Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.282/2017
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_282/2017        

Urteil vom 22. August 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
Gerichtsschreiber Hochuli.

Verfahrensbeteiligte
Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG, Litigation Hauptbranchen, 8085 Zürich
Versicherung,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dominik Frey,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 16. März 2017.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1958, arbeitet als kaufmännischer Angestellter bei der
B.________ AG und ist in dieser Eigenschaft bei der Zürich
Versicherungs-Gesellschaft AG (nachfolgend: Zürich oder Beschwerdeführerin)
obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert.
Mit Bagatellunfall-Meldung vom 27. April 2016 liess er einen Bruch der rechten
Hüfte anmelden, den er sich am 15. April 2016 beim Drehen auf dem Bürostuhl
zugezogen habe. Er sei mit dem Fuss am Boden hängen geblieben, habe den Fuss
abgedreht und dabei ein Knackgeräusch gehört. Seither leide er an starken
Schmerzen. Gemäss Bericht vom 18. Mai 2016 ermittelte Dr. med. C.________ als
Ursache der Beschwerden einen Bruch der Revitan-Hüftprothese. Die Zürich
verneinte eine unfallähnliche Körperschädigung und die Erfüllung des
Unfallbegriffs mangels eines überwiegend wahrscheinlichen ungewöhnlichen
äusseren Faktors. Daher lehnte sie eine Leistungspflicht ab (Verfügung vom 20.
September 2016), woran sie mit Einspracheentscheid vom 26. Oktober 2016
festhielt.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde des A.________ hiess das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau teilweise gut, hob den Einspracheentscheid auf und wies die
Sache zwecks Vornahme weiterer Abklärungen im Sinne der Erwägungen an die
Zürich zurück (Entscheid vom 16. März 2017).

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Zürich
die Aufhebung des angefochtenen Gerichtsentscheids und die Gewährung der
aufschiebenden Wirkung.
A.________ schliesst auf Beschwerdeabweisung. Die Vorinstanz und das Bundesamt
für Gesundheit (BAG) verzichten auf eine Vernehmlassung.

D. 
Mit Verfügung vom 29. Juni 2017 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung
zuerkannt.

Erwägungen:

1. 

1.1. Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit eines Rechtsmittels von Amtes
wegen und mit freier Kognition (BGE 138 V 318 E. 6 Ingress S. 320 mit Hinweis;
Urteil 8C_122/2014 vom 18. August 2014 E. 1, in: SVR 2015 MV Nr. 1 S. 1).

1.2. Formell handelt es sich beim vorinstanzlichen Entscheid um einen
Rückweisungsentscheid. Rückweisungsentscheide sind grundsätzlich
Zwischenentscheide, welche nur unter den Voraussetzungen von Art. 92 oder 93
BGG beim Bundesgericht anfechtbar sind, auch wenn damit über materielle
Teilaspekte der Streitsache entschieden wird (BGE 133 V 477 E. 4.2 und 4.3 S.
481 f.; 132 III 785 E. 3.2 S. 790 f.; 129 I 313 E. 3.2 S. 316).

1.3. Gemäss Art. 93 BGG ist d ie Beschwerde an das Bundesgericht nur zulässig,
wenn der Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann
(Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort
einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit
oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1
lit. b BGG).

