesellschaft AG vom 5. September 2016 werden aufgehoben. Die
Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin ab 1. Oktober 2015 eine
Übergangsrente auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 54 % auszurichten. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 6. September 2017 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Hochuli 

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