1.4. Nach der Rechtsprechung obliegt es der Beschwerdeführerin darzutun, dass
eine dieser beiden Voraussetzungen erfüllt ist, es sei denn, deren Vorliegen
springe geradezu in die Augen (statt vieler: BGE 142 V 26 E. 1.2 S. 28 mit
Hinweisen).
Die Beschwerdeführerin setzt sich mit den Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1
BGG mit keinem Wort auseinander. Vorliegend ist ein nicht wieder gutzumachender
Nachteil jedoch evident: Könnte die Zürich den vorinstanzlichen Entscheid nicht
anfechten, wäre sie gezwungen, sich die ihres Erachtens rechtswidrige Bejahung
des Unfallbegriffs (Art. 6 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 4 ATSG) entgegen
halten zu lassen. Sollten im Rahmen der Rückweisung mit Blick auf das Ereignis
vom 15. April 2016 auch die übrigen Leistungsvoraussetzungen nach UVG zu
bejahen sein, hätte die Beschwerdeführerin gegebenenfalls eine rechtswidrige
Leistungszusprache zu erlassen, zu deren Anfechtung sie mangels formeller
Beschwer nicht befugt wäre (vgl. BGE 140 V 282 E. 4.2 S. 286; 133 V 477 E.
5.2.4 S. 484 f.). Mithin ist auf die Beschwerde einzutreten.

2.

2.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

2.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

3. 
Strittig ist die Leistungspflicht der Beschwerdeführerin nach UVG für die in
der Folge des Ereignisses vom 15. April 2016 aufgetretenen Beschwerden. Während
die Zürich einen ungewöhnlichen äusseren Faktor ausschloss und die Erfüllung
des Unfallbegriffs verneinte, gelangte das kantonale Gericht zur Auffassung,
die Ungewöhnlichkeit sei zu bejahen. Eine alltägliche Bewegung sei durch eine
Programmwidrigkeit unterbrochen worden.

3.1. Gemäss Art. 6 Abs. 1 UVG werden die Leistungen der Unfallversicherung bei
Berufsunfällen, Nichtberufsunfällen und Berufskrankheiten gewährt, soweit das
Gesetz nichts anderes bestimmt. Unfall ist gemäss Art. 4 ATSG die plötzliche,
nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren
Faktors auf den menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der
körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat.

3.1.1. Nach der Rechtsprechung bezieht sich das Begriffsmerkmal der
Ungewöhnlichkeit nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern nur auf
diesen selbst. Ohne Belang für die Prüfung der Ungewöhnlichkeit ist somit, dass
der äussere Faktor allenfalls schwerwiegende, unerwartete Folgen nach sich zog.
Der äussere Faktor ist ungewöhnlich, wenn er - nach einem objektiven Massstab
(vgl. BGE 129 V 402 E. 2.1 S. 404) - den Rahmen des im jeweiligen Lebensbereich
Alltäglichen oder Üblichen überschreitet. Ausschlaggebend ist also, dass sich
der äussere Faktor vom Normalmass an Umwelteinwirkungen auf den menschlichen
Körper abhebt. Ungewöhnliche Auswirkungen allein begründen keine
Ungewöhnlichkeit (BGE 134 V 72 E. 4.3.1 S. 79 f. mit Hinweis; erwähntes Urteil
8C_708/2011 vom 9. November 2011 in: SVR 2012 UV Nr. 11 E. 6.1). Für
Tatsachenfeststellungen bei der Beurteilung des Unfallcharakters eines
Ereignisses gilt der im Sozialversicherungsrecht übliche Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit (SVR 2015 UV Nr. 6 S. 21, 8C_231/2014 E. 2.3
mit zahlreichen Hinweisen).

3.1.2. Nach Lehre und Rechtsprechung kann das Merkmal des ungewöhnlichen
äusseren Faktors in einer unkoordinierten Bewegung bestehen. Bei
Körperbewegungen gilt dabei der Grundsatz, dass das Erfordernis der äusseren
Einwirkung lediglich dann erfüllt ist, wenn ein in der Aussenwelt begründeter
Umstand den natürlichen Ablauf einer Körperbewegung gleichsam "programmwidrig"
beeinflusst hat (BGE 130 V 117 E. 2.1 S. 118). Bei Schädigungen, die sich auf
das Körperinnere beschränken, unterliegt der Nachweis eines Unfalls indessen
insofern strengen Anforderungen, als die unmittelbare Ursache der Schädigung
unter besonders sinnfälligen Umständen gesetzt werden muss; denn ein
Unfallereignis manifestiert sich in der Regel in einer äusserlich wahrnehmbaren
Schädigung, während bei deren Fehlen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit rein
krankheitsbedingter Ursachen besteht (BGE 99 V 136 E. 1 S. 138; SVR 2014 UV Nr.
21 S. 67, 8C_835/2013 E. 5.1).

3.2. Gemäss vorinstanzlicher Sachverhaltsfeststellung, die vor Bundesgericht
nicht mehr bestritten wird, trat bei dem im Büroalltag üblichen Vorgang des
Drehens auf dem Büro-Drehstuhl die Sinnfälligkeit hinzu, dass der Versicherte
mit dem rechten Fuss am Boden oder Stuhlbein hängen blieb. Dadurch wurde sein
rechtes Bein abgedreht. Dabei trat ein Knackgeräusch auf, wonach er sofort
heftige Schmerzen in seinem rechten Hüftgelenk spürte. Die Vorinstanz hat die
Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors aufgrund der Programmwidrigkeit dieser
ungeplanten Bewegungsabfolge unter den gegebenen Umständen zu Recht bejaht.
Soweit sich die Beschwerdeführerin hiegegen auf BGE 142 V 219 beruft, vermag
sie daraus nichts zu ihren Gunsten abzuleiten. Der diesem Urteil zu Grunde
liegende Sachverhalt ist nicht mit dem hier zu beurteilenden zu vergleichen. In
jenem Fall ereignete sich nichts Ungewöhnliches, als die versicherte Person -
wegen dichten Verkehrs planmässig bei nicht vollständig geöffneter Türe - aus
ihrem parkierten Auto ausstieg (BGE 142 V 219 E. 4.3.2 S. 221).

3.3. Hat das kantonale Gericht demnach bezüglich des Ereignisses vom 15. April
2016 mit im Übrigen unbestrittener Begründung die Erfüllung des Unfallbegriffes
zu Recht bejaht, bleibt es bei der mit angefochtenem Entscheid verfügten
Rückweisung an die Zürich zur weiteren Abklärung.

4. 
Im Übrigen beruft sich die Beschwerdeführerin seit Einreichung der
vorinstanzlichen Beschwerdeantwort darauf, ein Untersuchungsbericht zum
fraglichen Hüftprothesenbruch beweise, dass die Ursache dieses Bruches
Materialermüdung gewesen sei. Ohne diesen Bericht hinsichtlich Urheberschaft
und Erstellungsdatum hinreichend konkret zu bezeichnen, begnügt sich die Zürich
mit der Rüge, die Vorinstanz habe das rechtliche Gehör verletzt, indem sie ohne
Begründung auf die Beweisabnahme verzichtet habe. Wäre der Beweis des fehlenden
natürlichen Kausalzusammenhanges (vgl. zum Genügen einer Teil-ursächlichkeit
zur Bejahung der Kausalität BGE 123 V 43 E. 2b S. 45 mit Hinweis) gemäss
Argumentation der Beschwerdeführerin allein durch Edition eines nicht näher
bezeichneten Berichtes zu erbringen gewesen, ist nicht nachvollziehbar, weshalb
sie diesen Bericht nach Massgabe von Art. 43 Abs. 1 ATSG nicht spätestens im
kantonalen Verfahren auflegte. Von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs kann
unter den gegebenen Umständen jedenfalls keine Rede sein. Nachdem die Zürich
jedoch geltend macht, der Beweis sei durch diese Urkunde zu erbringen, wird es
für sie im Rahmen der vom kantonalen Gericht veranlassten Rückweisung ohne
Weiteres - jedenfalls aber ohne weitläufiges Beweisverfahren - möglich sein,
die nötigen Ergänzungen der Aktenlage vorzunehmen, bevor sie über die strittige
Leistungspflicht neu verfügt.

5. 
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. August 2017

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Hochuli

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben